Die Zeit - 17.10.2019

(Kiana) #1

Verschont und doch getroffen


Die Jüdische Gemeinde von Halle war das eigentliche Ziel des Anschlags. Wer sind die Menschen, die knapp entkamen? Wie verändern die


Ereignisse ihr Leben und ihre Gemeinschaft? VON MOHAMED AMJAHID, MARTIN MACHOWECZ UND JOSA MANIA-SCHLEGEL; FOTOS: PAULA WINKLER


Der Holocaust-Überlebende
Es gibt nur einen in der Gemeinde, der sich noch
daran erinnern kann, wie das war, als in Halle
schon einmal der Terror gegen Juden wütete.
Max Schwab ging 1938 in die erste Klasse, zu-
sammen mit seinem Zwillingsbruder, »wir waren die
Klassenbesten«, sagt der alte Mann.
Am Einschulungstag, dem 20. April 1938, habe
die Lehrerin gefragt, welcher besondere Tag heute
sei, und keiner der anderen, der nichtjüdischen
Schüler habe es gewusst, anders als er und sein Bru-
der. Der Geburtstag des »Führers«.
Brave, gute Schüler waren die Zwillinge. Trotz-
dem mussten sie ihre Schule am 10. November 1938
verlassen, am Morgen nach den Pogromen. Es war
derselbe Morgen, an dem ihr Vater zusammen mit
123 anderen Männern nach Buchenwald gebracht
wurde. Er starb im Vernichtungslager Auschwitz.
81 Jahre nach jener Nacht, in der in Halle die
Synagoge niederbrannte und jüdische Geschäfte und
Wohnungen geplündert wurden, zwei Tage nachdem
ein 27-jähriger Attentäter versuchte, während der
Jom-Kippur-Feier in die neue Synagoge einzudringen,
sitzt Max Schwab in seinem Wohnzimmer und
schweigt mehr, als dass er erzählt. Schwab ist ein
schmaler Mann, er trägt einen viel zu großen Pullover,
der vermuten lässt, dass er einmal mehr wog. Er, einst
Professor für Geologie, kann heute nur mühsam
sprechen – das Alter, die Erschütterung. Seine Frau
Jutta, 85, zwei Jahre jünger als er, und der Sohn führen
seine Sätze fort, erklären und ergänzen, was er sagt.
Am Tag des Anschlags, gegen Mittag, rief Tobias,
der Sohn, bei Jutta und Max Schwab an: Seid ihr in
Sicherheit? Geht nicht vor die Tür! Es soll jemand
mit einer Waffe unterwegs sein.
Draußen waren die Straßen menschenleer, es war
wie damals im Krieg, beim Bombenalarm, sagt Jutta
Schwab. Über ihren Mann sagt sie: »Er saß vor dem
Fernseher und sprach kein Wort.« Er schaut sie an
und sagt: »Ich habe alles verfolgt.«


Am Tag zuvor noch war Max Schwab in der Sy-
nagoge gewesen. »Ich habe meinen festen Platz in der
Gemeinde«, sagt er. Die erste Bank am Eingang,
vierter Sitz. Drei Stunden Gebete am Vorabend von
Jom Kippur, von 18 bis 21 Uhr. Eigentlich wollte
Max Schwab am Mittwochmorgen wieder in die
Synagoge, aber er war zu erschöpft.
Um Menschen wie Max Schwab soll es hier gehen,
nicht um den Täter: um die Jüdische Gemeinde von
Halle, von deren Existenz viele in der Stadt erst so
recht erfahren haben, als in den Medien über das
Attentat berichtet wurde. 550 Menschen, die in
Halle gemeinsam feiern, beten und leben. Max
Schwab ist der Einzige der 550, der schon zur NS-
Zeit in Halle lebte. Die anderen sind, ausschließlich,
jüdische Ost euro päer, Menschen aus der früheren
Sow jet union, und ihre Kinder. Manche von ihnen
wollen lieber nicht auffallen, andere wünschen sich,
dass die Gesellschaft mehr Notiz von ihnen nimmt.
Wie wird das Erlebte ihre Gemeinschaft verändern?

