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Foto: Lionel Bonaventure/AFP
32 FOCUS 42/2019
ewigen Medaillenliste, macht Biles das
größte Kompliment: „Die nimmt Doping-
mittel.” Chorkina stand schon immer im
Ruf, eifersüchtig und verbittert zu sein.
Simone Biles ist 1,42 Meter groß, und
ihre Proportionen scheint der Schöpfer
auf die Bedürfnisse des modernen Hoch-
leistungsturnens abgestimmt zu haben.
Schlank, aber kraftvoll, explosiv und gra-
zil. Manchmal wird sie verglichen mit dem
Schwimmer Michael Phelps, weil auch
dessen Körper perfekt geformt war, um für
Amerika Medaillen zu gewinnen. Oder
mit Michael Jordan wegen dessen uner-
klärlicher Sprungkraft. Oder mit Serena
Williams wegen deren Dominanz. Doch
Biles springt viel höher als
Jordan – etwa das Doppel-
te ihrer Körpergröße – und
ist dominanter als Wil-
liams. Viele Wettkämpfe
gewinnt sie mit drei oder
fünf Punkten Vorsprung in
einem Sport, in dem die
Abstände in Tausends-
teln gemessen werden.
Ihr gelingen Übungen,
die selbst für Männer als
undenkbar galten. Wenn
Williams im Herrentennis
antreten würde und fünf
Jahre lang jedes Spiel
6 : 0, 6 : 0 gewinnen wür-
de, könnte man sie mit der
Turnerin vergleichen.
Texanische
„Todescamps“
Nun tritt Simone Biles bei
der Turn-WM in Stuttgart
an bei ihrer möglicher-
weise letzten Weltmeister-
schaft. Nach den Olympischen Spielen in
Tokio im nächsten Sommer wird Biles 23
sein – und Turnerjahre zählen fünffach.
So intensiv belasten sie den Körper. Dass
sie überhaupt so lange durchgehalten hat,
verdankt sie ihren perfekten Genen und
den schonenden Methoden ihrer Trainer
Aimee Boorman und Laurent Landi.
Die Trainingszentren in Osteuropa, Chi-
na, Nordamerika, die die meisten Medail-
lengewinner hervorbringen, haben das
Flair von Straflagern. Dort verschwim-
men die Grenzen von Training und Miss-
handlung. Eine Turnerin schickte Biles
vor einiger Zeit eine Textnachricht, dass
ihre Eltern sie zu einer aberwitzigen Diät
zwingen: um fünf Uhr aufstehen, schwim-
men, Saunagang, dann Training bei
900 Kalorien am Tag.
Auch die Methoden im World Champi-
ons Center in Texas, dem Elitezentrum der
US-Turner, galten lange Zeit als fragwür-
dig. Nachdem das rumänische Trainerpaar
Béla und Márta Károlyi 1999 die Leitung
arbeiten musste als normal talentierte
Turnerinnen. Sie trainiert selten mehr als
32 Stunden pro Woche und darf selbst
entscheiden, was sie isst.
Ein Reporter des Magazins „The New
Yorker“ durfte die Familie Biles in Hous-
ton besuchen und stellte erstaunt fest,
dass Simone Schweinefleisch und Fan-
ta zu sich nimmt. „Simones Trainerin
erlaubt ihr zu lachen“, sagt die Olym-
pionikin McKayla Maroney. „Das macht
mich extrem eifersüchtig.“ Seit Biles zu
Beginn ihrer Karriere verstört von einem
WCC-Lehrgang heimkehrte, nimmt sie
dort nicht mehr teil. Die Károlyis hatten
sie als Diva beschimpft.
Sexuelle Misshand-
lungen im Turnverband
USA Gymnastics
Die amerikanischen Tur-
nerinnen mussten in den
vergangenen Jahrzehn-
ten nicht nur psychische
und athletische Miss-
handlungen ertragen, son-
dern auch sexuelle. Larry
Nassar, der Teamarzt der
Nationalmannschaft, ver-
ging sich an mindestens
250 Mädchen. Fast alle
Turnerinnen, die zwischen
1996 und 2016 im Kreis
der Nationalmannschaft
trainierten, hatte Nassar
behandelt – und sexuell
missbraucht.
Seit Mitte der 90er-Jah-
re hatten sich Sportlerin-
nen immer wieder über
Nassar beschwert, doch
der Turnverband USA
Gymnastics, das Nationale Olympische
Komitee, das FBI und die Universitäten,
an denen Nassar praktizierte, ignorierten
die Hinweise. Der Arzt sitzt inzwischen
lebenslänglich ein, aber die Institutio-
nen, die seine Taten ermöglichten und
vertuschten, kontrollieren noch immer
den Sport. USA Gymnastics erklärte sich
im letzten Jahr als bankrott, um Scha-
densersatzforderungen zu verhindern.
Adoptiert von den Großeltern
Eines der Opfer von Nassar war Simo-
ne Biles. Sie sprach nie über die Einzel-
heiten ihres Falls und trat im Gegen-
satz zu vielen Leidensgenossinnen auch
nicht als Zeugin vor Gericht auf. Doch im
August, nachdem sie mit unglaublichen
übernahmen, gewannen die Amerikaner
so viele Medaillen wie nie zuvor. Doch die
monatlichen Lehrgänge nannten Sportle-
rinnen „Todescamps“.
Simone Biles hatte das Glück, eine Trai-
nerin zu finden, die ihr einmaliges Talent
früh erkannte. Für Aimee Boorman war
von Anfang an klar, dass Biles anders
„Nichts. Die Farben der Hallendecke, des Publikums
und des Bodens verschwimmen ineinander. Dann lande
ich. Das war’s“
Biles’ Antwort auf die Frage, was sie im Flug denkt
Großer Bruder Biles mit dem älteren Bruder Tevin. Der war in Cleveland
in eine tödliche Schießerei verwickelt und sitzt momentan in U-Haft