DIE ZEIT: Herr de Meo, der Volkswagen-Kon-
zern erlebt schwierige Zeiten. Fürchten Sie sich
vor einer möglichen großen Autokrise?
Luca de Meo: Was Seat angeht, erst mal nicht.
Seit 47 Monaten, also seit ich gekommen bin,
sind wir gewachsen. Jedes Jahr ein neuer Verkaufs-
rekord. Nachdem es bis 2015 zehn Jahre lang im-
mer wieder Verluste gegeben hatte, sind die Leute
bei Seat heute optimistisch und stolz. Doch nun
treffen uns mehrere Entwicklungen gleichzeitig, die
in den nächsten zwei, drei Jahren den
perfekten Sturm auslösen können.
ZEIT: Was braut sich da zusammen?
De Meo: Erstens sinken nach einem
langen Aufschwung in der Auto-
industrie nun die Kurse. Zweitens
müssen wir riesige Summen für den
Übergang zu Hybrid- und E-Autos
sowie vernetzten und selbstfahrenden
Autos investieren. Drittens kommen
in Europa sehr hohe Strafen auf uns
zu, wenn wir unsere CO₂-Ziele nicht
erreichen. Europa ist der härteste
Markt bei Emissionen geworden.
Zwischen 2020 und 2025 erwarte ich
einen darwinschen Ausleseprozess in
der Branche.
ZEIT: Aber Europa hat doch recht
mit seinen relativ strengen CO₂-
Grenzen, oder?
De Meo: Die Idee ist richtig. Und
normalerweise geben intelligent ge-
machte Regulierungen der Industrie
die Gelegenheit, stark aus dem Sturm
herauszukommen. Aber es kann auch
schiefgehen. Erst mal bedeutet es in
jedem Fall Rock ’n’ Roll, und für viele
Unternehmen könnte das Ziel un-
erreichbar sein. Da muss man schon
demütig rangehen.
ZEIT: Ist Seat für den Sturm gerüstet?
De Meo: Wir bringen viele neue Au-
tos heraus. Die nächste Generation
des Leon zum Beispiel, der ja der
Kern unseres Geschäfts ist. Dann ein
Elektroauto. Insgesamt werden wir
nächstes Jahr sechs oder sieben neue
Modelle vorstellen, was für eine eher
kleine Marke wie Seat ungeheuer viel
ist. Und noch etwas macht mich zu-
versichtlich: dass unsere Firma zum
Volkswagen-Konzern gehört. Es ist
ein Riesenvorteil. Ich kann sozusagen
zum Supermarkt des Konzerns gehen
und mir nehmen, was ich brauche.
Einzelteile und sogar die Basis für
ganze Modelle.
ZEIT: Aber Sie müssen bezahlen.
De Meo: Natürlich, und manchmal
ist das ganz schön teuer. (lacht)
ZEIT: Verkauft Seat auch Dinge in
den Konzern?
De Meo: Ehrlich gesagt, nicht viel.
Wir müssen das ändern. Bisher stel-
len wir Getriebe her und für Audi
den A1. Sonst ist da wenig. Auch des-
halb konzentrieren wir uns jetzt auf
Entwicklungen beim vernetzten Auto
und werden dadurch hoffentlich für
den Konzern unverzichtbar.
ZEIT: Wofür stand Seat bisher?
De Meo: Die Leute fragten sich: Ist es
das spanische Alfa Romeo? Eine
günstige Marke, cool, aber nicht so
essenziell? Eigentlich ist das albern,
wird aber ernst, wenn in den Kon-
zerngremien so gesprochen wird. Also
halte ich mit Zahlen dagegen. Sieben
von zehn Kunden kommen von
außerhalb des Volkswagen-Konzerns
zu uns – wir haben also eine hohe
Eroberungsrate. Und wir haben von
allen Herstellern in Europa die jüngs-
ten Kunden.
ZEIT: Die haben in der Regel noch
nicht so viel Geld.
De Meo: Aber später im Leben viel-
leicht schon. Und dann haben sie eine
Bindung zur Marke entwickelt. Als
ich zu Seat kam, versuchte man mich
zu überreden, nicht mehr auf junge
Leute zu setzen, sondern so zu werden
wie die anderen. Doch ich hatte zuvor
schon für acht Marken gearbeitet und
jede Menge Präsentationen darüber
halten müssen, wie man sie verjüngt.
