Die Zeit - 17.10.2019

(Kiana) #1

DIE ZEIT


WOCHENZEITUNG FÜR POLITIK WIRTSCHAFT WISSEN UND KULTUR


WAHLEN IN POLEN KRIEG IN SYRIEN

Deutschlands Nachbar rückt weiter
nach rechts VON ADAM SOBOCZYNSKI

Erdoğans Truppen greifen die Kurden an, und die Europäer


schauen zu. Haben sie Außenpolitik verlernt? VON ÖZLEM TOPÇ U


Die Katastrophe


von nebenan


Die Tatenlosen


D


ie Polen haben der PiS (»Recht
und Gerechtigkeit«) mit dem
Rekordergebnis von fast 44 Pro-
zent wieder zur absoluten Mehr-
heit im Parlament verholfen, jener
Partei, die das Justizsystem demolierte, die das
öffentlich-rechtliche Fernsehen zu Propaganda-
sendern umbaute, die Wahlkampf auf Kosten
sexueller Minderheiten führte. Unmittelbar vor
der Wahl, auf dem Höhepunkt der Kampagne,
wurde in einer sogenannten Reportage des Staats-
fernsehens vor einer »LGBT-Invasion« gewarnt.
Darauf muss man erst mal kommen.
Es fehlt vielen Polen-Verstehern noch immer
eine Vorstellung vom Ausmaß der Perfidie, mit
der westliche Werte und demokratische Um-
gangsformen beseitigt werden. Es stimmt ja: Die
PiS hat mit einer Ausweitung der Sozialstaatsaus-
gaben eine angemessene Antwort auf die neolibe-
rale Rosskur der Wirtschaft gefunden. Dafür
wurde sie belohnt. Aber dazu hätte es keiner
Schleifung der Gerichte und keines Ausländer-
oder Schwulenhasses bedurft. Der Erfolg der PiS
lässt sich eben nicht wirtschaftspolitisch allein
erklären: Es kommt das Gift einer autoritären
Weltanschauung hinzu, die den historisch begreif-
baren Opferkult mit irrer Leidenschaft bedient.
Weitere »Reformen« des Gerichtswesens sind
geplant. Dass auch die Freiheit der privaten Me-
dien, zumeist in ausländischem Besitz, einge-
schränkt werden soll, wird zu Recht befürchtet.
Im Parlament wird mit sieben Prozent auch
die Partei Konfederacja von Janusz Korwin-Mik-
ke sitzen, von dem man nicht genau weiß, ob er
Faschist, Monarchist oder ein Libertärer ist oder
alles zugleich – in jedem Fall ist er der Ansicht,
dass Frauen etwa sechs IQ-Punkte dümmer seien
als Männer und deshalb nicht wählen sollten. Auf
diesem Niveau sind Teile der polnischen Politik
mittlerweile angelangt. Es ist zum Fremdschämen.
Keine Kindergelderhöhung der Welt ist es
wert, den Liberalismus zu opfern. Es hilft nur
noch vehementer politischer Widerspruch, das
Vorantreiben des EU-Rechtsstaatsverfahrens und
der zarte Hinweis darauf, dass sich die boomende
polnische Wirtschaft in allergrößter Abhängigkeit
zur deutschen befindet. Nachgiebigkeit wäre ein
Verrat am weltoffenen Polen, das in den Städten
verzweifelt, ein Verrat an den Liberalen, an den
menschenfreundlich Konservativen und den
Linken, die den Populismus verteufeln. Sie brau-
chen mehr denn je unsere Unterstützung.

