Die Zeit - 17.10.2019

(Kiana) #1

Max Schwab, gestorben 1986, weshalb Max Schwab
einen Schlüssel für das Friedhofstor hat. Die meisten
Gräber aber besucht niemand mehr.
Nun also steht der Gemeindevorsteher Max Pri vo­
roz ki auf diesem fast verlassenen Friedhof, ein großer,
kräftiger Mann von 56 Jahren mit samtblauer Kippa,
der sagt, als Kind habe er in der Bäckerei seines Vaters in
Kiew zu viele Pralinen genascht. Er lacht laut und brum­
mend. Seinen Humor hat er nicht verloren.
Ein Gemeindevorsteher ist so etwas wie der Ge­
schäftsführer und die gute Seele zugleich. Der Rabbiner
mag die geistliche Instanz sein: Pri vo roz ki ist die welt­
liche, seit zwei Jahrzehnten. Nach dem Anschlag hat er
Kamerateams aus der ganzen Welt empfangen. Den
Bundespräsidenten, den Innenminister, den Minister­
präsidenten. Und vielleicht hat Pri vo roz ki auch auf eine
etwas weltlichere Art mit dem Wunder zu tun, an das
der Vorbeter glaubt.
Es ist ein paar Jahre her, dass Pri vo roz ki einen Mann
aus Israel empfing, eine Plakette im Vorraum erinnert
daran. Darauf steht ein Name: Jewish Agency for Israel.
Die Agency, in Jerusalem beheimatet, berät Synago­
gen auf der ganzen Welt. Ihr Vertreter habe ihm, Pri vo­
roz ki, allerlei Vorkehrungen empfohlen, nicht nur eine
Videokamera und eine besondere Tür. Die Gemeinde
konnte gar nicht alles umsetzen, viel zu teuer. 13.
Dollar habe er aus Israel und Amerika erhalten, sagt Pri­
vo roz ki, damit habe man weniger als die Hälfte der
Schutzmaßnahmen bezahlen können. Den Rest habe
die Jüdische Gemeinde selbst aufgebracht. Vom Bundes­
land Sachsen­Anhalt oder von der deutschen Regierung
habe es keinen Cent gegeben.
Er werde jetzt oft gefragt, sagt Pri vo roz ki, was denn
so besonders an der Holztür sei. Er werde das nicht ver­
raten, aber: »Diese Tür ist nicht einfach eine Tür. Es ist
eine Frage des Materials.«
Unzählige Male ist er in den vergangenen Tagen an
der Tür vorbeigegangen. Pri vo roz ki hat die Einschuss­
löcher betrachtet, er hat festgestellt, dass eine Kugel die
Tür offenbar durchschlagen konnte. Er hat mit dem
Finger die Holzsplitter betastet.
Auch Pri vo roz ki ist zugewandert. Er kam 1990 aus
Kiew nach Deutschland: »Bis vor einigen Jahren«, sagt
er, »stand Kiew auf Platz eins der Herkunftsorte unserer
Gemeindemitglieder.« Heute steht Halle auf Platz eins



