Die Zeit - 17.10.2019

(Kiana) #1

  1. OKTOBER 2019 DIE ZEIT No 43


Verschärft sich


B


edrohlich schwillt die Musik an, in
irrem Tempo rasen Bilder über die
Leinwand – Bettler, Jachten, Fa-
ckeln, Villen, Nazis, Kreuze auf ei-
nem Soldatenfriedhof. Dazu ist die
Stimme von Thomas Piketty zu
hören, der vor einer Katastrophe
warnt, sollte es nicht gelingen, die Spaltung zwischen
Arm und Reich zu überwinden. So sieht der drama-
turgische Höhepunkt des Films Das Kapital im 21.
Jahrhundert aus, der jetzt ins Kino kommt. In der
Dokumentation breitet der französische Ökonom
Thomas Piketty seine Thesen aus. Berühmt wurde
Piketty vor fünf Jahren durch ein Buch mit dem
gleichen Titel. Nun legt er doppelt nach: mit einem
weiteren Buch, das im März auf Deutsch erscheint
(Kapital und Ideologie) – und mit dem Film.

Piketty trifft einen Nerv. Erst vergangene Woche
sorgte eine Studie für Schlagzeilen, nach der die
Einkommen in Deutschland so ungleich verteilt
sind wie noch nie. Und diese Woche erhielten drei
Ökonomen den Nobelpreis, die sich mit der Be-
kämpfung von Armut beschäftigen (siehe Seite 30).
Das Thema Ungleichheit bewegt die Menschen.
Der Kapitalismus, so lautet Pikettys Warnung,
droht die Gesellschaften zu zerreißen. Weil er die Kluft
zwischen Arm und Reich vertiefe, die Mittelschichten
zerstöre und die Arbeitnehmer mit einem immer
kleineren Stück vom Wohlstand abspeise. Die Reichen
werden reicher, die Armen ärmer – das ist das düstere
Szenario, auf das alles zuläuft. Doch wie dramatisch
ist die Entwicklung in der Wirklichkeit? Was trifft
auch auf Deutschland zu? Zeit für eine Überprüfung
der gängigsten Aussagen zur Ungleichheit.


  1. Wird die Kluft weltweit


immer größer?


Es kommt darauf an, welche Kluft gemeint ist.
Vergleicht man Staaten miteinander, verbessert
sich die Lage: Vor allem in China, Indien und
anderen asiatischen Staaten wuchs der Wohl-
stand schneller als in den Industriestaaten.
Dadurch entkamen eine halbe Milliarde Men-
schen der Armut. Während 1990 etwa jeder
Dritte weltweit von weniger als 1,90 Dollar
am Tag lebte, ist es heute nur noch knapp jeder
Zehnte. Die Inflation ist dabei herausgerech-
net. So gesehen wurde die Kluft zwischen Arm
und Reich kleiner.
Meint man jedoch die Ungleichheit inner-
halb der Länder, sieht es anders aus. In den meis-
ten Staaten ging die Schere zwischen Besserver-
dienern und Geringverdienern auseinander.
Nach Daten der Industrieländerorganisation
OECD wuchsen die Unterschiede in der Ein-
kommensverteilung zwischen Mitte der 1980er-
und der 2000er-Jahre in 20 von 24 untersuchten
Industriestaaten. Die Ungleichheit nahm also zu.
Seit 2007 ist dieser globale Trend allerdings nicht
mehr so eindeutig. Die OECD warnt dennoch
vor einer fortschreitenden Spaltung.
Als Treiber dafür galten in der Vergangenheit
etwa die Automatisierung und die Globalisierung:
Neue Maschinen und neue Konkurrenten aus
China drücken auf die Löhne vieler Arbeiter in den
Industrieländern. Hinzu kommt, dass die Gewerk-
schaften fast überall Mitglieder verloren haben – ihr
Einfluss darauf, Angestellte am Erfolg von Unter-
nehmen teilhaben zu lassen, schwindet also. Von
Land zu Land kann auch die Steuer- und Sozial-
politik eine Rolle spielen. Und in jüngster Zeit auch
die extreme Konzentration von Geld bei den In-
habern und Top-Angestellten einiger »Superstar-
firmen« wie Amazon oder Google.


  1. Schrumpft die


Mittelschicht?


Das ist wohl für jede Gesellschaft die größte Ge-
fahr: Die Mitte geht verloren. Und tatsächlich
deutet eine Studie der OECD darauf hin, dass
die Mittelschicht in den Industrieländern in den
vergangenen Jahrzehnten kleiner wurde – aller-
dings in langsamem Tempo. Mitte der 1980er-
Jahre gehörten im Schnitt der OECD-Länder 64
Prozent der Bevölkerung aufgrund ihres Ein-
kommens zur Mittelschicht. Bis heute sank die-
ser Anteil auf 61 Prozent – pro Jahrzehnt ging er
also um einen Prozentpunkt zurück.
In Deutschland zählen laut der OECD-
Studie heute noch 64 Prozent der Bevölkerung
zur mittleren Einkommensschicht. Die Mitte
ist hierzulande also nach wie vor etwas breiter
als anderswo. Auch hier schrumpfte sie jedoch
seit den Achtzigern: Damals zählten 69 Pro-
zent der Westdeutschen zur Mittelschicht.
Bei dieser Untersuchung geht es ums Netto-
einkommen. Für den Zusammenhalt einer Ge-
sellschaft könnte noch wichtiger sein, wie viele
Menschen selbst das Gefühl haben, zur Mitte zu
gehören – oder abgehängt zu sein. Da sieht es in
Deutschland ebenfalls gut aus: Über 70 Prozent
der Bevölkerung sagen in Umfragen, sie sähen
sich selbst in der Mittelschicht. Auch gefühlt ist
die Mitte also noch immer ziemlich groß.


