Neue Zürcher Zeitung - 25.10.2019

(vip2019) #1

42 FEUILLETON Freitag, 25. Oktober 2019


Die Welt mit der Waffe gestalten


Wer At tentäter wie den Todesschützen von Halle als Irre bezeichnet, verharmlost ihre Taten


JÖRG SCHELLER


NachrechtsextremistischenTerrorakten
wie dem in Halle tauchtregelmässig die
Behauptung auf,bei den Täternhandle
es sich um«Wirrköpfe». Um Menschen,
deren Denken sich jedem vernünfti-
genVerständnis entziehe. Das ist nicht
nur schlampig gedacht, sondern brand-
gefährlich. Soverharmlost mandieTr ag-
weite derTaten und machtsich den Ab-
wehrgestus politischer Extremisten zu
eigen: Es handle sich um «Einzelfälle»,
für die niemand verantwortlich sei – und
gegen die niemand etwas tunkönne.
Dass sich diese Einzelfälle aufrechts-
radikales Gedankengut berufen, be-
deute nichts, so wehren die politischen
Gruppierungen amrechtenRandrou-
tinemässig ab. Nationalistische undras-
sistische Ideologien würden nicht da-
durch diskreditiert, dass ab und zu je-
mand übers Ziel hinausschiesse beim
Versuch, sie zu interpretieren und in die
Realität umzusetzen.
Wer diese Verteidigungshaltung
übernimmt, blendet zweientscheidende
Punkte aus: Erstens planen die ver-
meintlich so «wirren» Täter ihreVerbre-
chen völligrational. Zweitens verfügen
sie über einkohärentesWeltbild, mit
dem sie ihrTunlegitimieren. So trüb die
Quellen auch sind, aus denen sich dieses
Weltbild speist, dasResultatist klar. Wer
Linksextremisten attestiert, sie handel-
ten im Dienste kruder Ideologien und
Weltbilder, mussRechtsextremisten mit
dem gleichen Mass messen. Erst wenn
man dieRolle vonWeltbildern ernst
nimmt,erschliesst sich dasWesen des
rechtsextremistischen Terrors zumin-
dest im Ansatz.


Das Bild derWelt


Die Täter verbindet, dass sie sich ein
hermetischesWeltbild fabriziert haben,
das sie derempirischenRealität und den
Weltbildern der anderen gegenüber-
stellen. Man kann dieses Bild politisch,
soziologisch oder psychologisch deuten,
entscheidend ist: Es ist ein Bild. Zwar
haben wir alle unsereWeltbilder.Wir
alle blicken durch ideologische Brillen
auf dieWelt. Doch wirkönnen und wol-
len zwischen unserem Bild derWelt und
derWelt selber unterscheiden.
Wir wissen durchVernunft und Ein-
fühlung, dass unser Bild nur ein Mosaik-
steinchen im Bild derWelt ist.Als libe-
raleMenschen suchen wir nach dem,
was der amerikanische PhilosophJohn
Rawls den «überlappendenKonsens»
zwischen den verschiedenen Welt-


bildern nennt. Und wir begrenzen frei-
willig unsere Machtansprüche – weil
wir wissen, dasskein einzelnes Bild der
Komplexität derWelt gerecht wird.
Rechtsterroristen indes wollen ihr
Bild derWelt selber zuWelt werden
lassen. Sie wollen die Differenz zwi-
schen Bild undWelt oder, wenn man
so will, zwischenKunst und Leben ge-
waltsam auslöschen, wie auch die Dif-
ferenz zwischenVolk, Staat und Gesell-
schaft, zwischen Gesetzgebung,Regie-
rung und Rechtsprechung, zwischen
Individuum und Masse.Von daher ist
es bezeichnend, dass die ersteradikale
Avantgardebewegung des 20.Jahrhun-
derts, die italienischenFuturisten, mit
demFaschismus paktierte und auf diese
Weise dieTr ennung vonKunst und Le-
ben überwinden wollte.

