Die Zeit - 17.10.2019

(Kiana) #1

Da geht was


Eine neue Studie zeigt: Familienunternehmer haben die Wendezeit erstaunlich gut überstanden – und treiben nun die Wirtschaft Ostdeutschlands an VON JENS TÖNNESMANN


W


enn Hans B. Bauerfeind
aus dem Panoramafens-
ter des Bauerfeind Tower
blickt, dann liegt ihm
Zeulenroda wie eine Stadt
aus Spielzeughäuschen zu
Füßen. Schaut er nach
Süden, dann kann er die Dreieinigkeitskirche se-
hen, deren Sanierung er finanziert hat. Im Westen
führt die Bauerfeind-Allee zu seinem »Bio-Seeho-
tel«, das zu DDR-Zeiten ein Ferienheim war. Direkt
unter sich schaut er auf die Produktionshallen sei-
nes Unternehmens, das Bandagen, Kompressions-
strümpfe und andere medizinische Hilfsmittel her-
stellt und von Thüringen aus in alle Welt liefert;
1100 seiner 2100 Beschäftigten arbeiten hier.
Und irgendwo weit hinten in Richtung Waldrand
hat sein Großvater Bruno 1929 angefangen, Strümp-


fe herzustellen. Diese Wurzeln hat Hans Bauerfeind
nicht vergessen, auch wenn seine Familie 1949 aus
Angst vor Repressalien nach Westdeutschland gezogen
ist. Nach der Wende kehrte er mit seiner Firma nach
Zeulenroda zurück, 1997 verlagerte er die Zentrale in
seine Geburtsstadt. »Weil ich hier herkomme und weil
ich beim Neuanfang im Osten unbedingt dabei sein
wollte«, sagt der 79-jährige Unternehmer heute, »ich
habe nicht einfach die billige Werkbank gesucht.«
Bauerfeind ist ein bemerkenswertes Beispiel: dafür,
wie wenig Chancen Unternehmer in der DDR sahen.
Und dafür, welche wichtige Rolle sie seit der Wende
wieder einnehmen. »40 Jahre Sozialismus haben tiefe
Spuren hinterlassen«, sagt Rainer Kirchdörfer, Vor-
stand der Stiftung Familienunternehmen. »Trotzdem
ist es seit dem Fall der Mauer gelungen, wieder eine
lebendige Landschaft an Familienunternehmen in den
neuen Bundesländern aufzubauen.«

Als Beleg dafür dient der Stiftung ihre Studie Indus-
trielle Familienunternehmen in Ostdeutschland, die sie
am Mittwoch kommender Woche auf ihrer Webseite
familienunternehmen.de veröffentlichen will und die
der ZEIT vorab vorliegt. Die Historiker Rainer Karlsch
vom Institut für Zeitgeschichte München-Berlin und
Michael Schäfer von der TU Dresden haben für die
Studie eine Vielzahl von Quellen ausgewertet und
Zahlen zusammengetragen, und sie haben mit Unter-
nehmern gesprochen, die die Ökonomie der neuen
Bundesländer heute prägen. Aus Sicht des Vorstands
Kirchdörfer zeigt die qualitative Studie klar: »Famili-
enunternehmen haben einen maßgeblichen Beitrag
zum Aufbau Ost« geleistet.
Dieser Beitrag erscheint bemerkenswert, wenn
man sich die wirtschaftliche Lage Ostdeutschlands
vor Augen führt. So stellte die Bundesregierung in
ihrem jüngsten Jahresbericht zum Stand der Deutschen