  • die Zuwanderer haben inzwischen Kinder bekommen.
    Pri vo roz kis Urgroßmutter wurde 1941 von der Wehr­
    macht in der Schlucht von Babyn Jar exekutiert, wie auch
    einige seiner Tanten. Diese Geschichte sei immer Teil
    seines Lebens gewesen.
    Pri vo roz ki studierte Mathematik, bekam mit seiner
    Frau eine Tochter, entschied sich zur Ausreise, noch ehe
    die Sow jet union zusammenbrach. In Deutschland kam
    er in ein Aufnahmewohnheim im kleinen Ort Helbra
    bei Eisleben – in jenem Ort, in dem, nur ein paar Jahre
    später, jener Mann aufwuchs, der jetzt Pri vo roz kis Sy­
    nagoge angegriffen hat. »Mein Gott«, sagt Pri vo roz ki,
    »ein Wahnsinn!« Auf einmal scheint er zu begreifen, wie
    nah ihm die Neo nazis die ganze Zeit lang waren.
    In Sachsen­Anhalt existiert eine lebendige rechts­
    extreme Szene. Der Verfassungsschutz geht davon aus,
    dass es in dem Bundesland 1300 Rechtsextremisten gibt
    und etwa 500 Reichsbürger. Die Identitäre Bewegung
    hat in Halle ein Wohnprojekt. Ebenfalls in Halle hetzt
    der Verschwörungstheoretiker Sven Liebich auf seinem
    You Tube­ Kanal gegen Flüchtlinge, Politiker – und Juden.
    Fragt man Max Pri vo roz ki nach eigenen Erfahrungen
    mit Anti semi tis mus, erzählt er – sehr vorsichtig – zwei
    Erlebnisse. Einmal habe es in der Nähe der Synagoge
    eine israelfeindliche Demonstration gegeben – von Sy­
    rern, Palästinensern, Libanesen. Ein anderes Mal sei er
    selbst von einem arabischen Mann vor der Synagoge als
    »Kindermörder« bezeichnet worden.
    Es ist ein neues Phänomen, vor dem sich die Gemein­
    den fürchten: importierter Anti semi tis mus.
    Das Leben als Jude in Deutschland kann sehr kom­
    pliziert sein. Es gibt Neonazis. Und es gibt eine Partei,
    deren Vertreter die NS­Zeit einen »Vogelschiss der Ge­
    schichte« nennen, das Holocaust­Mahnmal ein »Denk­
    mal der Schande«. Dieselbe Partei aber, die AfD, wirbt
    in jüdischen Senioreneinrichtungen für sich, sozusagen
    als Beschützerin vor importiertem Anti semi tis mus. Der
    Vorsitzende des Zentralrats der Juden ermahnte die
    Gemeinden in einem Rundschreiben, sie sollten sich
    nicht »von einer antimuslimischen, hetzerischen Rhe­
    torik der AfD umgarnen« lassen. Nach dem Anschlag
    von Halle beklagte die AfD, dass es für die Juden nicht
    genügend Schutz gegeben habe – diesen Beistand findet
    Pri vo roz ki absurd. Der radikale Flügel der AfD sorge mit
    für ein Klima, das den Anschlag ermöglichte.
    Überall Feinde und falsche Freunde – wo findet man
    die richtigen?


Die Abiturientin
Nur ein paar Schritte von Max Pri vo roz ki entfernt
sitzt, auf einem Klappstuhl vor der Synagoge, eine
junge Frau von 18 Jahren, Manuela. Von anderen
Abiturientinnen dieser Stadt unterscheidet sie sich
nicht. Oder doch? An ihrem Hals hängt eine goldene
Kette mit einem Davidstern. Die Kette trägt sie heu­
te, weil sie zur Synagoge geht. »In der Schule trage ich
den Davidstern oft nicht. Weil dann Blicke kommen.
Das will ich vermeiden.«
Es ist, natürlich, etwas Besonderes, in Halle jüdisch
zu sein. Nur 0,3 Prozent der Bevölkerung dieser Stadt
sind jüdisch, und von 240.000 Einwohnern in Halle
sind 200.000 ganz unreligiös. Jeder, der gläubig ist, fällt
auf. Und ein Jude ganz besonders.
Wenn sie ehrlich sei, sagt Manuela, hänge sie ihre
Religion lieber nicht an die große Glocke. Es wäre ihr
auch lieber, wenn ihr Nachname nicht in der Zeitung
stünde. Hat sie schlechte Erfahrungen gemacht? Ein
Mitschüler, mit dem sie sogar ein bisschen befreundet
gewesen sei, der aber nichts von ihrem Glauben gewusst
habe, habe Sprüche gegen Juden gebracht. »Ich habe ihm
ziemlich klar die Meinung gesagt. Danach redete er nicht
mehr so.« Die Freundschaft be ende te sie trotzdem.
Viele Wochenenden verbringt sie mit den anderen
Jugendlichen aus der Gemeinde. Sie machen »Shabba­
tons«, das heißt: Sie fahren gemeinsam weg, um Shabbat
zu feiern, über ihre Religion zu sprechen und Spaß zu
haben. Diese Ausflüge seien völlig anders als die mit dem