Also habe ich Nein gesagt.
ZEIT: Zumindest in den Städten, in
denen ja mehr als die Hälfte der
jüngeren Leute leben, wollen diese
oft keine Autos mehr kaufen. Sie
wollen Mobilität. Sie aber, Herr de
Meo, sprechen bisher immer über
den Verkauf einzelner Blechkisten.
Denken Sie wirklich noch in Stück-
zahlen oder doch in Mobilität, also in der ver-
netzten Nutzung von Leihfahrzeugen, Bahn, Bus
und so weiter?
De Meo: Ich denke in Mobilität. Das heißt nicht,
dass wir dafür schon alle Antworten hätten. Wir
suchen danach, und das auch abgesehen vom
Umwelteffekt. Die Menschen dürfen nicht an-
fangen, unser Produkt zu hassen. Sonst heißt es
für uns: game over!
ZEIT: Was genau ist Ihr Ziel?
De Meo: Dass wir geliebt werden, vielleicht an-
ders als bisher, vielleicht mit anderen Produkten
oder Dienstleistungen. Es ist ja auch ineffizient,
mit eineinhalb Tonnen Metallplatten, Plastik
und so weiter eine Person von 50 oder auch 70
Kilogramm zu transportieren. Und Autos werden
nur fünf bis sieben Prozent der Zeit genutzt. Da
ist wirklich noch Raum für Disruption. Doch
einfach wird das für uns nicht. Bisher sieht unsere
Industrie so aus: Wir entwickeln und produzie-
ren Hard ware, dann verlässt das Produkt die Fa-
brik und geht zu den Händlern, sodass wir kei-
nen direkten Kontakt mit den Kunden haben.
Wir schicken die Rechnung, und 30 Tage später
ist das Auto bezahlt. Fertig.
ZEIT: Ein einfaches Modell.
De Meo: Wir wissen, wie es funktioniert, und
zwar in fast jedem Land ähnlich. Wir schicken
die Rechnung nach Frankreich, nach Algerien,
egal. Bei der Mobilität aber ist Barcelona anders
als Madrid, Madrid wiederum anders als Mai-
land. Da geht nicht ein Produkt zum Kunden wie
heute, sondern man hat mehrere Lieferanten und
Partner, große Konzerne und Start-ups mit ihren
Algorithmen ...
ZEIT: ... also junge Firmen, die Apps zum Teilen
von Fahrzeugen entwickeln oder auch selbstfah-
rende Vehikel.
De Meo: Man hat alles zur gleichen Zeit. Das
Ganze ist tausendmal größer als man selbst. Da
muss man die eigene Organisation neu aufstellen.
Immerhin haben wir bei Seat nicht diese 120-jäh-
rige glorreiche Autogeschichte und können viel-
leicht leichter den heutigen Zeitgeist erfassen.
ZEIT: Seat ist innerhalb des Volkswagen-Konzerns
damit betraut, Mobilitätskonzepte für die Innen-
städte zu entwickeln. Wie haben Sie diese Zustän-
digkeit bekommen?
De Meo: Zum einen haben wir uns dafür gemel-
det. Zum anderen sitzen nicht wirklich viele Auto-
hersteller direkt bei großen und komplexen Städten
wie Barcelona. Wenn diese sogenannte Mikromo-
bilität mit Fahrrädern, Scootern, kleinen Fahrzeu-
gen und so weiter irgendwo in Europa funktioniert,
dann hier, wo die Sonne das ganze Jahr scheint.
ZEIT: Was kann dabei für Sie herauskommen?
De Meo: Wir werden in Partnerschaft mit Spezia-
listen die für diese Art der Plattform geeigneten
Fahrzeuge entwickeln. Und dann müssen wir wohl
auch die Plattform selbst entwickeln, um eine
Lock-in-Lösung anzubieten ...
ZEIT: ... also ein Angebot aus einer Hand, sodass
der Kunde nicht immer den Anbieter wechselt.