Der Vorbeter
Der schlimmste Moment, sagt Roman Yossel Re-
mis – der schlimmste Moment war, als die Passan-
tin erschossen wurde. Er sah es über den Monitor
der Überwachungskamera, die auf die Straße vor
der Synagoge gerichtet ist.
Remis, 31 Jahre alt, ein Mann mit akkurat rasier-
tem Vollbart, spricht so schnell, als sei jeder Tag zu
kurz. Er ist in Vilnius, Litauen, geboren und lebt in
Berlin, aber er kommt dreimal pro Monat nach
Halle, in die kleine Gemeinde, die sich ihren Rabbi-
ner mit einer anderen Gemeinde teilt und deshalb
zusätzlich ihn als Vorbeter engagiert hat. Normaler-
weise schläft Remis im Gästezimmer der Synagoge.
Heute, an Tag zwei nach dem Anschlag, ist dort aber
zu viel los. Deshalb hat sich Remis in einem Hotel in
der Innenstadt von Halle einquartiert. Mit einer
Basecap auf dem Kopf sitzt er im Frühstücksraum.
Unter der Basecap trägt er die Kippa. Die zeige er in

der Öffentlichkeit nicht, sagt er, »ich mag dieses
Gegaffe nicht, alle gucken: Och, das ist ja ein Jude.«
Remis will Normalität. Mit Kippa gebe es die nicht.
Die Frage ist, was Normalität bedeutet für ein
jüdisches Leben in Deutschland 2019. Es ist die
Frage, auf die sie alle nun nach einer Antwort suchen.
Remis stand in festlicher Kleidung, den Kopf
unter dem Tallit, einer Art Kutte, in der Synagoge
und las aus der Thora, als er draußen eine Explosion
hörte, wie von einem Böller: Einer der selbst ge-
bauten Sprengsätze, der Attentäter hatte ihn über
die Mauer geworfen, aber das wusste Remis in die-
sem Moment noch nicht. Die gesamte Gemeinde
schaute zur Tür, wo ihr Wachmann auf einem Stuhl
saß, neben dem Bildschirm der Überwachungskame-
ra. Auf dem Monitor sahen sie einen Mann, der sich
auf sie zubewegte, in Kampfmontur.
Remis schickte die Gemeinde ins Obergeschoss.
»Bleibt geduckt, legt euch oben auf den Fußboden!«,
habe er auf Russisch und auf Englisch gerufen.
»Schaut nicht hoch!«
Remis organisiert oft Ferienlager für jüdische
Kinder. Sicherheitsschulungen sind da obligatorisch,
auch das ist Teil des jüdischen Alltags. Deshalb kennt
Remis die wichtigsten Regeln: Bei einer Explosion
nicht rausrennen, sondern runter auf den Boden,
weg vom Fenster, Ruhe bewahren!
Die kleine Gruppe, die an der Kamera bleibt, sieht
indes alles: wie der Attentäter versucht, die Tür zu
öffnen, wie er mehrfach dagegenschießt, die Tür aber
nicht aufbekommt, wie er wütend auf eine Passantin
schießt – die 40-jährige Jana L., wie sich später he-
rausstellen wird, eines von zwei Todesopfern dieses
Tages. Remis und die anderen fangen an, mit Stühlen
die Türen der Synagoge zu verrammeln. Dann sehen
sie, wie der Angreifer in sein Auto steigt und wegfährt.
Sie wissen nicht, ob er wiederkommt, ob er nach
einem anderen Eingang sucht, ob er aufgegeben hat.
Quälend lange Minuten warten sie auf die Polizei.
In diesen Minuten, die wie Stunden gewesen seien,

