60 REISEN Freitag, 25. Oktober 2019
EN ROUTE
Im Park der Ausführer
Donnerstag, 12. September 2019
Taipeh (Tai wan), Linsen-Park«AmSonntag führe ich meine Gedan-
kenaus in denPark. Sie schweben unter
altenBäumen, tanzen über denRasen,
stolpern über Blumenbeete.Wenn sie
müde sind, dann nehme ich sie mit an
den ruhigen See, wo manche endlich,
gnädig sich verlieren.Am Sonntag führe
ich meine Gedanken aus in denPark.»
Es gibtkeinen See im Linsen-Park
im Stadtteil ZhongshanimZentrum von
Taipeh.Wenn mir diese Zeilen von Chin
S. Li hier trotzdem in den Sinnkommen,
dann weil hierall e etwas ausführen.
Hun de zum Beispiel, kleine meist.
Und wie so oft,wennes um diesen besten
Freund mancher Menschengeht,nimmt
die Liebe da und dort kuriose Züge an.
Eine Dame mit krausem Haar etwa führt
drei Pudel in einem Kinderwagen spazie-
ren und hebt ihre Schützlinge erstin der
Mitte desParks aus dem Gefährt. Sofort
pinkeln die kleinen Herren, deren dünne
Glieder vor Erregung zittern, derReihe
nach gegen denselbenBaum.Eine gross-
gewachseneLady trägt ihren Chihuahua
in einemKöfferchen von LouisVuitton
über denRasen.Nähert sich schnüffelnd
ein anderer Hund, hält sie demTier die
Tasche vor die Nase und schickt dazu
mit ihren violett bemalten LippenKüss-
chen durchdie Luft.Der Havaneser einer
anderenFrau legt sich mit einer solchen
Selbstverständlichkeit neben seine Be-
sitzerin auf dieParkbank, dass die zwei
sofort wie ein altes Ehepaar wirken, das
auf die Abendnachrichten wartet. Ein
besonderes Ritual hat auch eine hagere
Dame mit einerrosafarbenenReporter-
weste entwickelt,deren Hund wohl frisch
kastriert wurde,denn er trägt eineeben-
falls rosarote Krause aus Plastik um den
Hals.Wann immer dasTier ein Spritzer-
chen zu Boden lässt, um seine Existenz
auf diesem Planeten zu markieren, grei ft
die Herrin zu einer Plastikflasche und
spült die Spur von dannen –kein Wun-
der, sieht dasTier etwas verzweifelt aus.
Viele führen ihre Kinder im Linsen-
Park aus,wobei dieMütter meist didak-
tische Absichten verfolgen. Ein Büb-
chen inroten Hosenetwa tor kelt wie-
der und wieder eineTreppe hinab – ge-
führt,gehoben und geschoben von seiner
Mama. DieVäter machen es sich meist
einfacher, sie drücken denTöchtern ihr
Mobiltelefon in die Hand. EinigePapas
sind allerdings mit ihren Söhnen auch
in akkurat aufeinander abgestimmten
Trainingsanzügen unterwegs. Stolz tra-
ben sie mit ihrer Nachkommenschaft als
genetisch selektionierte Minimannschaft
du rch denPark.
Am Rand der zentralenWiese haben
sich Pflegerinnen aus Indonesien ver-
sammelt.Sieführen alteTaiwaner in den
Park aus. Ihre Patienten sitzen inRoll-
stühlen,manche schlafen,andere starren
mit weit aufgerissenenAugen in dieWelt
hinaus. Schwer zu sagen,wo sie sich wäh-
nen ,wer sie glaubenzusein,was sie von
ih rer Umgebung mitbekommen. Lustig
haben sie es auf jedenFall nicht.Ihre Be-
treuerinnen hingegen unterhalten sich
bestens, sie plaudern, lachen herzhaft,
schieben sich immer wieder Brötchen,
Kuchen,Kekse, süsseFrüchte in den
Mund und verwandeln das Mäuerchen,
um das sie sich geschart haben, so in die
Ecke eines quirligen Quartiermarktes in
Jakarta oder Denpasar. Einigevon ihnen
tragen einen Hijab, was man inTaiwan
sonst nur selten sieht.