D


ie Außenpolitik eines Landes
stärkt im besten Fall die in ter-
natio na len Beziehungen. Im
schlimmsten Fall richtet sie
Chaos an – keine Außenpolitik
zu betreiben hat aber denselben Effekt: Der
amerikanische Präsident gab der Türkei zuerst
grünes Licht für ihren lange geplanten Einmarsch
in Syrien – das Land wolle seinen Grenzstreifen
von Terroristen befreien und eine »Sicherheits-
zone« schaffen, in die syrische Flüchtlinge aus
der Türkei umgesiedelt werden könnten –, um
nur Tage danach dem Land mit wirtschaftlicher
Zerstörung zu drohen, wenn es »zu weit« gehe.
Die Kurden, die eigentlich Autonomie anstreben
und die wichtigste Bodentruppe des Westens
gegen den IS waren, verbünden sich nun mit
Präsident Assad – und damit auch mit dem
russischen Präsidenten Putin. Schließlich: Keiner
will Flüchtlinge, die Türkei nicht, die Europäer
nicht, die Amerikaner nicht. Aber alle bringen
gerade neue Flüchtlinge hervor. Das ist der Stand
der Dinge, und er ist mit dem Wort Chaos noch
milde umschrieben.
Was aber ist die Antwort der Europäer auf
diese Lage? Nun, man verurteilt den Ein-
marsch, man fordert, ihn unverzüglich zu
stoppen, man denkt über ein Waffenembargo
nach, das man dann aber doch nicht so einfach
beschließen kann.
Wenig Außenpolitik aus Brüssel. Und noch
weniger aus Berlin: Dort macht man sich Sor-
gen und verurteilt. Aufs Schärfste. Kanzlerin
Merkel sehe, so heißt es, die Sicherheitsinteres-
sen der Türkei, appelliert auch, den Einsatz zu
be enden, denn »diese Ope ra tion droht ganz
offensichtlich größere Teile der lokalen Bevöl-
kerung zu vertreiben«. Deutschland appelliert.
Das ist gut, aber keine Außenpolitik.
Offensichtlich weiß weder die EU noch
Deutschland mit dem türkischen Präsidenten
umzugehen, und dies aus einem ebenso einfa-
chen wie beunruhigenden Grund: Erdoğan hat
viele Handlungsoptionen, während Europa
und Deutschland vor allem eines haben – Angst
vor den Flüchtlingen. Diese droht Erdoğan bei
einem »Fehlverhalten« loszuschicken.
Doch hinter dieser »kleinen« Erpressbarkeit
steckt eine strategische Erpressbarkeit. Die
Amerikaner ziehen sich aus Syrien zurück und
wollen die zurückbleibenden Mächte die Sache
bis zur allgemeinen Erschöpfung ausfechten

lassen. In das Machtvakuum treten die Russen.
Nicht dass Putin ein verschärftes Interesse an
einer gedeihlichen Zukunft der Region hätte,
eher geht er in Syrien und bei Assad vor wie bei
Monopoly: Man kauft die Badstraße und die
Turmstraße, die eigentlich keiner haben will,
weil sie nicht viel wert sind. Aber wer weiß,
vielleicht braucht man sie irgendwann doch. So
könnte Putin auf die Idee kommen, zu sagen:
Ich wirke auf Erdoğan ein, dafür kommt ihr
mir in der Ukraine entgegen. Oder aber: Liebe
Europäer, ich sitze jetzt an der geostrategischen
Brücke zwischen Europa und Afrika, was habt
ihr mir zu bieten?
Man muss sich das vor Augen führen: Die
Macht im Mittleren Osten hat die Farbe gewech-
selt. Und diese Farbe ist nicht Blau mit gelben
Sternen. Sind Brüssel, Paris und Berlin tatsäch-
lich dazu verdammt, untätig zu bleiben? Haben
sie keine Außenpolitik, oder ist gar keine mög-
lich? Die Europäer haben aus Trägheit und
Gewohnheit zu lange darauf gehofft, dass die
USA die Sache doch noch regeln, so wurde wert-
volle Zeit verplempert. Vielleicht wäre es jetzt
geboten, sich den Rückzug der USA als eine
strategische Tatsache vorzustellen und nicht als
eine Verwirrung, die vorbei ist, wenn Trump
abgewählt wird.
Und die Türkei sollte nicht länger Abspiel-
fläche russischer Interessen und amerikanischer
Befehle sein, sondern strategischer Partner – und
Gegner der Europäer. Geht das denn: Gegner und
Partner zugleich? Ja, genau aus solchen Wider-
sprüchen besteht doch Außenpolitik. Gegner-
schaft bedeutet nicht Feindschaft.
Für den Anfang könnte man sich aus der
Angststarre befreien und die Erpressbarkeit
durch Erdoğan hinterfragen. Wie sollte das
denn vonstattengehen, Millionen von Flücht-
lingen nach Europa zu »schicken«, ganz prak-
tisch, also logistisch? Und warum hat es der
türkische Präsident bislang nicht versucht?
Weil er damit seine wichtigste Waffe gegen-
über Brüssel verlieren würde.
Deshalb wäre der logische und drängende
Schritt für die europäischen Politiker, sich in
die Lage zu versetzen, aus der heraus man
sagen könnte: Dann schick sie doch, in Got-
tes Namen. Wir sind vorbereitet.
Er wird es nicht tun.

A http://www.zeit.deeaudio

Verehrt und


verdammt


Die Auszeichnung spaltet die literarische Welt –


die einen halten Handke für einen Zauberer


der Sprache, die anderen für einen Verfälscher


von Geschichte. Was wird ihm gerecht?


