Illustration: Karsten Petrat; Infografik: DZ
Z
wanzig Euro füllen bei einem
deutschen Discounter eine ganze
Tüte mit Lebensmitteln, im ame-
rikanischen Supermarkt bloß
eine halbe. In den USA zahlen
Handy-Nutzer um die 80 Dollar
pro Monat – in Deutschland rei-
chen rund 15 Euro aus. Verkehrte Welt. Ist Ame-
rika nicht das gelobte Land der scharfen Konkur-
renz und der niedrigen Preise? Und die EU ein
bürokratisches Monstrum, das alles reguliert?
Nun bestätigt die Wissenschaft die Shopping-
Storys. Ende Oktober erscheint ein Buch des
Ökonomen Thomas Philippon von der New York
University. Der Titel sagt alles: The Great Reversal:
How America Gave Up on Free Markets (»Der gro-
ße Rollentausch: Wie Amerika sich von freien
Märkten verabschiedet hat«). Die Vorschau liefert
ein Aufsatz, den Philippon mit seinem Kollegen
German Guttierez 2018 veröffentlicht hat.
Die Verkehrung der Verhältnisse ist umso dra-
matischer, als die USA schon Ende des 19. Jahr-
hunderts den Monopolen und Kartellen den Krieg
erklärten – zu einer Zeit, da Europa ein Paradies für
solche Konkurrenz-Killer war. In den USA hatten
es »Räuberbarone« wie die Rockefellers, Vanderbilts
und Carnegies zu weit getrieben. Sie hatten Märkte
monopolisiert oder aufgeteilt, Preise manipuliert
und die Konkurrenz dezimiert. Im Jahre 1890 war
es damit vorbei.
Damals verabschiedete der Kongress den legen-
dären »Sherman Antitrust Act«. Verboten wurden
Monopole und Preisab-
sprachen, Sündern drohten
Strafen und Entflechtung.
Die Gesetze wurden im
- Jahrhundert regelmä-
ßig verschärft. Nach 1945
wurde dieses Wettbewerbs-
recht zum Vorbild für Eu-
ropa, vorweg für die Bun-
desrepublik.
Die Europäer erwiesen
sich als die besten Schüler
Amerikas. So entstand den
Autoren zufolge »ein brei-
ter internationaler Kon-
sens, der sich zumal in
Europa an der amerikani-
schen Praxis ausrichtete.
Die USA behielten ihren
Vorsprung«, der auf eine
»längere Geschichte straf-
bewehrter Überwachung zurückging«. Nach
Kriegsende konnten sie fallende Preise und steigen-
de Realeinkommen genießen. Ein Goldenes Zeit-
alter für Amerikas Verbraucher begann.
Diese Erfahrung hätte für die »bleibende Wett-
bewerbsfähigkeit« des US-Marktes sorgen müssen.
Warum dann der Rollentausch mit Europa?
Die kurze Antwort: »wegen der EU«. In den
Achtzigern begann die Kommission den Knüppel
zu schwingen. Das Opfer war die alte Gemütlich-
keit, hatten doch die Hauptstädte Handel und In-
dustrie vor der Konkurrenz durch europäische Nach-
barn geschützt. Die Kommission setzte die Brech-
stange der Deregulierung an – bei den »nationalen
Champions« der Airlines, Eisenbahnen, Postdiens-
ten und Telefongesellschaften. Plötzlich florierte der
Wettbewerb, die Preise purzelten.
Wieso konnten diese knöchernen Bürokraten
bei einer Jahrhundertaufgabe reüssieren, an die
sich nationale Politiker nie getraut hätten? Wieso
konnten sie die Privilegien gut organisierter
Kräfte kappen?
Erstens lieferte die EU nun ein prächtiges Alibi;
die heimischen Regulatoren konnten ihre Hände in
Unschuld waschen: »Das waren doch nicht wir, das
waren doch diese herzlosen Beamten in Brüssel!« Im
Namen Europas, einer hehren Vision, konnte ge-
lingen, was mächtige Interessen auf nationaler Ebe-
ne hätten torpedieren können.