18 DOSSIER


Gymnasium. Man ernte komische Blicke, weil manche
Jungs Kippa tragen und wegen der Sicherheitsleute.
»Man fühlt sich dann unwohl, komisch«, sagt Manuela.
Manuela gehört zur ersten Generation in der Jüdi­
schen Gemeinde, die hier geboren ist, in Halle. Der
ersten, deren Muttersprache nicht nur Russisch ist,
sondern auch Deutsch. Die Großmutter und Mutter
sind noch vor Manuelas Geburt nach Halle gezogen. In
der Ukraine hätten mehrere Familienmitglieder sich
früher ein Zimmerchen geteilt. Heute sei ihre Familie
froh darüber, in einer Wohnung zu leben, in der jeder
sein eigenes Zimmer hat.
Nach dem Attentat hat die Mutter des Täters, eine
Lehrerin, in einem Interview mit Spiegel TV gesagt, ihr
Sohn habe »nichts gegen Juden in dem Sinne« gehabt,
sondern: »Er hat was gegen die Leute, die hinter der fi­
nanziellen Macht stehen – wer hat das nicht?«
Abgesehen davon, wie grundsätzlich absurd der Satz
ist – noch absurder ist er mit Blick auf die Jüdische Ge­
meinde in Halle: Deren Mitglieder sind weit von irgend­
welchen finanziellen Mächten entfernt, wie viele, die aus
der einstigen Sow jet union eingewandert sind, die sich
mühsam integriert, eine neue Sprache gelernt, sich oft
auf dem Arbeitsmarkt eher durchgeschlagen haben.
Manuela kommt nicht aus der Schicht, die sich der
Attentäter herbeifantasiert hatte. Sie ist das Kind einer
Lehrerin, genau wie der Attentäter auch.

Die Berliner Besuchergruppe
»You know, it’s safe out side.« Als Jeremy Borovitz den
Satz hörte, freute er sich. »Ich dachte, dass es etwas
Schönes ist, dass es keinen Polizeischutz braucht.«
Knapp 24 Stunden sind vergangen, seit er und seine
Frau Rebecca Blady dachten, dass sie ihre letzten Minu­
ten erlebten. Eben erst sind sie in ihrer Berliner Woh­
nung in einem ehemaligen Industriegebäude angekom­
men, in der offenen Küche stehen noch die Koffer. Ihre
Tochter, die gerade das Laufen gelernt hat, tollt mit ei­
nem Geschirrtuch durch das Wohnzimmer.
Jeremy Borovitz ist 32, Rebecca Blady 29 Jahre alt.
Blady sagt, sie sei so erschöpft, sie könne keinen geraden
Satz mehr formulieren. Auf Face book hat sie am Abend
zuvor geschrieben: »Wir haben es lebend nach draußen
geschafft, gesund und wohl auf – G­tt sei Dank!«
Rebecca Blady und Jeremy Borovitz sind beide Rab­
biner. Und sie halten sich streng an die Gebote der Ha­
lacha, der jüdischen Gesetze zur Lebensführung. Sie
schreiben zum Beispiel den Namen Gottes nie aus,
nehmen nur koschere Lebensmittel zu sich und halten
am Shabbat und an Feiertagen absolute Ruhe: keine
Arbeit, kein Konsum, keine Reisen, keine Elektronik.
In Notfällen erlaubt die Halacha Ausnahmen von
den strikten Regeln. Während also die Schüsse des An­
greifers fielen und die Gläubigen in der Synagoge um ihr
Leben bangten, schalteten sie ihre Handys ein – und
verabschiedeten sich von ihren Liebsten. Jeremy Borovitz
schrieb eine Nachricht an seine Familie in den USA.
Borovitz und Blady sind vor einem knappen halben
Jahr aus New York nach Berlin gezogen. Dort haben sie
die Initiative »Base Berlin« aufgebaut. In ihrem Wohn­
zimmer sitzen sie regelmäßig zusammen mit anderen
Berliner Jüdinnen und Juden. Sie singen dann, essen
oder diskutieren die heiligen Schriften. »Während man
den Menschen in New York das Judentum mühsam ver­
kaufen muss, warten Juden hier sehnsüchtig darauf,
gemeinsam etwas machen zu können«, sagt Borovitz.
Jeremy Borovitz und Rebecca Blady wollten das jüdische
Leben in Deutschland bereichern, fast hat sie dies ihr
eigenes Leben gekostet.
Dass die Gruppe rund um »Base Berlin« ausgerechnet
nach Halle gereist ist an Jom Kippur, hatte praktische
Gründe. Zwanzig Juden verschiedener Nationalitäten,
die fast alle in Berlin wohnen und mal raus aus der Groß­
stadt wollten. Halle schien der perfekte Ort zu sein: nur
eine Stunde Zugfahrt, ruhige Provinzstadt mit schöner
Synagoge. »Die Gemeinde hat uns mit offenen Armen
aufgenommen«, sagt Borovitz.
Jetzt sind sie alle eine Schicksalsgemeinschaft.
In der Synagoge war Borovitz sicher, dass er nun
sterben würde. »Das Einzige, was mir Hoffnung gegeben
hat, war, dass unsere Tochter nicht in der Synagoge war.«
Wenigstens sie würde überleben. Der Jom­Kippur­
Gottesdienst sollte mindestens zehn Stunden dauern,
deshalb hatten die Eltern sie zu einer Tagesmutter ge­
bracht. Er schaut seine Tochter an, wie sie mit ihrem
Geschirrtuch spielt, es nun in die Waschmaschine steckt.
»Ich bin froh, dass sie das alles nicht mitmachen musste.«
Wie der Vorbeter Remis sieht auch Jeremy Borovitz
in seinem Überleben »ein Wunder«. Eins, das ihn nicht
nur glücklich macht. Er verstehe nicht, warum Gott ihm
erlaubt habe weiterzuleben, während andere nicht mehr
seien. Hat Gott auf ihn besonders aufgepasst? Der Ge­
danke fühle sich »arrogant« an und »problematisch«,
»zwei unschuldige Menschen sind gestorben«. Je länger
man mit ihm spricht, desto klarer wird, dass Jeremy
Borovitz sich irgendwie schuldig fühlt. Schuldig, weil er
noch am Leben ist.
Das schlechte Gewissen der Überlebenden – das ist
ein Thema, das auch viele Holocaust­Überlebende
kennen, das Gefühl, kein Opfer sein zu dürfen, man
wurde doch schließlich verschont.

