Focus - 12.10.2019

(Ron) #1
SIMONE BILES

FOCUS 42/2019 33


4,95 Punkten Vorsprung amerikanische
Meisterin geworden war, brach sie in Trä-
nen aus: „Ich will nicht weinen“, erklärte
sie. „Aber es ist nicht einfach, hier anzu-
treten für eine Organisation, die uns so
übel im Stich ließ. Wir hatten ein Ziel,
und wir haben alles getan, um dieses
Ziel zu erreichen, alles getan, was ihr
von uns verlangt habt. Selbst wenn wir
manchmal nicht mehr wollten. Und ihr
konntet nicht mal eure einzige Aufgabe
erledigen. Die eine Verantwortung: uns
zu beschützen. Das habt ihr nicht getan.“
Nassar zerstörte Dutzende hoffnungs-
volle Talente. Dass Biles überlebte, hat
wohl auch mit der Abhärtung durch ihre
Familiengeschichte zu
tun, die sie in der Bio-
grafie „Courage to Soar“
beschreibt.
Biles kam 1997 in Co-
lumbus/Ohio zur Welt,
und als sie zwei Jahre
alt war, übernahm das
Jugendamt das Sorge-
recht für sie und ihre
drei Geschwister. Der
Vater war verschwun-
den, und die Mutter ver-
sank in Drogensucht und
Alkoholräuschen. Biles’
Großvater Ron und des-
sen zweite Frau Nellie
nahmen die Kinder auf.
Nachdem eine Rück-
kehr zur Mutter fehl-
schlug, adoptierten die
Großeltern Simone und
ihre kleine Schwester
Adria. Die beiden Jungs
kamen bei Rons Schwes-
ter unter. Simone pflegt
keinen engen Kontakt zu ihren Brüdern.
Der Ältere von ihnen wurde im August
festgenommen und steht im Verdacht,
bei einer Schießerei während einer Party
drei Menschen getötet zu haben.


Anfangs flog Simone Biles
über das Ziel hinaus


Simone Biles hatte das Glück, dass Ron
und Nellie sich um sie kümmerten. Als
sie sechs Jahre alt war, trat Biles einem
kleinen Turnverein in Houston bei und
entdeckte sofort ihre Leidenschaft für den
Sport. Dank ihrer angeborenen Athletik
konnte sie Übungen stehen, die sich nie-
mand in ihrer Altersklasse zutraute. An
Eleganz mangelte es ihr allerdings, es
fiel ihr schwer, ihre Kraft unter Kontrolle


schen Anforderungen zu erfüllen, dass
Boorman sie aus einem Vorbereitungs-
wettbewerb für die amerikanischen
Meisterschaften nahm. Sie suchte
einen Sportpsychologen auf und machte
einen Crashkurs bei Károlyi. Wenige
Wochen später gewann sie die ameri-
kanischen Meisterschaften und hat seit-
dem keinen Wettbewerb im Mehrkampf
verloren.
Seit Simone Biles turnt, verändert sich
die Dynamik dieser Sportart so funda-
mental, wie seit den frühen siebziger
Jahren nicht mehr. Damals verdräng-
ten minderjährige Elfen wie die bei
ihrem Olympiasieg 14-jährige Nadia
Comaneci erwachsene Frauen aus den
Medaillenrängen. Das Turnen hatte

plötzlich mehr mit Akrobatik gemein
als mit Ballett; deshalb waren kleine,
bewegliche Körper gefragt. Inzwischen
hat das IOC das Mindestalter für Olym-
piateilnehmer auf 16 Jahre erhöht, doch
im vergangenen Jahrzehnt haben sich
die erfolgreichen Athle-
tinnen immer mehr zu
Sprungmaschinen ent-
wickelt, deren Körper die
Biegsamkeit eines Kindes
mit der Kraft eines Zehn-
kämpfers vereinen. Seit
der Internationale Turner-
bund FIG 2006 eine neue
Bewertungsskala einführ-
te, die Risiko und Schwie-
rigkeit mehr belohnt als
künstlerischen Ausdruck,
beschleunigt sich diese
Entwicklung.

„Greatest of all time“
Simone Biles’ Tanzschritte
zwischen den Sprüngen
lassen Traditionalisten
kalte Schauer über den
Rücken laufen. Eleganz
gehört nicht zu ihren Stär-
ke. Aber wenn man sich
auf YouTube ihre Sprün-
ge in Zeitlupe anschaut,
kann man kaum glauben, dass diese
Filme nicht manipuliert sind. Ein dop-
pelter Salto mit ausgestrecktem Kör-
per und dreifacher Schraube, perfekt
gestanden: Wie ist so etwas unter den
gegebenen physikalischen Gesetzen
möglich?
Bei den amerikanischen Meisterschaf-
ten trug Simone Biles einen Anzug, des-
sen Rücken mit dem Kopf einer Ziege
aus Strasssteinen bestickt war. Ziege
heißt auf Englisch Goat und steht für
„Greatest of all time“. Bislang durf-
te nur Muhammed Ali diesen Titel
beanspruchen, ohne dabei arrogant
zu wirken. Der große Ali wäre stolz,
den Thron mit Simone Biles teilen zu
dürfen.n

Große Leistung Bei der WM in Stuttgart zeigt Simone Biles (hier am
Stufenbarren) Elemente, die zum Teil nach ihr benannt sind

„Ihr konntet nicht mal eure einzige Aufgabe


erledigen. Die eine Verantwortung: uns zu beschützen.


Das habt ihr nicht getan“
Biles’ Anklage gegen den US-Verband nach dem Missbrauchsskandal

zu bringen. Bei einem ihrer ersten Wett-
kämpfe flog sie beim Sprung über den
Tisch, ohne ihn zu berühren, und erhielt
null Punkte.
Noch im Frühjahr 2013 hatte Biles
so große Schwierigkeiten, die ästheti-
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