De Meo: Ich kann dafür entweder nur die Hard-
ware verkaufen oder möglicherweise auch die Soft-
ware – oder eben beides zusammen, wie wir das
machen wollen. Mal sehen, ob es uns gelingt.
ZEIT: Volkswagen vollzieht gerade eine 180-Grad-
Wende in Richtung E-Auto. Doch möglicherweise
ist das digitalisierte, vernetzte, womöglich selbst-
fahrende Auto der größere Umbruch. Verfolgt
VW die richtige Strategie?
De Meo: VW strengt sich bei beiden Themen sehr
an. Die digitale Strategie werden Sie ab 2021 er-
leben können.
ZEIT: Das wirkt langsam im Vergleich zu Kalifor-
nien und China.
De Meo: Stimmt schon. Aber was war bisher das
Geschäftsmodell für das E-Auto? Unklar. Jetzt erst
wird es deutlich, da die Strafen drohen. So ist das in
der Wirklichkeit. Vielleicht werden die Batterien
bald deutlich billiger, dann braucht man zur Recht-
fertigung nicht mehr die Regulierung, sondern das
E-Auto wird aus sich heraus zum Geschäftsmodell.
Technisch ist es ohnehin einfacher als ein Verbren-
nungsmotor. Schon sehr bald dürften manche
E-Autos daher billiger werden als Benziner.
ZEIT: Und bei Big Data? Schon heute sammeln
insbesondere Hersteller luxuriöser Autos viele
Fahrdaten. Nur geben sie den Nutzern anders als
Google oder Face book keine kostenlosen Dienste
zurück, keine Netzsuche, kein soziales Netzwerk.
De Meo: Die Hersteller wissen wahrscheinlich
nicht, was sie damit machen sollen. Google hat
den Algorithmus gefunden, der die Internet-Suche
mit riesigen Werbeeinnahmen verbindet. So etwas
Revolutionäres gibt es für Autos einfach noch
nicht. Und der strenge Datenschutz in Europa
macht es uns im Wettbewerb mit den USA und
China schwer.
ZEIT: Wenn die Autoindustrie ihr Geschäftsmo-
dell wechselt – hat sie dann noch die richtigen
Manager?
De Meo: Tatsächlich kommen schon jetzt viele
von außen. Das ist nicht immer einfach, weil diese
Leute anders denken und bei hierarchischen, star-
ren Organisationen wie unseren anecken. Sie wol-
len etwas verändern und sind nicht an einem grö-
ßeren Büro interessiert oder so etwas. Wir haben
deshalb für die Programmierer der Mikromobilität
in Barcelona auch eine andere Struktur aufgebaut
- nicht hier im Vorort, sondern mitten in der Stadt.
Ich gebe zu: Ganz oben finden Sie noch nicht viele
solche Leute, aber das wird kommen. Wir sind im
Übergang, und noch sind oben Leute wie ich, die
25, 30 Jahre Erfahrung mit dem Auto haben.
ZEIT: Mit Benzin im Blut.
De Meo: Ja, car guys. Ich muss aber
sagen: Wenn ich nichts mehr lerne,
dann gehe ich. Ich habe in meiner
Karriere schon an 70 verschiedenen
Autoprojekten gearbeitet. Lernen ist
meine größte Mo ti va tion.
ZEIT: Sie haben als Management-
Student Ihre Abschlussarbeit über
Wirtschaftsethik geschrieben. Was
bedeutet es heute, ein ethisch ein-
wandfreier Automanager zu sein?
De Meo: Was für eine Frage! Die ist
gerade schwer zu beantworten, weil
wir unter Druck von vielen gesell-
schaftlichen Gruppen stehen. Keine
Unfälle, wirklich null Emissionen –
das wäre das Beste. Wenn ich ein
E-Auto mit Strom aus Kohle laden
lasse, ist das kein Fortschritt. Kann
ich das Auto aber mit einer Garantie
verkaufen, dass es die ganze Zeit mit
erneuerbarer Energie fährt, habe ich
etwas erreicht. Wir Automanager
sind nicht so beschränkt, wie wir
gerade beschrieben werden. Ich muss
jeden Tag hart dafür arbeiten, dass
die Kunden kaufen können, was sie
wollen.