Dazu: Iris Radisch über die


Nobelpreisträgerin Olga Tokarczuk


FEUILLETON

Nobelpreisträger


Peter Handke


Trauer u nd


Auf bruch


Mein Körper!?


Ein persönliches


Gespräch mit


Greta Thunberg
Politik, Seite 8

Impfen, abtreiben,


Organe spenden:


Wozu darf der Staat


die Bürger zwingen


und was kann


er ihnen verbieten?
Wissen, Seite 43–

Die Deutsche Gesellschaft für My-
kologie hat die Stinkmorchel zum
Pilz des Jahres 2020 gewählt. Ne-
ben dem Aasgeruch seien die »ei-
nem männlichen Begattungsorgan
ähnelnden Fruchtkörper« auffällig,
so die Pilzkundler. Sollen wir sol-
che Organe hegen oder meiden?
Lieber erinnern wir uns der Be-
cherkoralle (2015) oder des Rötel-
ritterlings (2013). Die Wahl ver-
heißt nichts Gutes für 2020. GRN.

Pilz des Jahres


PROMINENT IGNORIERT

Kl. Bilder (v. o.): Tom Jamieson/The New York
Times//Redux/laif; Ingo Schulz/Imagebroker

PREIS DEUTSCHLAND 5,50 € 17. OKTOBER 2019 No 43

JUGEND 2019

Sollen die Jungen Nachsicht mit den
Alten haben? VON MAXIMILIAN PROBST

Zeit der reinen


Ve r n u n f t


J


e brenzliger die Lage, desto vernünftiger
die Jugendlichen. Zu diesem Ergebnis
kommt die Shell-Jugendstudie, die seit
1953 alle vier Jahre erhoben wird. Zwar
ist die Anfälligkeit der Jugend für popu-
listische Parolen leicht gestiegen. Aber trotz der
Pöbeleien im Netz und der Polarisierung in den
Me dien in den vergangenen Jahren dominieren
die positiven Entwicklungen.
Ob Ost oder West, Junge oder Mädchen,
Migrationshintergrund oder nicht – die Ein-
stellungen deutscher Jugendlicher zwischen
12 und 25 Jahren gleichen sich an. Sie sind
für Europa, interessieren sich für Politik, und
Umwelt und Klima treiben sie am stärksten
um. Ach ja, pragmatisch sind sie auch noch.
Die Frage ist nur: Wie lange noch? Denn
angesichts der eigenen Vernunft kann ihnen das
Treiben der Älteren (Trump, Brexit, Merkels
lahme Klimapolitik) nur umso schräger vor-
kommen. Dass Kinder seit je viel Geduld mit
Erwachsenen haben müssen, ist hier kein Trost:
Binnen elf Jahren, sagen die Klimawissenschaft-
ler, muss fundamental umgesteuert werden.
Nichts wäre in dieser Situation also kurz-
sichtiger, als einen Generationenkonflikt vom
Zaun zu brechen. Die Jugend kann ihre Agen-
da nicht gegen die älteren Generationen
durchsetzen, nur mit ihnen. Wobei ihr hilft,
dass die Klimakrise längst da ist, und die ersten
Opfer, das sind die Alten. Sie können sich am
schwersten auf die Veränderungen einstellen,
die mit steigenden Temperaturen ins Haus
stehen. Bei der nächsten Hitzewelle springen
die Jungen ins Meer – immer mehr Alte erlei-
den einen Infarkt.
Es gibt keine Gnade der frühen Geburt.
Wenn also die junge Ge ne ra tion weniger ihre
eigene Betroffenheit im Blick hat und das
Schicksal aller betrachtet, dann tun sich die
Alten womöglich leichter, sich in der Jugend
zu erkennen.
Schließlich haben die Älteren die Schulen und
Universitäten geprägt, aus denen die jungen
Leute hervorgehen. Die wohl vernünftigste Ge-
ne ra tion aller Zeiten ist auch das Werk derer, die
heute über 50 sind. Das könnte man feiern. Um
dann gemeinsam Rahmenbedingungen zu schaf-
fen, die auch die großen Verursacher der Klima-
krise, Unternehmen wie Shell, dazu bringen, die
Belange der Jugend umzusetzen, statt bloß sym-
pathische Stu dien über sie anzufertigen.

Ihre Reise


Wie die jüdische


Gemeinde den


Anschlag von Halle


verarbeitet
Dossier, Seite 17

Titelfoto: Laura Stevens/Camera Press/laif

PREISE IM AUSLAND:
DK 58,00eFIN 8,00eE 6,80e
CAN 7,30eF 6,80eNL 6,00e
A 5,70eCH 7.90eI 6,80eGR 7,30e
B 6,00eP 7,10eL 6,00eH 2560,

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