52 WOCHENENDE Freitag, 25. Oktober 2019
lässt das Eis schmelzen, sondern auch
die Schwankung der Druck- undWind-
verhältnisse,Niederschläge,Wechselwir-
kungen mit dem Ozean an der Unter-
seitedesSchelfeisesundsoweiter.Lau-
terD ynamiken,diesichauchinderAnt-
arktis beobachten lassen, dem grössten
EisschildderErde.IndenneunzigerJah-
renschienesnochweitgehendimGleich-
gewicht, wie Steffen sagt, doch zumin-
destumdieWestantarktisseiesmittler-
weile genauso schlecht bestellt wie um
Grönlands Eisschild. Und darin steck-
tennocheinmalsechsMeterpotenzieller
AnstiegdesMeeresspiegels.«Werheute
am Meer geboren wird, wird dort nicht
in Pension gehen.»Das Gebiet werde
in einem Menschenalter verschwinden.
Auch wenn wir sofort CO 2 -neutral wür-
den, liesse sich das nicht mehr ändern;
dafürhabenwirschonzuvielCO 2 indie
Atmosphäreabgegeben.«Aberwennwir
nicht sofort gegensteuern,wird es noch
viel schlimmer werden.»
Eis ist nicht gleich Eis. Meereis ist
gefrorener Ozean.Damit unterscheidet
es sich von Eissorten wie Schelfeis und
Gletschereis, die an Land durch Gefrie-
ren von Niederschlag entstehen.Wenn
aufderSüdhalbkugelWinteristundsich
dort eine Eisschicht bildet, sind zehn
Prozent der Erdoberfläche mit Eis be-
deckt. Im Sommer schmilzt es fast voll-
ständig weg.Auf der Nordhalbkugel er-
reichtdieDeckeausMeereisEndeMärz
ihr Maximum und schrumpft im Sep-
tember auf ein Minimum. In den letz-
tendreissigJahrenhatessichinderFlä-
cheumdieHälftereduziert.Nichtmehr
lange,undderNordpolwirdimSommer
eisfreisein–etwaimJahr2050,schätzen
Experten.FranklinundNansenundwie
sieallehiessen,dieihrLebenriskierten,
um an diesen ortlosen Ort zu gelangen,
würden ihrenAugen nicht trauen.
«The ice was here, the ice was there.
The ice was all around», schrieb Samuel
Taylor Coleridge1798 in der «Ballade
des alten Seemanns». Besser könnte es
Christian Haasvom Alfred-Wegener-
Institut in Bremerhaven auch nicht for-
mulieren.Im Frühjahr, bevor die Sonne
ihre volle Kraft entfalte,sehe es noch
aus wie immer, sagt er:«Presseisrücken,
Schmelztümpel, Eisschollen bis zum
Horizont.»WieKonradSteffenhatHaas
es sich zur Lebensaufgabe gemacht,Eis
zu vermessen, allerdings Meereis. «Seit
1991 hatte ich das Glück,jedesJahr auf
einer Scholle zu stehen», sagt Haas. Die
Schönheit, die Freiheit,dieRuhe in den
Polargebieten hätten nichts von ihrem
Reiz eingebüsst, «es ist einfach ‹pris-
tine›» , sagt er , makellos.Wenn sie frü-
her die Eisdicke mit Bohrstangen ver-
messenhätten,hättensieimmergehofft,
dass das Eis nicht mehr als zwei Meter
dick sei.Nach jedem Meter müsse man
denBohrerherausziehenundeinneues
Meterstückhinzufügen,wasinderKälte
anstrengend sei.«Wir waren froh,wenn
wir keinen dritten Meter brauchten»,
sagtHaas.Heutewürdensiesichfreuen,
wennsieeinmaleinendrittenbrauchten.
1960 war das Meereis im Sommer etwa
3Meterdick,19902,5Meter,undinden
letzten beidenJahren 0,9 Meter.
Als junger Mann heuerte Arthur
Conan Doyle auf einemWalfängeran,
langebevorerSherlockHolmeserfand.
Die Männer segelten die Grönlandsee
hinauf, durch dieFramstasse und bis an
den Rand des Packeises – überall dort-
hin, wo heute vermutlich mehr auto-
nome Messsonden alsWale unterwegs
sind. Später versuchteerzuergründen,
woher«dasmerkwürdige,jenseitigeGe-
fühl derPolarregionen» rühre, «ein so
einzigartigesGefühl,daseineneinLeben
langverfolgt».ErkommtzudemSchluss,
dassesvomLichtabhänge,«dasständige
Licht, derGlanzdesweissenEises», der
nachzweiMonatendieAugenermüden
liesse. Obwohl unübersehbar, wird die-
serAspekt meist übersehen,wenn vom
schmelzendenEisinderArktisdieRede
ist:dieAlbedo,dasRückstrahlvermögen.