Zweitens konnten die Liberalisierer ein altbe-
kanntes Problem knacken, das in der Fachsprache
»regulatory capture« heißt – wenn die Kontrollierten
die Kontrollinstanzen kapern. Daheim ist es ein
kurzer Weg von der Agrarlobby zum Agrarministe-
rium, von der Autoindustrie zum Kraftfahrt-Bun-
desamt. In Brüssel läuft das nicht so glatt. Der jewei-
lige Kommissar ist nicht einer Regierung verpflich-
tet, sondern deren 28. Das öffnet eine Zwickmühle.
Natürlich würden die Mitgliedsstaaten liebend gern
die Aufsichtsbehörden entern, um einen Vorteil für
ihr Land herauszuschlagen. Freilich wollen sie nicht,
dass ein anderes Land zugreift. Also doch lieber die
Gelüste zügeln. So bleibt der Regulierer von natio-
nalen Egoismen verschont; er kann das gesamteuro-
päische Interesse, die Marktbefreiung, durchsetzen.
Schließlich zieht die multinationale Kon-
struktion der EU der schnöden Einflussnahme
durch gewählte Politiker Grenzen. Wahlkampf-
spenden greifen nicht so wirksam wie zu Hause.
Hier kann ein Industrieverband Parteien und
Politiker mit Geld freundlich stimmen. Gerade
im US-Kongress, wo der einzelne Abgeordnete
besonders empfänglich ist, zeugen Spenden Ge-
winn. Nach der Wahl wird sich der Volksver-
treter erkenntlich zeigen und die Aufsichts-
behörde bearbeiten.
Im Europaparlament ist es schwerer, Einfluss zu
kaufen. Es hat gar nicht die Macht nationaler Legis-
lativen. Also wirft der Cash-Nexus wenig politischen
Profit ab. Eine Mehrheit der Abgeordneten aus
28 Ländern auf seine Seite zu ziehen wäre zudem
teurer als im US-Kongress, wo eine Lobby nur eine
Partei oder gar nur ein paar Schlüsselfiguren über-
zeugen muss.
Solche Unterschiede erklären den Rollentausch,
obwohl die USA jahrzehntelang die schärferen
Gesetze hatten. »Das EU-Wettbewerbsdirektorat
ist unabhängiger als das US-Justizministerium oder
die Federal Trade Commission«, resümieren die
beiden Verfasser. Zudem hätten in den USA
»Wahlkampfspenden die
Einhaltung der Regeln ge-
schwächt und so den
Marktzugang erschwert«.
Die »Räuberbarone« von
vorgestern würden applau-
dieren. Doch globale Kon-
zernchefs feiern Westeuro-
pa als »derzeit attraktivsten
Investitionsstandort« (sie-
he ZEIT Nr. 27/19).
Ein Beispiel liefern die
Airlines. Den Sektor be-
herrschen in Amerika vier
Riesen. In der EU tum-
meln sich sechs Schwerge-
wichte wie die Lufthansa
sowie fünf mittelschwere
Player wie die SAS neben
vier kleineren wie der Finn-
air. So ist die Konzentrati-
on in Amerika dreimal höher als in der EU. Folglich
ist auch die Profitrate bei den US-Linien entschie-
den höher als in Europa: 9 versus 2,5 Prozent. Es
ist wie im Lehrbuch: Je weniger Konkurrenten,
desto höher die Renditen.
Fusionen auf dem Wege zur Marktdominanz
sind auf der anderen Seite des Atlantiks weitaus
einfacher als hier. Man blicke nur auf die vier
amerikanischen Digitalgiganten Google, Face-
book, Apple und Microsoft. Die schlucken fast
täglich Firmen, zumal Konkurrenten, die einen
technologischen Vorteil errungen haben. Ama-
zon rollt im Sauseschritt den Einzelhandel auf.
Theoretisch müsste marktfeindliche Konzen-
tration die Wachhunde alarmieren. Die beißen
in der EU jedoch öfter und kräftiger zu als in
Amerika (siehe Grafik). Zwischen 1995 und
1999 wurden in den USA noch deutlich mehr
Strafen gegen den Missbrauch von Marktmacht
verhängt. Dann preschte Brüssel davon. Zehn
Jahre später (2005–2009) mussten europäische
Unternehmen neun Milliarden Euro zahlen,
amerikanische nur drei. In jüngster Zeit war die
Differenz noch drastischer. In der EU waren die
Bußgelder sechsmal höher als in den USA.