Einheit fest, dass die Wirtschaftskraft Ostdeutsch-
lands gemessen am westdeutschen Niveau zwar seit
1990 deutlich gestiegen sei, allerdings sei sie auch
2018 noch um 25 Prozent niedriger als im Westen.
Nach wie vor mangele es an großen Mittelständ-
lern, nach wie vor hätten keine Dax-Unternehmen
und kaum größere Konzerne ihre Zentralen in den
neuen Bundesländern, nach wie vor seien viele ost-
deutsche Unternehmen im Besitz von westdeut-
schen oder ausländischen Konzernen.
Besonders schmerzhaft ist dieser Befund, wenn
man mit den Autoren der Stiftungsstudie in die
Vergangenheit blickt. Bis zur Mitte des 20. Jahr-
hunderts sei Ostdeutschland »ein vielgestaltiger
Wirtschaftsraum« gewesen. Doch der Krieg, Krisen
und der Kommunismus erschütterten dieses Öko-
system. So sorgten die staatlichen Eingriffe in den
Anfangsjahren der DDR dafür, dass viele Unter-
nehmer in den Westen zogen. »Das westdeutsche
Wirtschaftswunder beruhte zu einem Teil auch auf
den Leistungen der zugewanderten Familienunter-
nehmen und vieler Flüchtlinge aus dem Osten«, sind
die Autoren der Studie überzeugt. Verglichen damit
sei die Zahl der Rückkehrer nach der Wende »be-
scheiden« gewesen; und wer zurückkam, ließ sich
wie Bauerfeind eher von emotionalen Bindungen
als von ökonomischen Argumenten leiten. Was also
macht die Mittelständler
heute wieder erfolgreich?
Die Studie unterschei-
det im Wesentlichen drei
Arten von Unternehmern:
jene, die aus dem Westen
herzogen. Jene, die Teile der
ehemaligen Staatsbetriebe
übernommen haben. Und
jene, die nach 1990 Be-
triebe zurückbekamen, die
sie einst selbst aufgebaut
und besessen hatten.
Ein Beispiel dafür ist
Christian Starke, dessen
Familie in Dresden seit den
1930er-Jahren das Pharma-
unternehmen Apogepha
gehörte, bevor es sich der
Staat 1972 vollständig an-
eignete – wie 11.800 wei-
tere Firmen, womit damals,
so die Studie, die »Zerstö-
rung des Mittelstands« komplettiert worden sei.
Besucht man Starke heute am Firmensitz im
Dresdner Stadtteil Striesen, so bringt der 83-Jährige
zum Gespräch ein 200 Seiten starkes Buch mit, das
die Geschichte seiner Firma dokumentiert. Nach
der Verstaatlichung übernahm ein Betriebsdirektor
die Leitung; Starke blieb nur die Forschung. So ent-
wickelte er ein Präparat gegen Blasenbeschwerden.
»Zu DDR-Zeiten war unsere Forschung oft L’art
pour l’art«, sagt Starke, »erst nach der Wende hat
sich gezeigt, wie wertvoll sie war.«
Anfang 1991 erkämpfte er die Reprivatisierung.
»Ich habe den Mitarbeitern erklärt, dass privatisieren
nicht heißt, dass man Besitz gewinnt«, erinnert sich
Starke, »man gewinnt Verantwortung und die Frei-
heit, zu gestalten und zu verwirklichen, ohne immer
erst einen Dritten fragen zu müssen.« Das Medika-
ment, das Starke vor der Wende entwickelt hatte,
wurde zur neuen Einnahmequelle. Heute beschäftigt
Apogepha mehr als 140 Mitarbeiter.
Auf ähnliche Weise gelang es auch der Unter-
nehmerfamilie Thiele aus Halle an der Saale, sich
zu behaupten. Die Familie hatte in den 1950er-
Jahren begonnen, Backmischungen herzustellen,
musste aber 1972 zusehen, wie ihre Firma Kathi
verstaatlicht wurde. Trotzdem zahlte sie weiter die

Gebühren ans westdeutsche Patentamt, um ihre
Marke zu schützen. »Mein Großvater war eben da-
von überzeugt, dass es die DDR im Jahr 2000 nicht
mehr geben würde«, erzählt Marco Thiele, der das
Unternehmen heute in dritter Generation führt.
1991 wurde die Firma wie etwa 1600 andere grö-
ßere Firmen von der Treuhandanstalt reprivatisiert.
Damit aber waren die Probleme nicht gelöst.
»Für viele Unternehmen begann ein dramatischer
Wettlauf gegen die Zeit«, schreiben Karlsch und
Schäfer. »Um unter den grundlegend veränderten
Bedingungen bestehen zu können, mussten sie ihre
Produktpaletten ändern, Vertriebswege erschließen
und neue Verkaufsstrategien entwickeln.«
Für die Thieles kehrten sich die Verhältnisse
um: Vor der Wende hatten die Händler Schlange
gestanden, weil Waren knapp gewesen waren –
nun mussten sie um jeden Kunden kämpfen. »Die
Leute wollten erst mal Westprodukte und haben
sich nur langsam auf die Marken zurückbesonnen,
die sie aus DDR-Zeiten kannten«, sagt Marco
Thiele. Also half er seinem Vater dabei, Händler
von ihren Backmischungen zu überzeugen. Der
Betrieb konnte sich halten und sogar zum Markt-
führer in Ostdeutschland aufsteigen, heute zählt
er 90 Mitarbeiter – nicht ganz so viele wie zu
DDR-Zeiten, aber fast dreimal so viele wie beim
Neustart im Jahr 1991.
Die Thieles und die
Starkes zeigen beispielhaft,
wo die Privatisierung nach
der Wende gut funktionier-
te – und sie bilden damit
einen scharfen Kontrast zu
jenen fast 4000 größeren
Betrieben, die von der
Treuhandgesellschaft zwi-
schen 1990 und 1994 li-
quidiert wurden. Ihre Un-
ternehmen gehören auch
zu jenen vergleichsweise
wenigen Firmen, die in die
Hände ostdeutscher Bürger
gelangten. Hätte es davon
mehr gegeben, würde es
der Wirtschaft im Osten
heute womöglich besser
gehen, ist zum Beispiel
Hans-Werner Sinn über-
zeugt (ZEIT Nr. 42/19).
Aus Sicht des renommierten Ökonomen hätte die
Treuhand auch den Führungskräften der ehemali-
gen Staatsbetriebe häufiger dabei helfen sollen,
diese Betriebe ganz oder teilweise zu übernehmen.
Laut den Historikern Karlsch und Schäfer kam es
zu solchen Management-Buy-outs oft erst dann,
»wenn sich kein Investor finden ließ und die Still-
legung des Unternehmens drohte«.
Auch Miltitz Aromatics gäbe es heute womöglich
nicht, wäre es nach der Treuhand gegangen. Das
Unternehmen sitzt im Chemiepark von Bitterfeld