Eis und Schneereflektieren 90 Pro-
zentdesSonnenlichts;siewirkenwieein
Schutzschild für den Planeten. «Das istdiewesentlicheFunktiondesMeereises»,
sagtHaas,wieeinriesigerSpiegel,derdie
Strahlung zurück insAll wirft.Schmilzt
es, wird das Eis dunkler und matter.
SchmelzwassersammeltsichinTümpeln,
absorbiertdie St rahlung, Schm elztüm-
pel schmelzen sich selber ein.Wo kein
Eis ist, istWasser – und das ist dunkel.
EsbewirktdasGegenteil:Esabsorbiert
bis zu 90 Prozent des Sonnenlichts und
heizt sich auf. Noch mehr Eis schmilzt.
Die Folge ist die arktische Amplifika-
tion: Die Erderwärmung geht in den
nördlichen Breiten doppelt so schnell
vonsta ttenwieimglobalenDurchschnitt.
Haas’ Basisstation in der Arktis ist
manchmal das Camp «Barneo», das die
Russische Geografische Gesellschaft
seit 2002 alljährlich für einen Monat im
Frühling auf demPackeis , weniger als
hundert Kilometer vom Nordpol ent-
fernt,einrichtet.Nicht nurForscher aus
allerWelt mieten sich dort ein,sondern
auch wohlhabendeTouristen. Einmal
hat Christian Haas die Ankunft eines
Amerikanersbeobachtet,dertotalüber-
rascht war, keine Felsen vorzufinden.
Dass die Arktis,anders als die Antark-
tis,kein Kontinent ist,hatte er nicht ge-
wusst.UnterdemzweiMeterdickenEis
nichts als 40 00Mete rWasser.
Nord-undSüdpol,sohabeeressichals
Kind vorgestellt, schreibt Conan Doyle
in seinemWalfänger-Bericht, seien die
AbdruckstellenvonGottesDaumenund
Zeigefinger,zwischendenenerdieErd-
kugel hielt, um sie in Drehung zu ver-
setzen. Damit lag er nicht vollkommen
falsch. Der nördliche Drehpunkt der
Erdachse, der sogenannte geografische
Nordpol,liegtaufdemMeeresgrundund
wurde2007erstmalsvoneinerrussischen
ForschungsexpeditionmiteinemU-Boot
erreicht. Nicht anders als die Amerika-
neraufdemMondpflanztendieRussen
am Nordpol eine Nationalflagge in den
Grund, was international nicht gut an-
kam.DerKampfumdiereichenBoden-
schätze derArktis hat längst begonnen.
Einer, der bei diesem historischen
Tauchgangdabeiwar,ihnzumGrossteil
finanzierte, ist der schwedische Unter-
nehmerundAmateur-PolarforscherFre-
derik Paulsen,der auch dasSwiss Polar
Institute mitfinanziert. Die russische
Regierung sei von der Aktion so über-
rascht gewesen wie derRest der Welt,
sagtPaulsen.EsseieinLausbubenscherz
derWissenschaftergewesen,nichtssonst.
Sehr viel mehr Eindruck gemacht habe
aufihnunddiezweianderenMännerin
der winzigenKapsel der «Mir 2» ohne-hinder AufstiegvomMeeresgrund,denn
auf halbemWeg verlor dasTauchboot
denKontaktzumMutterschiff.Esistder
Albtraumeinesjeden,derunterEisgeht:
beimAuftauchendasLochnichtmehrzu
finden. «WirmussteninBetrachtziehen,
dassesnichtklappt»,sagtPaulsen,derin
dieserSituationetwastat,wasihnspäter
selbstwunderte:«Ichh abeerstmaleine
halbe Stunde geschlafen. Ichkonnte ja
nichtstun.»EsbliebennochgenugStun-
denstillerAnspannung,indenenderPi-
lotder«Mir2»versuchte,sichdurchStrö-
mungsberechnungen oder akustische
Signale zu orientieren.Auf den letzten
MeternwareseinesimpleIdee,dieihnen
dasLebenrett ete.VomBorddesMutter-
schiffeswurdeeinScheinwerferaneinem
langenSeilhinabinsMeergelassen.Zum
Glück wardie «Mir 2» nah genug, um
esdurchdieKameraaufihremDachzu
sehen.Nun brauchten sie nur noch dem
Licht zu folgen.«DieArktis», sagt Paul-
sen–SteffenundHaassagendasselbe–,
«bedeutetauchim21.Jahrhundertnoch
immerAbenteuer.»
