Neue Zürcher Zeitung - 25.10.2019

(vip2019) #1

Freitag, 25. Oktober 2019 WIRTSCHAFT 25


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Die Schweizer beanspruchen deutlich mehr Wohnfläche –


auch weil mehr gebaut wird SEITE 27


Peking hat einen neuen Flughafen –


er soll zum Hub der Superlative werden SEITE 30


Raus mit Applaus

Der scheidende EZB-Präsident Mario Draghi sorgt sich über die Konjunktur und fordert eine Fiskalkapazität für die Euro-Zone


Mario Draghi hat die


ultraexpansive Geldpolitik


vorerst zementiert und seiner


Nachfolgerin ChristineLagarde


damit die Hände gebunden.


Die Beurteilung seiner Amtszeit


bleibt umstritten.


MICHAEL RASCH, FRANKFURT


InseinerletztenPressekonferenzalsPrä-
sident der Europäischen Zentralbank
(EZB) bekam Mario Draghi neben den
üblichenFragen von etlichenJournalis-
ten auch noch guteWünsche mit auf den
Weg; am Ende brandete Beifall von fast
dergesamtenMedienscharauf.Rausmit
Applaus. Sagt das nun mehr aus über die
Amtszeit von Draghi oder über die an-
wesenden Medienvertreter?Wie auch
immer, während das Ende von Draghis
Präsidentschaft in vielen südeuropäi-
schenLändern bedauert wird, hält sich
die Wehmut vor allem in Deutschland
in engen Grenzen. Seiner Nachfolge-
rin ChristineLagarde, die an derRats-
sitzung am Donnerstag teilnahm,sich je-
doch nicht an der geldpolitischen Dis-
kussion beteiligte, übergibt der Italiener
ein e festgezurrte geldpolitische Strate-
gie. Für Lagardekönnte sich diese noch
als Danaer-Geschenk erweisen.


GespaltenerEZB-Rat


Draghi sagte in der Pressekonferenz,
die Teilnehmerhätten an denFinanz-
märkten verstanden, dass die Geldpoli-
tik vorerst «zementiert» sei. Die Noten-
bank hatte unter derFührung des Italie-
ners in der vergangenenRatssitzung im
September ein neues grosses Massnah-
menpaket verabschiedet, um der – bis-
her allerdings nicht dramatischen –Kon-
junkturschwäche in der Euro-Zone ent-
gegenzuwirken. ImKern hatte die EZB
dabei den sogenannten Einlagensatz um
zehnBasispunkte auf –0,5% gesenkt
und eineWiederaufnahme der hoch um-
stri ttenenWertpapierkäufe über monat-


lich 20Mrd.€ab 1. November beschlos-
sen. Den Einlagensatz bezahlenBan-
ken, wenn sie bei der Notenbank über-
schüssiges Geld parkieren.
Mit derDurchsetzung dieses Mass-
nahmenpakets hinterlässt Draghi sei-
ner NachfolgerinLagarde nicht nur
einentief gespaltenen Zent ralbankrat,
da nahezu alle im September getrof-
fenen Entscheidungen nicht einstim-
mig fielen und sich rund zehn Mitglie-
der gegen den Neustart derWertpapier-
käufeausgesprochen hatten. Sogar die
interne geldpolitische Arbeitsgruppe
der EZB hatte sich demVernehmen
nach gegen dieWiederaufnahme des

Erwerbs von Schuldpapieren gestellt.
Zudem bindet er derFranzösin auf ab-
sehbare Zeit die Hände. Das gilt umso
mehr, als der EZB-Rat mitgeteilt hatte,
dass die Nettokäufe überwiegend von
Staatsanleihen solange fortgesetzt wer-
den sollen, wie sie für dieVerstärkung
der geldpolitischenWirkung erforder-
lich seien, und erst enden sollen, kurz
bevor die EZB mit der Erhöhung der
Leitzinsen beginnt.
Am Donnerstag blieb sich der wie
immer ernsthaft, aber dennoch gelöst
wirkende Draghi treu, indem er eine
Welt voller Risiken an dieWand malte.
Einmal mehr betonte er die Gefahren

für dieKonjunktur. In der Pressekonfe-
renz präzisierte der 72-Jährige schliess-
lich, dass er einen Abschwung derWirt-
schaft derzeit als das Hauptrisiko für
den Euro-Raum erachte. So klar wie sel-
ten zuvor sprach er sich zudem für die
Schaffung einer zentralenFiskalkapazi-
tät in der Euro-Zone aus, um diese zu
stabilisieren.Dieskönnte beispielsweise
die Einführungeines Euro-Zonen-Bud-
gets sein. DieAusgestaltung einer fiska-
lischen Kapazität sei allerdingsschwie-
rig, da siekeinenAnreiz für schäd-
lichesVerhalten («moral hazard») set-
zen dürfe. Der gebürtigeRömer wird
sonst nicht müde, grössere fiskalische