Furcht undEkelvor dem Leben


Rechtsextremistische Weltbilder sind
stark undkontrastreich. Sie sind so beruhi-
gend wie energetisierend. Die empirische
Realität indes ist unübersichtlich, wider-
sprüchlich, widerständig und wandelbar.
Für Rechtsextreme, die sich als heroi-

scheKünstler, alssouveräneAutoren ver-
stehen, ist der Eigensinn derRealität ein
Affront. Es ist für sie unerhört, dass auch
Feministinnen, Liberale oder Migranten
an diesem Bild mitmalen wollen!
Und weil sie dieWelt da draussen
nicht mit virtuellen Pinselstrichen ver-
ändernkönnen, greifen sie irgendwann
zurWaffe.Sie setzen ihrKunstwerk
fort. Aber sie malen mit Blut. Und tun
genau das,was sie Linken vorwerfen:
Si e schmähen die Eigengesetzlichkeit
derRealität und stülpen idealistische
Wunschvorstellungen über sie.
Es gibt Menschen,die wirklicheMen-
schen liebenkönnen, in all ihrer Zerris-
senheit undKomplexität.Aus der Liebe
zu diesen wirklichen Menschen bezie-
hen sie die Kraft für Kritik undVerän-
derung. Und es gibt Menschen, die nur
die toten Bilderliebenkönnen, die sie
sich von Menschen und Gesellschaf-
ten gemacht haben. Es sind verführeri-
sche Bilder aus einer mythischenVer-
gangenheit oder aus der utopischen Zu-
kunft der Imagination.VollerFurcht
und Ekel vor dem wirklichen Leben ver-
suchen sie, dieWelt ihrem totenWeltbild
gemäss durchzuformen.Durch Gewalt–

erst durch imaginäre, dann verbale, dann
physische.

Was nicht passt, muss weg


Jelänger sichRechtsterroristen in die
durch Floskeln von Stolz, Kraft, Ener-
gie und Intensität verbrämte Leb-
losigkeit ihres Weltbildes hineinstei-
gern, desto überzeugter sind sie, dass
dieRealität der anderen zerstört wer-
den muss, damit das Bild sie ersetzen
kann. Also muss alles weg,was nicht ins
Bild passt. Der Philosoph Boris Groys
hatAdolf Hitler undJosef Stalin in die-
sem Sinne alsTotalkünstler beschrie-
ben, die ihre Ideen auf die empirische
Realität übertrugen wie Maler Ölfarbe
auf Leinwand.
Sie setztenKunst und Leben in eins.
Hier ein paar tausend Menschen weg-
ge wischt wie einen Klecks, da ein paar
Millionen Menschen verschoben wie
einenTeil einerKunstinstallation. In
jedemrechtsextremistischenTerroris-
ten, in jedem dieWelt «reinigenden»
Fundamentalisten steckt etwas von der
Hybris dieserTotalkünstler, die glauben,
dieWelt sei ihr Bild, ihrKunstwerk.

Mit blosser «Verwirrung» hat das
nichts zu tun. Eher müsste man von einer
ästhetisierten «rasendenVernunft» spre-
chen,wie Kant dies tut. EineVernunft, die
strategischer Natur ist und die sich beivie-
lenRechtsextremisten aus den gleichen
Texten speist. Die Ästhetikrechtsextre-
mistischerWeltbilder ist nicht zufällig.
Man kann, man muss sie klar benennen


  • allerdings ohne den Umkehrschluss zu
    machen, dass alle, dieKontraste und Klar-
    heit schätzen, rechtsextrem sind.