In Amerika begünstigt der Trend die Zusam-
menballung von Marktmacht, mithin den Preis-
und Profitanstieg. Bloß hatten die Erfinder des
Wettbewerbsrechts keine Ahnung von Face book
und Co. Warum solchen weltumspannenden
Kraken die Fangarme abschlagen, wenn wir für
ihre Leistungen nichts bezahlen müssen? Klassi-
sche Monopol-Theorie – Marktmacht als Preis-
treiber – liefert keine gute Antwort. Hier geht es
um die Herrschaft des Kostenlosen nicht nur
über den Markt, sondern auch über die Gesell-
schaft. Cookies, die sich milliardenfach zu lukra-
tiven Big Data verdichten, spürt niemand.
Die alten Markteroberer haben das Angebot ge-
staucht, um so die Preise hochzujagen. Die Netzwerk-
Herrscher machen das Gegenteil. Sie liefern mehr
und mehr zum Nulltarif; dafür monopolisieren sie
die Köpfe. Die Suchmaschine von Google lässt sich
nicht zerschlagen wie einst IG Farben oder Rocke-
fellers Standard Oil. Wer will denn in vielen kleinen
Googles stochern? Oder in vielen Facebooks posten?
Allenfalls ließen sich Instagram oder WhatsApp ab-
trennen, doch 2,5 Milliarden Mitglieder bleiben im
Zentrum der Macht, nämlich bei Face book. Das
wünscht sich auch die EU nicht, obwohl die schnel-
ler und härter reagiert hat als Washington. Statt-
dessen hat sie bislang knapp acht Milliarden Euro an
Bußgeldern gegen Google verhängt, weil es andere
Werbe-Anbieter behindert hat.
Gegen Facebook und Apple laufen Ermittlungen
nun auch in Amerika, wo sich der Kongress sowie
verschiedene Bundesstaaten eingeschaltet haben. Das
Ziel ist die Reform der Gesetze, die im vorigen Jahr-
hundert entstanden sind, als es um Öl oder Eisen-
bahnen ging – und um den Einsatz gegen Industrien
mit langen technologischen Zyklen. Die Dampflok
hielt sich 150 Jahre, Großvaters Wählscheiben-Telefon
klingelte ein halbes Jahrhundert lang. Doch Apple
wechselt alljährlich die Modelle. Wie ein Monopol
knacken, wenn das Geschäftsmodell von gestern nicht
mehr existiert? Es klafft eine immer größere Schere
zwischen der sich überschlagenden Di gi tal- Re vo lu tion
und dem Schneckentempo des Staatsapparates. Der
muss mühsam die jetzt angedachten neuen Wege in
Regeln und Gesetze gießen.
Die Entmachtung eines früheren Tech-Riesen, des
US-Telefon-Monopols AT&T zog sich über acht
Jahre hin. Heute sind manche Nachkommen größer
als der einstige Mutterkonzern, zumal in der Mobil-
Telefonie. Als das Justizministerium 1974 Anklage
erhob, war das Handy für alle bloß ein Fan ta sie-
gespinst. 1999 nahm sich die US-Regierung Microsoft
vor, weil Bill Gates sein Windows-Monopol miss-
braucht habe. Ein Jahr später verfügte ein Bundesge-
richt die Zerschlagung des Konzerns. Microsoft exis-
tiert noch immer – und ist größer als je zuvor.
In dieser Welt den Wettbewerb zu retten ist ein
Sisyphus-Projekt. Doch ist Europa beim Steinerollen
besser als Amerika. Den »gesichtslosen Bürokraten« in
Brüssel sei Dank, auch wenn sie uns mit Bananen- und
Pizza-Verordnungen nerven.
Bußgelder für Missbrauch
der Marktmacht in Millionen Euro
Der Preis der Übermacht
ZEIT-GRAFIK/Quelle: G. Gutiérrez and T. Philippon,
»How America Lost Its Competitive Edge«, 2018
US-Justizministerium (gesamt)
EU (nur Kartellvergehen)
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Wer hätte das gedacht? Im alten Europa herrscht mehr Wettbewerb als auf dem
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