Anstrengungen vonLändern zu ver-
langen, die den Spielraum dafür haben,
und zielt dabei vermutlich vor allem auf
Deutschland ab. Gleichwohl sagte er an
der Pressekonferenz im Hinblick auf
die Notwendigkeit einer zentralenFis-
kalkapazität, dass nationale fiskalische
Massnahmen nur begrenzte Effekteauf
die Euro-Zonehätten.
Zu Draghis Erbe zählt nicht nur eine
rund fünfJahre dauernde Nullzinspoli-
tik, sondern auch die Einführung von
negativen Zinsen für Geschäftsbanken.
Letztere verteidigte Draghi neuerlich
vehement.Ihre nachteiligenWirkun-
gen seien deutlich geringer als die mit
ihnen verbundenenVorzüge. Diese Ein-
schätzung dürfte auch in Zukunft sehr
umstritten bleiben.Während der schei-
dende Präsident mehrmals betonte, alle
Aktionen des EZB-Rates seien inner-
halb ihres Mandats erfolgt,wird dies
von Kritikern bezweifelt. Erst jüngst
warf eine Grupperenommierter frü-
herer Zentralbanker der EZB vor, die
Grenze zur verbotenen Staatsfinanzie-
rung in den letztenJahren überschritten
zu haben.

Draghi behältdie Pickelhaube


Für viele Beobachter wird der Italie-
ner derRetter der Euro-Zone bleiben,
die er mit seinem berühmtenAusspruch
einleitete, die EZBwerde im Rah-
men ihres Mandats alles unternehmen
(«whatever it takes»), um den Euro zu
bewahren.Fürviele andereZeitgenos-
sen wird er als der Notenbankpräsident
in Erinnerung bleiben, unter dem Geld-
politik undFiskalpolitik immer stär-
ker vermischt worden sind. In Deutsch-
land forderte am Donnerstag das Boule-
vard blatt «Bild-Zeitung» die preussische
Pickelhaube zurück,die sie Draghi 2012
geschenkt hatte, um ihn sinnbildlich zum
Deutschen zu machen. Dieses Unter-
fangen schlug bekanntlich fehl. Dra-
ghi will das Andenken dennoch behal-
ten undkonterte dieAufforderung am
Donnerstag auf Deutsch mitden Wor-
ten «geschenkt ist geschenkt».

Sunrise hält UPC-Dealmit einem Trick amLeben


Rechtsexperten halten es für unzulässig, dass der Verwaltun gsrat die Generalversammlung absagte


STEFAN HÄBERLI


Man stelle sich folgendes Szenario vor:
Bundesrat Ignazio Cassis trittamSams-
tagmorgen vordie Presse.Gutgelaunt
teilt er mit, dass die Urnen am folgen-
den Abstimmungssonntag nicht wie ge-
plant aufgestellt werden. DieRegie-
rung habe einstimmig beschlossen, dass
das nicht nötigsei. Die Zwischenresul-
tate aus den Kantonen zeigten, dass
eine klare Mehrheit der Stimmbürger
das Rahmenabkommen mit der EU ab-
lehne. Der Nein-Anteil bei den brief-
lich abgegebenen Stimmen sei so hoch,
dass dasResultat am Sonntag nicht
mehr kippenkönne. Daher sei es bes-
ser, wenn dieWahllokale geschlossen
blieben. Manrespektiere den Entscheid
des Volkes ,bedaure ihn aber auch. Im
Übrigen werte die EU-Kommission den
Entscheid nicht als formelles Nein. Es
stehe der Schweiz offen, innerhalb von
vier Monaten eine neueVolksabstim-
mung durchzuführen.