habe die Sonne in die Synagoge geschienen, so er-
innert Remis sich. Als sei dies ein schöner Tag.
Als die Polizei eintrifft: Entwarnung. Es bestehe
keine unmittelbare Gefahr mehr. Raus dürfen sie
trotzdem nicht. Solange draußen, im Garten, nach
möglichen Sprengfallen gesucht wird, beten sie drin-
nen also weiter, immer weiter.
Remis hat nachgedacht. Er glaubt, es war Fügung,
dass die Gemeinde überlebt hat, ein Wunder von
Gott, genau genommen: mehrere Wunder.
Das Wunder, dass Lisa, die ältere Dame, die zur
Mittagszeit kommen wollte, zu Hause plötzlich
Krämpfe bekam, weshalb sie dem Attentäter nicht in
die Arme lief.
Das Wunder, dass der Täter sich genau im Sicht-
feld der Kamera aufhielt – »hätten wir nur den Knall
gehört, aber nichts gesehen, vielleicht wären wir raus-
gegangen, um zu schauen«, sagt Remis.
Das Wunder, dass der Täter nicht auf den Ge-
danken kam, die niedrige Mauer um die Synagoge
mit einer Leiter zu überwinden, dass ihm überhaupt
nichts einfiel, außer mit seinen selbst gebauten Waf-
fen auf eine Holztür zu schießen.
Das Wunder, dass die Tür gehalten hat.
So wurde die Gemeinde von Halle getroffen und
doch verschont.
Remis sagt, er liebe diese Gemeinde. Eine der
kleineren in Deutschland, eine der familiärsten auch.
Sie organisiere mehr Veranstaltungen, Kurse, Aus-
flüge als viele Großgemeinden. Seniorentanzkurse,
Jiddisch-Clubs, EDV-Kurse, Gesprächskreise. In der
Gruppe sprechen alle Russisch mit ein an der – nur
wenn der alte Herr Schwab kommt, wird für ihn
extra übersetzt. Viele seien un ter ein an der verwandt
oder mit ein an der verschwägert, sagt Remis, jeder
wisse, wo der andere gerade sei. Die Gemeinde sei,
wegen der vielen Einwanderer, ein bisschen konser-
vativer als andere. »Die Einwanderer aus der ehema-
ligen Sow jet union neigen zu eher konservativen Mei-
nungen. Sie wünschen sich einen Rabbiner mit Bart«,

sagt Remis. In Halle beten Männer und Frauen ge-
trennt von ein an der.
Ein aus Litauen stammender Vorbeter, russisch-
sprachige Gemeindemitglieder, dazu die Gäste aus
Berlin, von denen viele Amerikaner sind, während
andere aus Polen, Österreich und Großbritannien
kommen – die Internationalität ist typisch für das
Leben der jüdischen Gemeinden in Deutschland. Es
sind junge Gemeinden, viele entstanden erst in den
Neunzigerjahren, als nach dem Mauerfall zahlreiche
Juden aus der Sow jet union emigrierten – nach Israel
und in die USA, aber eben auch ins Land der einstigen
Täter, nach Deutschland. Hier gab es Ende der Acht-
zigerjahre gerade noch 30.000 jüdische Gemeinde-
mitglieder, viele von ihnen schon alt. 1990 erlaubte
die Bundesrepublik Juden und Menschen mit jüdi-
schen Vorfahren aus der Sow jet union und ihren
Nachfolgestaaten, nach Deutschland überzusiedeln.
Heute gibt es in Deutschland etwa 100.000 Mit-
glieder jüdischer Gemeinden – etwa 75 Prozent von
ihnen sind Zuwanderer aus der früheren Sow jet union.
Wären sie nicht gekommen, existierten heute bloß in
Großstädten noch jüdische Gemeinden. Auch in
Halle gibt es erst dank der Zuwanderer wieder eine.
Die Gäste aus Berlin kamen am Tag vor Jom
Kippur in Halle an. Remis erinnert sich, dass sie
fragten, wieso an der Synagoge in Halle keine Polizei
stehe. »Zu den Gästen habe ich noch gesagt: Das ist
Halle. You know, it’s safe out side. Es ist sicher hier. Hier
brauchst du keine Polizei. Schau dir diese stille, ru-
hige Straße an.«

Der Gemeindevorsteher
Wer Max Pri vo roz ki besuchen möchte, muss
durch das große Friedhofstor, hinter dem die To-
ten der Jüdischen Gemeinde zu Halle aus vergan-
genen Jahrhunderten liegen. Nach 1940 wurde
nur ein Mensch hier begraben: die Mutter von

DOSSIER 17



  1. OKTOBER 2019 DIE ZEIT No 43


»Zu den Gästen habe ich


noch gesagt: Hier brauchst


du keine Polizei. Schau dir


diese stille, ruhige Straße an«


Roman Yossel Remis,
Vorbeter der Gemeinde

»Das Einzige, was mir


Hoffnung gegeben hat, war,


dass meine Tochter nicht in


der Synagoge war«


Jeremy Borovitz,
Rabbiner aus Berlin

»In der Schule trage ich den


Davidstern nicht. Weil dann


die Blicke kommen. Das will


ich vermeiden«


Manuela gehört zur ersten Generation
ihrer Gemeinde, die in Halle geboren ist

»Ich hoffe, dass die


Gemeindemitglieder


kommen, dass sie sich nicht


fürchten«


Max Privorozki,
Gemeindevorsteher

Die Holztür, auf die der Attentäter mit seiner selbst gebauten Waffe schoss – sie hielt

Fortsetzung S. 18
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