Auch eine jungeTaiwanerin hat ihre
Patientin in denPark geschoben, den
Rollstuhl aber in einiger Distanz zu denlachendenFrauenparkiert.Das dürre
Mütterchen in dem Stuhl scheint durch-
aus mitzubekommen, was um es her ge-
schieht.Trotzdem haben sich die beiden
offenbar nichts zusagen.Währenddas
Mädchen ohne Unterlass sein Smart-
phone bedient, schaut die Alte leicht ge-
langweilt einem jungen Mann zu,der mit
seinenFüssen virtuos einenBall durch
die Luft dirigiert.Wurde da eine Enkelin
dazu verknurrt, ihre Grossmutter in den
Park auszuführen? Plötzlich verstehe ich,
was mich an der altenDame so irritiert:
Man sieht heute nur noch selten Men-
schen, die nicht mit dem Smartphone
gegen die Leere anbrowsen.
Brausend, wenn auch nur in Bronze,
ist gleich nebenan auchYue Fei (1103 bis
1142) unterwegs: Mit entschlossen aus-
gestrecktem Schwertreitet der populäre
Held und Kampfkünstler der Song-Zeit
voran, den Blick geradeaus gerichtet, die
Zügel fest im Griff. Sein Umhang flat-
tert wild imWind. Waser in denAugen
der Stadtbehörde wohl alles in denPark
ausführt? «Gebt mir Flüsse und Berge
zurück», so wird er auf dem schwarzen
Granitsockel zitiert.Auf derRückseite
des Blocks strecken sich Pflanzen in die
Höhe, die wie Staubwedel oder Inter-
dentalbürstchen aussehen.«Die ne dei-
nemLand mit grenzenloser Loyalität»,
hatte sich der General auf denRücken
tätowieren lassen. Und prompt wurde er
nach einem Leben voller Heldentaten
von ein paar selbstsüchtigen Machtstra-
tegen zu Unrecht hingerichtet, was ihn
vollends zum Star werden liess.Wenn
er heute dennoch nicht zu den offiziel-
len Nationalhelden Chinas zählt, dann
deshalb, weil er auch Schlachten gegen
Völker führte,die unterdessenzurVolks-
republik gehören.Auch der Namens-
geber desParks, Lin Sen, der von 1931bis 1943 Staatsoberhaupt derRepublik
China war,gehört auf demFestland nicht
zu den Heroen, ja in MaosReich war er
gar als Antikommunist verschrien. So
führen diese zwei Herren in demPark
ziemlich deutlich aus, wie sichTaiwan
gegenüber der Geschichte positioniert- es kommt eben immer daraufan, wen
man wo auf den Sockel stellt.
Manchandere Herren führen bloss
ihreTräume aus in denPark und haben
es sich aufBänken und Mäuerchen be-
quem gemacht.Da und dort schnaubt,
schnattert,schnurrt und schnarrt es unter
den Bäumen, als mache sich da die An-
strengung einer ganzen Arbeitswoche
endlich Luft.
Und mancheDamen führen ihren
Geist in denPark, um ihn zu beruhigen.
Unte r einerRotfeige etwa sitzt eineFrau
in einem karminfarbenen Shirt. Sie hat
die Hände auf dieWurzeln des gewalti-
gen Baumesgelegt,die um sie herum wie
Adern aus der Erde quellen. IhreAugen
sind geschlossen.Vor ihr steht ein japa-
nischesTorii, ein Eingangstor, aus Stein.
Ich frage mich,was die Frau wohl spürt,
denn in dieser Ecke des Parks war einst
Akashi Motojiro (1864–1919) begra-
ben, ein japanischer Spion, dem man
in seiner Heimat zahlreiche Helden-
taten nachsagt – und nacherfindet, wie
endloseRomane und Mangas illustrie-
ren,deren strahlender Held er ist.Plötz-
lich taucht ein goldener Pudel zwischen
den Beinen derFrau auf und blickt in
meine Richtung. Sekunden später dreht
auch sie sich zu mir um, wirft mir einen
scharfen Blick zu.Und in ebendiesem
Moment sticht mich etwas in denFuss.
Eine Mücke, das Schwert von Oberst
Akashi – oder ein verlorener Gedanke
aus dem Gedicht von ChinS. Li?
SAMUEL HERZOG
Da und dort schnaubt, schnattert,
schnurrt und schnarrt es
unter den Bäumen, als mac he sich
die Anstrengung ei ner ganzen
Arbeitswoche endlich Luft.
BILDERSAMUEL HERZOG20 Kilometer NZZ Visuals/cke.Linsen-ParkCHINATaipehTAIWAN