Die Zeit - 17.10.2019

(Kiana) #1
Von allem zu viel? In
Deutschland hat Zucker
einen schlechten Ruf

Foto: Philotheus Nisch

Überzuckert


Weltweit wird zu viel Zucker produziert. Nun will der Marktführer


die Abhängigkeit von seinem Stoff verringern VON DIETMAR H. LAMPART E R


S


ieht so ein Drogendealer aus?
Kurzhaarfrisur, dunkler Anzug,
dezente Krawatte, der Blick
freundlich. Nein, an Wolfgang
Heer ist nichts verdächtig. Und
wenn der 64-jährige Wirtschafts-
ingenieur an diesem Spätsom-
mertag in Mannheim mit kurpfälzisch gefärbtem
Tonfall die Lage der Dinge erklärt, wirkt er
durchaus vertrauenerweckend.
Was Wolfgang Heer aber verdächtig macht: Er
verkauft Zucker. Und zwar so viel wie niemand
sonst. Der Pfälzer ist Vorstandsvorsitzender der Süd-
zucker AG, Marktführer in Deutschland und Eu-
ropa, der größte Weißzuckerhersteller der Welt. Der
Konzern mit 19.000 Beschäftigten und Sitz in der
badischen Industriemetropole versorgt nicht nur
Supermärkte und Tante-Emma-Läden, die Lastwa-
gen aus seinen 28 europäischen Zuckerfabriken
liefern die weißen Kristalle auch tonnenweise an
Großabnehmer aus der Lebensmittelindustrie. Ob
Schokolade von Ritter Sport, Kekse von de Beuke-
laer oder Coca-Cola – überall ist Südzucker drin.
Aber Zucker ist ins Gerede geraten. Wenn es um
die Gesundheit geht, wird das »süße Gift« (Spiegel)
neuerdings in eine Reihe mit Suchtstoffen wie
Heroin, Tabak oder Alkohol gestellt. Da erklären
die »Essensretter« von Foodwatch den 12. August
zum »Kinder-Überzuckerungstag«, weil dann die
zuträgliche Menge für das gesamte Jahr schon er-
reicht sei. Landwirtschaftsministerin Julia Klöckner
(CDU) hat der Lebensmittelindustrie im Rahmen
der von der Regierung vorangetriebenen »Reduk-
tions- und Innovationsstrategie für Zucker, Fett &
Salz« empfohlen, freiwillig eine Lebensmittelampel
(Nutri-Score) vorn auf ihre Packungen zu drucken.
Je mehr Zucker in einem Produkt drin ist, desto
höher die Wahrscheinlichkeit, dass so der Button
rot (ungesund) statt grün (gesund) anzeigt.
»Da wird mittlerweile publizistisch sehr über-
trieben«, sagt der Südzucker-Chef. Es gehe immer
um das Übergewicht, »und da ist Zucker nicht allein
verantwortlich. Der Zuckerverzehr in Deutschland
ist seit 30 Jahren gleichbleibend.« Was sich verändert
habe, sei der Lebensstil: Fertigprodukte konsumie-
ren statt selber kochen. Zu wenig Bewegung im Ver-
hältnis zu den aufgenommenen Kalorien.
Noch ist der Absatz in Europa kaum gesunken,
aber die drei deutschen Zuckerriesen Südzucker,
Nordzucker und Pfeiffer & Langen haben aktuell
ein noch größeres Problem. Im Jahr 2017/18 wur-
de in Europa eine Rekordernte eingefahren. Zudem
vertrieben große Rohrzuckerproduzenten wie
Brasilien, Indien oder Thailand Rekordmengen.
»Das Angebot überstieg die Nachfrage bei Weitem«,
sagt Heer. Die Folge: Die Preise für Zucker sind in
der EU und im Rest der Welt dramatisch eingebro-
chen. Mitte 2017 wurde die Tonne Weißzucker
noch zu gut 500 Euro gehandelt, im Spätsommer
2018 war die Tonne nur noch knapp 300 Euro
wert. Damit könne kaum ein Zuckerproduzent auf
der Welt mehr Geld verdienen, sagt Heer.
»Wir erleben derzeit die größte Branchenkrise
seit Jahrzehnten«, beschreibt der Südzucker-Chef
die Lage. Das letzte Geschäftsjahr schloss Südzucker
mit einem Rekord-Bilanzverlust von über 800
Millionen Euro ab (Umsatz 6,7 Milliarden Euro).
Und auch im ersten Halbjahr 2019 schrieb das
Unternehmen hohe Verluste im Zuckergeschäft.