Der Arzt
Am Mittwochnachmittag, kurz bevor die 51 Juden in
zwei Bussen im Krankenhaus eintrafen, saß Hendrik
Liedtke in der Notaufnahme. Ein MANV­Alarm war
ausgelöst worden, kurz für »Massenanfall von Verletz­
ten«. Die Notaufnahme wurde blockiert, man rechnete
mit dem Schlimmsten. Und eine Schwester hatte den
Chefarzt nun dort hingesetzt. Weil der Chef ja immer
die größte Ruhe ausstrahlt.
Liedtke, 56, ist seit 2016 ärztlicher Direktor des
Krankenhauses St. Elisabeth und St. Barbara in Halle,
einer katholischen Klinik. Er sitzt in seinem Büro und
erzählt davon, wie erst lange nach dem ausgelösten Alarm
durchsickerte: Da kommen gar keine Verletzten. Da
kommt eine jüdische Gemeinde.
Liedtke ist eigentlich Anästhesist. Aber man könnte
sagen, dass er noch ein zweites Fach hat, in dem er sehr
erfahren ist: die Krisenbewältigung. In der Neujahrs­
nacht 2004 stieg er ins Flugzeug, um in Indonesien und
auf den Malediven bei der Versorgung von Tsnuami­
Opfern zu helfen. Als im Herbst 2015 die Flüchtlinge
in Deutschland ankamen, behandelten Liedtke und