Eine Tür bleibt offen


Vergleiche zwischen derPolitik und der
«Aktionärsdemokratie» sollten nicht
überstrapaziert werden. Aber mit einer
ähnlichen Begründung – undKonse-


quen zen – sagte Sunrise am Diens-
tag eine ausserordentliche Generalver-
sammlung (GV) kurzfristig ab.Am Mitt-
woch hätten dieAktionäre derTelekom-
Firma im Streit um die Übernahme des
Kabelnetzbetreibers UPC das letzte
Wort sprechen sollen. Doch weil sich
ein Nein zur 6,3 Mrd.Fr. teur en Über-
nahme abzeichnete,sagte derVerwal-
tungsrat die GV ab. Der UPC-Deal sei
damit «tot», sagte Sunrise-Chef Olaf
Swantee. Doch in Zeiten von Defibrilla-
toren ist derTod nicht immer endgültig.
Das sieht auch MikeFries, der CEO des
UPC-Eigners Liberty Global, so: «Die-
ser Dealkönnte wieder zum Leben er-
weckt werden», sagte er der «Financial
Times». Niemandkönne dessen «indus-
trielle Logik» bestreiten. Die Botschaft
war wohl anFreenet gerichtet, den
grössten Sunrise-Einzelaktionär. Es war
die deutscheFirma,die denAufstand ei-
nige r Aktionäre gegen die UPC-Über-
nahme angezettelt hatte. Sie bemängelte
nicht nur die Höhe des Kaufpreises und
der Kapitalerhöhung, sondern auch die
«industrielle Logik» derTransaktion.
Das war schon immer wenig glaub-
würdig. Doch seit Dienstag gibt es kaum
noch Zweifel, dass es sich dabei um
eine Flunkerei gehandelt haben dürfte.
Die beidenFreenet-Vertreter im Sun-

rise-Verwaltungsrat hatten am Mon-
tagabend nämlich die Gelegenheit, die
UPC-Übernahme auf absehbare Zeit
zu versenken. Ein Nein der Aktionäre
an der GV wäre derTodesstoss für das
Vorhaben gewesen.Doch das war offen-
bar nicht die Absicht der beidenFree-
net-Vertreter. Sie trugen den Entscheid
des Verwaltungsrates, die GV zu annul-
lieren, mit. Der Kaufvertrag zwischen
Sunrise und dem UPC-Mutterkonzern
Liberty Global bleibt bis am 27.Februar
gültig. Sunrisekönnte dieLaufzeit des
Vertrages gar um drei Monate verlän-
gern, wenn das Unternehmen glaubhaft
belegen kann,dass es nach Ablauf die-
ser Frist die Aktionäre doch noch vom
Deal überzeugenkönnte. Die Türe für
kreative Lösungen bleibt damit offen.
Zwar spielteSunrise-Finanzchef André
Krause diesen Umstand am Dienstag
herunter. Es handle sich dabei um eine
«Formalie», sagte er. Dagegen spricht,
dass Sunrise wegen dieser «Formalie»
offenbar Kratzer an derReputation in
Kauf nimmt.
DerWirtschaftsrechtsprofessorPeter
V. Kunz hält dasVorgehen von Sun-
rise für «aktienrechtlich höchst zwei-
felhaft». Dass derVerwaltungsrat einen
Entscheid derAktionäre vorwegnehme,
indem er die GV kurzerhand absage,

sei eineKompetenzanmassung des Gre-
miums. Vor ein paarWochen hätte Sun-
rise allenfalls noch argumentieren kön-
nen, dass soKosten für die Miete des
Zürcher Hallenstadions eingespart wer-
den könnten,sagtKunz.Doch zweiTage
vor der GV ziehe dasKostenargument
nicht.

Klage ist unwahrscheinlich


Diese Meinung teilt ein Anwalt einer
renommierten Kanzlei. Eine GVkönne
nur aus gewichtigen Gründen,etwa dem
un erwartetenRücktrittzahlreicherVer-
waltungsräte, abgesagt werden. Den
Coup von Sunrise hält er für unzulässig
und opportunistisch. Ohne diesen hätte
die GV nicht zu einem späteren Zeit-
punkt nachgeholt werdenkönnen.Diese
Option – gegen die sich die Aktionäre
mit einem Nein ausgesprochen hätten


  • bleibe nun auf demTisch. Da Free-
    net den Entscheid mittrage, sei es äus-
    serst unwahrscheinlich, dass jemand
    juristisch gegen dieTrickserei vorgehen
    werde. Und falls es doch ein Aktionär
    wagte, wären die Erfolgschancen gering.
    Denn ein Kläger müsste einen Kausal-
    zusammenhang zwischen einem finan-
    ziellen Schaden und derAnnullation der
    GV nachweisen.Das sei kaum möglich.


Mario Draghi hinterlässt seiner NachfolgerinChristine Lagarde einen eingeschränkten Spielraum. MICHAEL PROBST / AP

WirhaltenWort.
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