Es sindimmer die anderen


Schwieriger ist es, die Entstehungrechts-
extremistischerWeltbilder zurekonstru-
ieren. Aber es gibt vielversprechende An-
sätze. Andrea Kleeberg-Niepage hat 2012
aufgezeigt, dass sich «rechtsextremes Den-
ken letztlich den gleichenWeg durch die
Sozialisationsinstanzen bahnt wie demo-
kratisches Denken auch». Die Psycholo-
gin folgert,dassRechtsextremismuskeine
reine «Fehlentwicklung politischer Sozia-
lisation» darstellt. Schon in seinen Anfän-
gen ist er mit der Mehrheitsgesellschaft
verquickt – umso stärker muss Letztere
darum bemüht sein, nicht dasWeltbild der
Extremisten zu bestätigen.
Im Grund ist der Inhalt diesesWelt-
bildes sekundär. Entscheidend ist die
Form, die Ästhetik des Bildes als Inhalt:
Geschlossenheit statt Offenheit, harte
Kontraste stattFarbverläufen, hierarchi-
scheKomposition statt spielerisch ambi-
valenter Bildelemente, Übermalung
statt Ergänzung. In diesem Zusammen-
hang sollte man sich nichts vormachen.
Political Correctness mag im Gebrauch
ärgerlicheFormen annehmen, doch sie
istkeinesfalls der Grund für denTerror
Rechtsextremer.
Denn wenn es nicht die politischKor-
rekten sind, gegen die sich derrechts-
ex tremeTerror richtet, dannsindes die
Juden. Und wenn es nicht dieJuden
sind, sindes dieFeministinnen. Und
wenn nicht diese es sind,sind es die
Migranten – oder die Liberalen, die
Gutmenschen, die Kapitalisten.Jeden-
falls: Es sind immer die anderen. Am
logischen Ende desRechtsterrorismus
würde somit die Selbstauslöschung ste-
hen. BliebekeinFeind mehrübrig,wäre
alles andere ausradiert, müssten sich
dieTerroristen paradoxerweise selbst
als andere eliminieren, um ihrWeltbild
zu wahren – einWeltbild,das selbst die
ganzeWelt sein möchte.

Jörg Schellerist Dozent für Kunstgeschichte
und Kulturtheorie an der Zürcher Hochschule
der Künste, Musiker und Bodybuilder.

Schusslöcher an derTüre zurSynagoge in Halle. FILIP SINGER/EPA

Musik, die besoffen macht


Deutsche Jazzmusiker fanden erst mit der Imitati on zur Selbst verwirklichung


CHRISTOPHWAGNER


Diese Musik klang exotisch, fremd und
faszinierend. Im Nationalsozialismus
aber als «Negermusik» verfemt, machte
sie hier erst in der Nachkriegszeit Kar-
riere. Unterdessen ist Jazz zueiner
Selbstverständlichkeit geworden.Wolf-
ram Knauer, Leiter desJazzinstituts in
Darmstadt, hat in einemüber5 00 Sei-
ten starken Buch «die Geschichte des
Jazz in Deutschland» nachgezeichnet.
DieVeröffentlichung füllt eine Lücke,
denn die letzte Publikation, die solch
eine Gesamtsicht wagte,ist bereits sieb-
zigJahre alt.
Schon der Buchtitel hat es in sich:
«Play yourself, man!» EinTitel im ame-
rikanischen Slang für eine Geschichte
des deutschen Jazz? Die scheinbare
Widersinnigkeit ist natürlich beabsich-
tigt!Sie bringt die lange Abhängigkeit
der deutschenJazzmusiker von ihren
Vorbildern auf den Punkt. Denn an-
fangs wollten die Deutschen nur eines:
genauso klingen wie ihre amerikani-
schen Idole. Erst im freienJa zz der
1960erJahre schwammen sich Musi-
ker aus beidenTeilen Deutschlands frei.


Sie suchten nun einen eigenen Stil, wo-
bei der amerikanische Einfluss nichtso
leicht abzuschütteln war.

Schweizerin der Szene


VielRaum widmet Knauer einer Be-
standsaufnahme der gegenwärtigen
Situation.Wie in der Schweiz gibt es
heute auch in der Bundesrepublik ein
Heer erstklassigerJazzmusiker, und an
vielen Hochschulen wirdJazz gelehrt.
Ein paar der führenden internationalen
Jazz-Labelskommen aus Deutschland
(ECM,Act), dazu findet jedesJahr eine
Vielzahl grosserFestivals statt.
Drei Fachzeitschriften berichten
über die neustenTr ends, und in Hun-
derten von Klubs werdentäglichKon-
zerte geboten, wobei Berlin das Zen-
trum ist.Wie ein Magnet zieht die ehe-
malige Mauerstadt scharenweise Musi-
ker an (viele davonaus demAusland),
von denen der Schweizer Schlagzeuger
und Elektroniker SamuelRohrer nur
einerist. Insgesamtkommt demJazz in
Deutschland ein hoher Stellenwert zu,
den Knauer in all seinenVerästelungen
beschreibt.