ZEIT: Mit diesem Satz begründet die
deutsche Autoindustrie noch den
größten SUV. Ist es aus ethischer
Sicht wirklich genug, das herzustel-
len, was irgendwelche Kunden viel-
leicht kaufen?
De Meo: Nein, aber unsere härtesten
Kritiker repräsentieren nicht die Be-
völkerung. Die Diskussion sollten
wir nicht einigen postintellektuellen
Hippies überlassen. Der grüne Wan-
del wird jetzt Main stream, und wir
können etwas beitragen durch Autos,
die den neuen Erwartungen der
Menschen und den Zielen der Ge-
sellschaft gerecht werden. Mit einem
günstigen E-Auto können wir der
Mehrheit den Weg ebnen. So funk-
tioniert die Autoindustrie, mit Mas-
senlösungen. Ich liebe die Auto-
industrie auch deshalb, weil sie so
widerstandsfähig ist und sich immer
wieder anpassen konnte. Unterschät-
zen Sie also nicht unsere Fähigkeit,
Gelegenheiten zu ergreifen.
ZEIT: Was waren denn bitte die gro-
ßen Herausforderungen der vergan-
genen 120 Jahre?
De Meo: Die Globalisierung zum
Beispiel. Die starken Marken wur-
den Weltmarken. Und überlegen Sie
einmal, wie viele neue Funktionen
ins Auto gekommen sind und was
wir alles entwickelt haben. Wir sind
vielleicht nicht immer die Ersten,
weil wir eben keine Beta-Versionen
herausbringen wie die Software-In-
dustrie, sondern verlässliche Produk-
te. Und die Autoindustrie teilt den
Wohlstand, statt ihn in der Hand
weniger merkwürdiger Leute zu kon-
zentrieren, die sich schnell raus-
ziehen und in Barbados leben. Wenn
ich bei Seat einen Job schaffe, ent-
stehen sieben weitere außerhalb. Wir
sollten also alle gemeinsam daran ar-
beiten, dass diese Industrie sich er-
folgreich transformiert.
ZEIT: Sie sind gut für die Volkswirt-
schaft?
De Meo: Wenn die Industrie weiter-
hin auf Qualitätsjobs setzt, ja. Ich
bin für die Transformation, aber
bitte auf unsere Art, mit all den
Schwierigkeiten, die dann anfallen.
Wir riskieren, dass wir Teile der
Wertschöpfungskette verlieren. Aber
so war es immer schon. Wir sind ex-
trem kapitalintensiv, old economy so-
zusagen, und haben eher geringe
Margen. Die Firmen um uns herum
sind oft profitabler.
ZEIT: Wenn man auf die Entwick-
lungen der letzten 50 Jahre schauen,
stellt man fest: Das Auto hat immer
noch vier Räder und ein Lenkrad, und
man kommt auch kaum schneller von A nach B.
Nennt man das Fortschritt?
De Meo: Es stimmt, das System hat sich nicht
fundamental verändert. Jetzt könnte das anders
werden. Mit Nullemissionen. Wenn das vernetzte
Fahrzeug ein Hauptdarsteller im sogenannten In-
ternet der Dinge und im Energienetz wird ...
ZEIT: ... wenn es also Strom speichert und zu an-
deren Zeiten wieder abgibt, wenn es mit anderen
Autos kommuniziert und dadurch Staus vermeidet
und so weiter.
De Meo: So in etwa. Das ist alles nicht so disruptiv
wie die Erfindung des Internets selbst. Es sei denn,
irgendwann käme der Teletransport.
ZEIT: Das wäre eine echte Herausforderung für
Sie?
De Meo: Das können Sie wohl laut sagen. Absolut.
Das Gespräch führte Uwe Jean Heuser
»Sonst heißt es für uns:
Ga me over!«
Der Chef des spanischen Autobauers Seat über die Krise seiner Branche,
den Stadtverkehr der Zukunft und Ethik im Management
Der Italiener Luca de Meo, 52, ist seit 2015 CEO von Seat. Der ehemalige
Fiat-Markenchef gilt als großer Hoffnungsträger im VW-Konzern
Foto: Christiane von Enzberg
26 WIRTSCHAFT 17. OKTOBER 2019 DIE ZEIT No 43