  • jener Stadt, in der sich »das ganze Desaster des
    DDR-Erbes« konzentrierte, wie die ZEIT 1991
    schrieb. Besucht man Miltitz Aromatics heute, so
    fallen die großen Pflanzen in den Fluren und der
    angenehme Geruch auf dem Fabrikgelände auf. Das
    Unternehmen produziert Duftstoffe für Parfüm-
    und für Waschmittelhersteller. Geleitet wird es von
    Stefan Müller, dessen Vater nach der Wende seine
    Rentenansprüche verpfändet hatte, um den Betrieb
    mit einigen Kollegen aufzubauen; mit der Hilfe von
    Investoren aus dem Westen kauften sie damals
    Teile eines großen Volkseigenen Betriebs. Aus Mül-
    lers Sicht war das erfolgsentscheidend: »In unserer
    Firma haben West und Ost zusammengearbeitet,
    ohne dass einer übervorteilt wurde.«


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Eigentlich ist 2019 ein Jahr der
Freude: Deutschland feiert
30 Jahre Friedliche Revolution
und Mauerfall. Aber das Land ist
auch gespalten, und mitunter
haben Ost- und Westdeutsche
das Gefühl, einander nicht mehr
zu verstehen. Warum, das
ergründen wir in einer
zwölfteiligen Serie.

Serie:


Erklär mir den Osten


(9/12)


In Zeulenroda-Triebes stellt Hans B. Bauerfeind medizinische Hilfen wie diese Kniebandagen her, die er seit Jahren immer weiter optimiert

Fotos: Felix Adler für DIE ZEIT

28 WIRTSCHAFT 17. OKTOBER 2019 DIE ZEIT No 43


ZEIT FORUM GESUNDHEIT
Wie bringt man Kinder dazu, sich gesund zu ernähren? Ob im Kindergarten, der Schulkantine oder am eigenen Esstisch: Bemühungen um
eine ausgewogene Kinderverpflegung stellen Familien und Institutionen immer wieder vor Herausforderungen. Welche Chancen und Risiken
verschiedene Ernährungs- und Erziehungsmethoden dabei mit sich bringen, ist umstritten.
Das sechste ZEIT FORUM Gesundheit wirft einen Blick auf das Streitthema Kinderernährung und greift aktuelle kontroverse Fragen auf: Wie viel
Verantwortung tragen Eltern, welchen Anteil die Gesellschaft? Wie ist es um das Verpflegungsangebot in deutschen Kitas und Schulen bestellt?
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Sie herzlich ein, teilzunehmen und mitzudiskutieren!
Ort: Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften · Markgrafenstraße 38
Beginn: 19 Uhr | Der Eintritt ist frei | Programm und Anmeldung: http://www.zeit.de/forumgesundheit
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KINDERERNÄHRUNG


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  1. OKTOBER 2019 · BERLIN


VOM HOCHSTUHL BIS ZUR SCHULKANTINE


Eine Veranstaltungsreihe von: In Zusammenarbeit mit:

Bundesministerin
Julia Klöckner

PD Dr. med.
Thomas Ellrott Prof. Heiko Witt

Moderation:
Dr. Katharina Kompe Andreas Sentker

Fotos v.l.n.r.: © Ellrott, © CDU Rheinland-Pfalz, © Maja Schültingkemper, © Witt, © Martin Schoberer

. Anbieter: Zeitverlag Gerd Bucerius GmbH & Co. KG, Buceriusstraße, Hamburg


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