Am Anfang warJazz nur der Name
für einen Modetanz «mit Gliederschüt-
teln undVerrenken», wobei die Kapel-
len, dieihn spielten, Jazzbands genannt
wurden. Nach dem ErstenWeltkrieg
kamen solche Gruppen aus den USA
erstmals nach Europa, auch nach Ber-
lin, wo sie inVariétés und Nachtklubs
mit einer Musik fürFuroresorgten, «die
auch ohne Alkohol besoffen macht».
EinheimischeTanzmusiker hörten sich
einzelneTitel von Importschallplatten
ab, weil sie neben Schlagern, Kabarett-
liedern, Gesellschaftstänzen auch die
neustenJazznummern, ob von Bix Bei-
derbeckeoder Fletcher Henderson, im
Repertoire haben mussten.
Mit Showprogrammen wie der
«Revue nègre» (mitJosephineBaker)
brachten Promoter erstmals afroameri-
kanischeJazzmusiker wie SamWooding
oder Sidney Bechet nach Deutschland,
weil sie um dieFaszination eines weissen
Publikums für schwarze Musiker wuss-
ten. Ihr Spiel wurde bald von einheimi-
schenBandskopiert, wobei erste Lehr-
bücher beim Lernen halfen.Das Spiel
ohne Notenund die improvisierten Soli
(«Variationen» genannt) stellten die

grösste Herausforderung dar. Die syn-
kopische Musik zog selbstKomponis-
ten moderner «Zeitopern» in denBann.
Jazzanklänge sind sowohl in Ernst Kre-
neks «Jonny spielt auf» als auch inKurt
Weills «Dreigroschenoper» zu hören.

Sounds derFreiheit


Die Unterhaltungsbranche hatte sich
von derWeltwirtschaftskrise von 1929
noch kaum erholt, da nahm der Natio-
nalsozialismus1933 denJazz insVisier.
DieSwing-Musik fiel der «moralischen
Sanierung desVolkskörpers» (Adolf Hit-
ler) zum Opfer. Nur noch Musiker «ari-
scher Abstammung» durften öffentlich
auftreten. Im Oktober1935 wurde ein
«Verbot des Nigger-Jazz» für denRund-
funk erlassen. Natürlich lebtenSwing-
Elemente in der Musik bekannterTanz-
kapellen wie den OriginalTeddies (ange-
führt vom SchweizerTeddyStauffer) fort,
doch kamen solche Combos immer stär-
ker unter den Druck derReichsmusik-
kammer, die Spitzel in Nachtklubs und
Bars schickte.Weniger riskant war es für
«Swing-Heinis», daheim imFreundes-
kreis die verbotene Musik zu hören.

Jazz überlebte das «tausendjährige
Reich». Nach dem Zusammenbruch
des Naziregimes hobenJazzfans und
Musiker die ersten Kellerklubs aus
derTaufe. Jazz galt nun als Sound der
Freiheit. Musiker wie Albert Mangels-
dorff schlugen in den1960erJahren
neueTöne an, die sich vom amerikani-
schenJazz absetzten.Auch Schweizer
Improvisatoren wie Charly Antolini,
PierreFavre,Peter Giger und George
Gruntz befruchteten die bundesrepu-
blikanische Szene.
Heute haben jungeTalente wie der
Pianist MichaelWollny oder der Schlag-
zeuger Christian Lillinger den Staf-
felstab übernommen und bringen den
bundesdeutschenJazz auf die Höhe der
Zeit. Nach hundertJahren ist derJazz
aus dem kulturellen Leben der Bun-
desrepublik nicht mehr wegzudenken.
Knauer macht das mit seinemkenntnis-
reichen und flüssig geschriebenen Buch,
das das Zeugzum Standardwerk hat, un-
missverständlich klar.

WolframKnauer: Playyourself, man! Die
Geschichte des Jazzin Deutschland. Reclam-
Verlag, Ditzingen 2019. 528S., Fr. 47.90.
Free download pdf