seine Kollegen über Monate hinweg 7000 von ihnen,
ohne zu wissen, wer für die Kosten aufkommen würde.
Liedtke hat gelernt, dass man in Krisensituationen vor
allem eins können muss: improvisieren.
Als am Mittwoch die beiden Busse der Jüdischen
Gemeinde eintrafen, stellte sich Liedtke hin wie ein
Reiseleiter und sagte: »Es sieht hier vielleicht nicht so
aus, aber Sie sind heute meine Gäste!«
Normalerweise kommt eine Gruppe von mehr als 50
Menschen nicht gemeinsam in ein Krankenhaus. Das
verursacht nur Chaos, daher teilt man die Leute in
Grüppchen auf. Aber an diesem Tag ignorierte Liedtke
das Protokoll. Er führte die Gemeinde ins Obergeschoss,
in die helle, große Krankenhaus­Cafeteria.
Die Männer und Frauen und Kinder machten, anders
als man es vielleicht erwarten würde, überhaupt keinen
niedergeschlagenen Eindruck auf Liedtke. »Sie waren
euphorisch.« Was nicht untypisch sei. Wenn die Angst
nachlasse, sagt Liedtke, dann münde das menschliche
Befinden oft in großes Glück. Er erlebe das regelmäßig.
In der Cafeteria kam der Amerikaner Jeremy Borovitz
auf ihn zu und sagte: Wir müssen erst mal beten, wir
müssen unsere Zeremonie machen. Danach können wir
gerne reden. Natürlich ließ Liedtke sie machen. Noch
im Krankenhaus brachte die Gemeinde ihren Gottes­
dienst zu Ende, der Stunden zuvor unterbrochen worden
war. Liedtke stand daneben, guckte, staunte. Die Ge­
meinde tanzte und lachte.
Wird die Euphorie anhalten? Oder ist es nur ein
kurzer Moment, der irgendwann überschattet wird von
den traumatischen Erinnerungen?
»Ich bin da kein Experte«, sagt Liedtke. Aber aus
seiner Erfahrung kann er sagen: Manche werden viel Zeit
brauchen, um das Geschehene zu begreifen. Vor allem
die Älteren, die wenig reden, könnten es schwer haben.
Aber zwei Dinge lassen ihn optimistisch in die Zu­
kunft der Gemeinde blicken. Erstens, sagt er: »Die Ge­
fahr war recht abstrakt, sie haben nicht in den Lauf der
Waffe geguckt. Es gab kein Blut.« Und zweitens: »Sie
sind eine Gemeinschaft. Wenn man reden kann, sich
austauschen kann, erträgt man Dinge viel besser, die
allein nur schwer auszuhalten und zu bewältigen sind.«
Viel zu tun gab es für Liedtke am Mittwoch dann
eigentlich nicht mehr. Ein paar Blutdruckpillen wurden
verteilt. Seelsorger, die Russisch sprachen, wurden da­
zugebeten. »Die Gemeinde konnte sich selbst besser
helfen, als wir das konnten«, sagt Liedtke.
Und dann ging es ans Fastenbrechen. Die jüdischen
Frauen und Männer hatten, als sie die Synagoge verlie­
ßen, noch ihr vorbereitetes Essen eingepackt. Nur an
eines hatte irgendwie keiner gedacht: das Bier. »Irgend­
wann kam einer zu mir«, sagt Liedtke, »und meinte:
Mensch, ich will so gerne ein Bier trinken.« Und Liedt­
ke, der heimliche Held der Stunde, zögerte nicht und
lief zum Späti, kaufte einen Kasten Bier. Oben stießen
sie an, er und seine Gäste, »Le Chaim!«, auf das Leben.