«Wir sehen, dass sich etwas grund-
legend verändert, aberwir verstehen
noch nicht genau, wie alles zusammen-
hängt», sagt Haas. Fest steht, dass es
immer weniger Meereis gibt, das älter
istalseinJahr.«Damitwirdesimmerun-
wahrscheinlicher,dassdasEisdenSom-
merüberlebenkann.»DasEistreibevon
SibirienüberdenNordpolnachKanada
undGrönland,werdedortgegendieKüs-
ten gedrückt und werde durch die Pres-
sung «dick,rauund aufgeworfen».Nurdort finde sich noch dickes, altes Eis.
Das sei für das Ökosystem von gros-
ser Bedeutung, denn es biete Lebens-
raum nicht nur für Eisbären undRob-
ben,sondernauchfürMikroorganismen
undAlgen–di eBasisderNahrungskett e.
Mehrjähriges Eis berge andereLebens-
gemeinschaften in seinenPoren als ein-
jähriges. «Durch denVerlust verändern
sichdieökologischeFunktionsweiseund
dieArtenzusammensetzung.»
Die Eisverhältnisse – dünnes Eis in
Sibirien, dickes in Kanada – spiegeln
sich schon heute deutlich im Schiffsver-
kehr. Die Menge der über die Arktis
verschifftenLadung stieg2018 im Ver-
gleich zu 2017 über 80 Prozent.Tank-
und Frachtschiffe fahren inzwischen
regelmässig durch die von Russland
kontrolliertenMeeresgebietederNord-
ostpassage.InderNordwestpassagehin-
gegen,wodasdicksteEisentsteht,müs-
sen die kanadischen Behörden auch im
Sommer immer wieder Eiswarnungen
aussprechen. Die Gefahr für Schiffe,
vom Treibeis gefangen oder zerdrückt
zu werden,ist dort noch gross.
Haas darf bald wieder auf seine ge-
liebten Schollen. Im Winter wird er
zwei Monate auf demForschungsschiff
«Polarstern» verbringen, das ein gan-
zes Jahr durch das Nordpolarmeer drif-
ten wird – eine Expedition,an d er sieb-
zehnNationenbeteiligtsind.Die«Polar-
stern» wird an eine grosse Scholle an-
docken,sich vom Eis umschliessen und
mitnehmen lassen, ohne eigenen An-
trieb. So wie esFridtjof Nansenvor 125
Jahrenvorgemachthat.ObwohlNansen
den No rdpol nicht erreichte, konnte er
die Theorie der transpolaren Driftströ-
mung bestätigen.Ausserdem wusste er
zu berichten, dass es in den Eiswüsten
sehr viel mehr Leben gibt als vermu-
tet. Unddass der Nordpol nicht auf
Land liegt.Das ist gerade einmal 125
Jahre her. – Im Winter ist die Eisdrift
noch immer die einzige Möglichkeit, in
den hohen Norden vorzudringen. «Die
Polarnachtbleibt»,sagtHaas.Unddamit
dasEisimWinter .Haasfreutsichschon
da rauf.Er will, fern dem beleuchteten
Forschungsschiff,aufeinerSchollecam-
pen,imeinzigartigenLichtderendlosen
Nacht.VorEisbärenhaterkeineAngst.Wenn Grönlands
Eiskappe auftaue, sagt
Konrad Steffen,stünden
Manhattan, Schanghai,
Mumbai, Hamburg
und vieleandere Städte
im Wasser.
Als junger Mann segelte
Arthur Conan Doyle
aufeinem Walfänger
überall dorthin, wo
heutevermutlich
mehr Messsonden als
Wale unterwegs sind.
Die «Polarstern»,ein deutschesForschungsschiff, im Packeis nördlichdes 82. Breitengrades. STEFANIE ARNDT / ALFRED-WEGENER-INSTITUT (CC-BY 4.0)Lesen Sie amFreitag, 15. November:
Land unter – dasLeben an denKüsten
ist bedroht. Deiche zu errichten, wird
nicht mehr ausreichen. Der Mensch
muss dem MeerRaum zurückgeben.