Focus - 12.10.2019

(Ron) #1
Foto: plainpicture

90 FOCUS 42/2019

Aus erster Hand,
Eva Ohlerth, 60, arbeitet
seit über 30 Jahren in
der Pflege. Am 16.10.
erscheint ihr Buch
„Alptraum Pflege“ (mit
Frank Wittig; Verlag Riva)

U


nsere Professiona­
lität bleibt auf der
Strecke. Das führt
zu einem erheb­
lichen Aufkommen
an Burnouts und zur hohen
Fluktuation im Pflegesektor.
Es ist auf die Dauer nur
schwer zu ertragen, wenn
man ständig hinter den pro­
fessionellen Anforderungen
zurückbleibt. Das sind
permanent Gefühle des Ver­
sagens. Sensible Mitarbeiter
flüchten. Dabei wäre gerade
ihre Sensibilität ein Gewinn
für die Pflege. Unfähige
Vorgesetzte fördern diesen
Wahnsinn in der Pflege, weil
jene Kollegen gelobt wer­
den, die am schnellsten die
Trocken­sauber­satt­ Pflege
praktizieren. Viele Leitungen
fordern falsche Dokumenta­
tionen von den Mitarbeitern,
was bedeutet, Leistungen
abzuzeichnen, die nicht er­
bracht wurden. Wer nicht
mitmacht, wird schikaniert,
ausgegrenzt und gemobbt.
Wie viele meiner Kollegen
sind in der Folge dieses Be­
triebsklimas krank geworden
und/oder haben gekündigt!
Dabei brauchen wir selbstre­
dend unbedingt mehr Men­
schen in der Pflege, die sich
dort ernsthaft für menschen­
würdige Bedingungen ein­
setzen.
Es ist diese institutiona­
lisierte Anspruchslosigkeit
gegenüber der Pflege, die
mich schier wahnsinnig
macht! Und die den Kern
des Missstandes in der Pfle­
ge bildet: „Ein gutes Herz
genügt doch für diesen Beruf,

und das Lächeln, welches
man vom Bewohner zurück­
bekommt, ist doch Dank
genug!“ und „Pflegen kann
doch jeder!“.
Nein, wirklich nicht! Statt
unseren Beruf ökonomisch
und im Ansehen der Gesell­
schaft aufzuwerten, setzt
man ihn mit solchen dummen
Phrasen herab, was zu einer
stetigen Deprofessionali­
sierung in den Berufen der
Altenpflege führt. Und was
hat das für eine Auswirkung
auf den Nachwuchs? Kein
Wunder, dass wir Probleme
haben, die Stellen in der
Pflege ausreichend mit quali­
fiziertem Personal zu beset­
zen. Mit Menschen, die sich
in jahrelanger Ausbildung
die wichtigen Kenntnisse
in diesem anspruchsvollen
Berufsfeld angeeignet haben.
Mal ehrlich, möchten Sie
einen Beruf erlernen, der in
der Gesellschaft den nega­

tiven Stellenwert hat, den
Altenpflege heute bei uns
genießt?
Ich kenne keinen anderen
Berufszweig, in dem man ein
Lächeln als Dank und zusätz­
lich einen Dumpinglohn
als Gehalt für die geleistete
Arbeit akzeptiert! Ich stelle
mir gerade einen Mana­
ger bei BMW vor, der sich
mit einem Lächeln und mit
einem Lohn abspeisen lässt,
mit dem er seine Familie
nicht ernähren kann und sich
stattdessen als Dankeschön
eine Packung Merci­Schoko­
lade überreichen lässt.
Jeder Automechaniker ver­
langt einen höheren Stun­
denlohn. Und den bezahlen
wir, ohne uns zu beschweren.
Aber ist eine Autoreparatur
wirklich mehr wert als die
Pflege unserer Eltern? Das
negative Image des Alten­
pflegeberufs verhindert, dass
sich genügend ambitionierte

junge Menschen für diesen
Beruf interessieren.
In der Folge kommen
immer mehr Kräfte über
Arbeitsplatzmaßnahmen in
diesen Beruf, die dafür nicht
geeignet sind. Ein Teufels­
kreis, eine Abwärtsspirale,
die wir durch regulatorische
Maßnahmen unterbrechen
müssen. Wir benötigen klar
definierte Vorgaben, was die
Eignung des Personals anbe­
langt. Altenpflege darf nicht
mehr die „Endlagerstätte“
sein, auf der man schwer Ver­
mittelbare aus dem Heer der
Arbeitslosen entsorgt.
Eine Pflegekraft verdient
nach fünf Berufsjahren in
Westdeutschland zwischen
2661 Euro und 3000 Euro brut­
to monatlich, in Ostdeutsch­
land (Sachsen­Anhalt) im
Durchschnitt 2100 Euro brutto.
Wundert es da noch jemanden,
dass uns der Nachwuchs fehlt?
Im Krankenhaus verdienen
die Fachkräfte im Durchschnitt
circa 600 Euro mehr als in der
Altenpflege. Sollte uns die­
se Tatsache nicht zu denken
geben? Altenpfleger haben
eine sehr hohe Verantwortung.
Die Überarbeitung dieser
Dumpinglöhne ist längst über­
fällig! Löhne müssen der Aus­
bildung und der Verantwor­
tung entsprechend angepasst
werden. n

Falsches Idyll Die meisten Pflegekräfte kommen mit der Arbeit nicht nach

Die Pflegekrise aus der Binnenperspektive: mieses Image, Frust und Burnout –


Eva Ohlerth macht eindringlich klar, warum viel zu wenige diesen Beruf ergreifen wollen


Ein Lächeln als Dank und ein Dumpinglohn als Gehalt


Von Eva Ohlerth
Altenpflegerin, Firmen-Coach und Buchautorin

MEINUNG

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