Das Leben danach
Nach dem Sonnenuntergang am Samstag endet der
Shabbat, und Juden in aller Welt feiern den Auftakt
einer neuen Woche. Die Freude über das Leben steht
an diesem Abend im Mittelpunkt. Jeremy Borovitz
und Rebecca Blady haben in ihre »Base Berlin« ein­
geladen. Die Feier war seit Wochen geplant.
Es riecht nach Glühwein und Zimtgebäck. Im
Flur stapeln sich Schuhe und Jacken, drei Dutzend
Gläubige sind erschienen. Viele von ihnen waren zu­
sammen in der Synagoge eingeschlossen. Sie umar­
men sich lange, schauen sich tief in die Augen und
umarmen sich dann noch mal.
Bevor gefeiert wird, bittet Borovitz um eine
Schweigeminute für Jana L. und Kevin S., die vom
Täter in Halle erschossen wurden.
Die Gläubigen könnten an diesem Abend in
Schmerz und Trauer zerfließen. Stattdessen packt je­
mand im Wohnzimmer eine Trompete aus. Zwei Gi­
tarristen und ein Trommler gesellen sich dazu. Dann
eine Saxofonistin. Ein paar Gäste setzen sich auf den
Boden in einen Kreis, andere klatschen, tanzen, dre­
hen Pirouetten, sie singen.
Das jüdische Leben in Deutschland, an diesem
Abend ist es fröhlich, laut und trotzig, die krachenden
Töne der Bläser, sie klingen fast, als wollten sie sagen:
Hier sind wir und lassen uns nicht einschüchtern!
Plötzlich ruft Rabbinerin Rebecca Blady in die
Runde: »Es ist 21.59 Uhr, und wir sind hier immer
noch in Deutschland. Wir müssen uns an die Nacht­
ruhe halten, die Nachbarn beschweren sich sonst.
Also: Fenster zu, Musik aus, jetzt!«
Auch in der Synagoge in Halle, 170 Kilometer
entfernt von der »Base Berlin«, soll nach dem Attentat
gefeiert werden – mit einem Gottesdienst. Aber geht
das? »Ich hoffe, dass die Gemeindemitglieder kom­
men, dass sie sich nicht fürchten«, sagt Max Pri vo roz­
ki, der Gemeindevorsteher.
Dann erscheinen am Freitagabend in der Synagoge
der Jüdischen Gemeinde zu Halle, neben vielen anderen:
Max Schwab, gestützt von seiner Frau und seinem Sohn,
in Jeans und Hemd, mit Kippa. Roman Yossel Remis,
der Vorbeter, im festlichen Anzug. Manuela, im feinen
Kleid. Die Synagoge ist so voll, dass zusätzliche Stühle
herangeschafft werden müssen, dass Dutzende Menschen
stehen müssen. Die Gemeinde ist da. Der Ministerprä­
sident, der Oberbürgermeister, Vertreter der Kirchen.
Roman Yossel Remis wirft sich den Tallit über den
Kopf. So, wie er am Mittwoch des Anschlags vor der
Gemeinde stand, steht er nun wieder vor ihr. Er dreht
ihr den Rücken zu und stimmt die Gebete an. Die Ge­
meinde betet mit, mancher hat Tränen in den Augen.
Während die anderen beten, schleicht sich der Ge­
meindevorsteher Max Pri vo roz ki an den Bänken vorbei
zum Oberbürgermeister, Bernd Wiegand. »Herr Wie­
gand, kommen Sie!« Er will ihm etwas zeigen. Zusam­
men gehen sie in den kleinen Vorraum, zum Wachmann,
und Max Pri vo roz ki deutet auf den Monitor der Über­
wachungskamera: Vor der Synagoge stehen Menschen,
mit Kerzen in der Hand, sie singen. »Tausende!«, sagt
Pri vo roz ki. »Sie stehen die ganze Straße entlang!« Ge­
dämpft hört man in der Synagoge, was die Menge drau­
ßen angestimmt hat: Shalom Chaverim, Friede sei mit
euch, im Kanon, ohne Pause.
Ein schöner, ein zerbrechlicher Moment.
»Vor dem Anschlag«, sagt Pri vo roz ki, »habe ich nicht
gewusst, dass es eine solche Solidarität mit uns gibt.«

»Irgendwann kam einer zu mir


und meinte: Mensch, ich will so


gerne ein Bier trinken«


Hendrick Liedke, Chefarzt des St. Elisabeth­ und
St. Barbara­Krankenhauses, der die Gemeinde nach dem
Anschlag betreute

Verschont und... Fortsetzung von S. 18


550 Mitglieder hat die
Gemeinde. Es wird vor
allem Russisch gesprochen

»Draußen waren die Straßen


menschenleer, es war wie


damals, im Krieg«


Jutta und Max Schwab.
Er ist der Einzige aus der Gemeinde, der schon in den
Dreißigerjahren in Halle lebte

Fotos: Paula Winkler für DIE ZEIT


  1. OKTOBER 2019 DIE ZEIT No 43

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