  1. War die Ungleichheit in


Deutschland jemals höher?


Vergangene Woche sorgte die Nachricht für Schlag-
zeilen, die Einkommen in Deutschland seien so
ungleich verteilt wie nie zuvor. Grundlage war eine
Studie des gewerkschaftsnahen Wirtschafts- und
Sozialwissenschaftlichen Instituts. Das hatte fest-
gestellt, dass sich die Einkommen, anders als bisher
gedacht, auch in den vergangenen zehn Jahren
weiter auseinanderentwickelt haben.
Man muss an dieser Stelle ein wenig in die
Feinheiten der Ungleichheitsmessung eintauchen,
um die Meldung richtig einordnen zu können. Die
gängigste Kennzahl, um die Ungleichheit einer
Verteilung zu beschreiben, ist der Gini-Koeffizient.
Er kann einen Wert zwischen null und eins an-
nehmen, wobei null hieße, dass alle genau das
gleiche Einkommen haben, und eins, dass einer
alles erhält und alle anderen nichts, die Ungleich-
heit also maximal wäre. Im OECD-Schnitt liegt
der Gini seit zehn Jahren unverändert bei 0,32. In
Deutschland betrug er im Jahr 2005 laut der be-
sagten Studie 0,289 und stieg bis 2016 auf 0,295.
Doch was lässt sich daran tatsächlich ablesen – an
einem Zuwachs um 0,006?
Zu einem vollständigen Bild gehört, dass es
verschiedene Erhebungen zur Einkommensver-
teilung gibt. Sie alle beruhen auf Befragungen
und enthalten daher eine große Portion Unsi-
cherheit. Das Statistische Bundesamt veröffent-
licht den von ihm ermittelten Gini-Koeffizienten
deshalb nur bis zur zweiten Stelle hinter dem
Komma. Und laut dieser amtlichen Erhebung
hat sich der Gini schon seit über einem Jahrzehnt
nicht mehr bewegt, er liegt seit 2005 unverändert
bei 0,29. Was folgt daraus? Niemand weiß, wel-
che Zahl die richtige ist. Klar ist aber: Nach die-
sen Messungen hat die Ungleichheit bis 2005
zugenommen und blieb seither mehr oder weni-
ger auf demselben Niveau.


  1. Wächst die Armut in


Deutschland?


Armut in Entwicklungsländern kann bedeuten,
dass jemand hungert und friert. In den Industrie-
staaten ist diese Not so selten geworden, dass
Armut hier heute oft anders definiert wird. So
gilt in der EU als von Armut bedroht, wie es of-
fiziell heißt, wer weniger als 60 Prozent des mitt-
leren Einkommens zur Verfügung hat. Damit, so
der Gedanke, kann man sich so wenig leisten,
dass man sich am unteren Rand der Gesellschaft
bewegt. In Deutschland fällt ein Alleinstehender,
der weniger als etwa 1050 bis 1100 Euro netto
zur Verfügung hat, in diese Kategorie.
Zwischen 1991 und 2005 stieg der Anteil der
Armutsgefährdeten in der Bevölkerung hierzu-
lande von 11 auf 14 Prozent. Und je nach Quel-
le hat sich dieser Anteil auch in jüngerer Zeit
noch erhöht, um ein bis zwei Prozentpunkte. Es
gibt also mehr Menschen als früher, die deutlich
weniger Geld zur Verfügung haben als die Mitte.
Experten vom arbeitgebernahen Institut der
deutschen Wirtschaft erklären das vor allem da-
mit, dass viele Arbeitsmigranten und Flüchtlinge
nach Deutschland gekommen sind. Die Armut
wuchs demnach, weil mehr Arme ins Land ka-
men. Das trifft wohl zu, doch wie groß dieser
Effekt genau ist, darüber wird gestritten.

Die Kluft zwischen


Arm und Reich wächst


offenbar unaufhörlich.


Ständig erscheinen


alarmierende Studien –


und jetzt kommt das


Thema sogar ins Kino.


Zeit für einen


Faktencheck


VON KOLJA RUDZIO

64 % 63 % 62 % 61 %

1985 1995 2005 2015

Die Mittelschicht bröckelt: Bevölkerungsanteil
mit mittlerem Einkommen in den Industrieländern
Quelle: OECD

In Deutschland sind die Einkommen ungleicher verteilt als früher,
das zeigt der Gini-Koeizient. Dieses Maß für Ungleichheit kann
zwischen 0 (alle bekommen gleich viel) und 1 (einer hat alles) liegen.
Quellen: Sozio-oekonomisches Panel, Statistisches Bundesamt

0,30

0,20

0,10

1991 2000 2009 2018

Messung des
Statistischen Bundesamtes

Messung des Sozio-
oekonomischen Panels

24 WIRTSCHAFT


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