Zucker ist für den Unternehmenserfolg weit
weniger wichtig als in früheren Jahren


Doch trotz der dramatischen Entwicklungen wirkt
der Südzucker-Chef erstaunlich gelassen. Der
Topmanager hat seine gesamte Karriere im Unter-
nehmen verbracht, seit 2009 steht er an der Spitze.
Und während dieser Zeit hat sich viel getan bei
Südzucker.» Das Gewicht von Zucker hat sich in
unserem Unternehme stark verändert«, sagt Heer.
Will sagen, andere Geschäfte sind wichtiger gewor-
den. Der bereits von seinen Vorgängern vor 25
Jahren begonnene Diversifikationskurs zahle sich
aus. Gut 60 Prozent des Umsatzes macht der Kon-
zern mittlerweile außerhalb des klassischen Zucker-
geschäfts. Und das sorgte dafür, dass trotz der Krise
im »operativen Geschäft« unterm Strich noch ein
kleiner Gewinn übrig blieb. Zudem hat Südzucker
bei der Strategie in seinem Stammgebiet eine dras-
tische Kehrtwende angekündigt. »Man muss hinter
die Zahlen schauen«, sagt Heer. Er ist guten Mutes,
dass Südzucker bald wieder bessere Zeiten sieht.
Was außerhalb des Unternehmens kaum be-
kannt ist: Südzucker stellt nicht nur Weißzucker in
allen Formen her, sondern ist in drei weiteren gro-
ßen Geschäftsgebieten engagiert.
So sind die Mannheimer mit ihrem Tochter-
unternehmen CropEnergies der größte europäische
Hersteller von Bioethanol. Der aus nachwachsen-
den Rohstoffen gewonnene Industriealkohol wird
etwa Benzin (E5, E10) beigemischt.
Im Geschäftsbereich »Spezialitäten« stellen
Konzerntöchter Stärkeprodukte aller Art her, sie
engagieren sich im Geschäft mit Portionsverpa-
ckungen und gehören in Europa und den USA zu
den größten Herstellern von Tiefkühlpizzen, die
von Discountern und Handelsketten als Eigen-
marken verkauft werden.
Im dritten Geschäftsbereich, Frucht genannt,
werden Früchtemischungen für Joghurts, Eiscreme
oder Backwaren produziert, hinzu kommen Frucht-
saftkonzentrate für die Getränkeindustrie.


Alle drei Nicht-Zucker-Sparten sind in den ver-
gangenen Jahren gewachsen, organisch und durch
Zukäufe. Es gehe dabei immer »um die industriel-
le Veredelung von Naturprodukten«, sagt Heer.
Doch wie will Südzucker die Probleme im an-
gestammten Zuckergeschäft lösen, bei dem allein
im Geschäftsjahr 2018/19 mehr als 200 Millionen
Euro Verlust geschrieben wurden?
»Wir haben im Januar beschlossen unsere Stra-
tegie zu ändern«, sagt Heer. Und diese Änderung
hat es in sich. Anstatt zu expandieren, will Südzu-
cker künftig weniger Zuckerrüben verarbeiten.
»Wir wollen 700.000 Tonnen Weißzucker aus dem
Markt nehmen«, sagt Heer. Mitte September ist die
neue Zuckerrübenernte, Kampagne genannt, an-
gelaufen. Bis in den Januar hinein herrscht auf den
Äckern und in den Zuckerfabriken sieben Tage in
der Woche Betrieb rund um die Uhr. Danach aber
sollen vier der 28 Zuckerfabriken des Konzerns ge-
schlossen werden – zwei in Frankreich und zwei in
Deutschland. Eine in Polen ist schon zugemacht.
Das Kalkül dahinter: Mit den 700.000 Tonnen
wird genau die Menge aus dem Markt genommen,
die Südzucker im vergangenen Jahr mit hohen Ver-
lusten außerhalb der EU absetzte. »Unser Export
geht danach gegen null«, sagt Heer. Zudem könn-
ten die verbleibenden Fabriken besser ausgelastet
werden und damit rentabler produzieren.
Dabei hatten er und seine Vorstandskollegen
zwei Jahre zuvor noch andere Töne angeschlagen.
Sie wollten nämlich im Zuckergeschäft kräftig zu-
legen, in Europa und beim Export in andere Länder.
Anlass war das Auslaufen der EU-Zuckermarkt-
ordnung 2017. Die schützte viele Jahre lang vor
Konkurrenz. In Europa teilten sich bis dahin die
großen Zuckerkonzerne – allen voran die drei
großen deutschen Hersteller – den Markt auf. Das
Quotensystem der Zuckermarktordnung sorgte
dafür, dass jedes Land der EU im Wesentlichen so
viel von dem süßen Stoff produzierte, wie dort auch
verbraucht wurde.
Mit der Liberalisierung wollten die Südzucker-
Strategen ihre Größenvorteile gegenüber weniger
potenten Wettbewerbern ausspielen.

Die neue Rübenernte dürfte schlecht
ausfallen, die Preise könnten dann steigen

»Wir dachten, wenn am 1. Oktober 2017 die Quo-
ten abgeschafft werden, dann gilt Marktwirtschaft«,
sagt Fred Zeller, »wer wettbewerbsfähig ist, setzt
sich durch.« Zeller ist selbst Rübenbauer und Ge-
schäftsführer beim Verband Süddeutscher Zucker-
rübenanbauer (VSZ) mit Sitz im fränkischen
Ochsenfurt. Der Agrarökonom muss es wissen,
schließlich hält sein Verband mit seinen rund
15.000 Mitgliedern – die Hälfte aller deutschen
Zuckerrübenanbauer – gut 58 Prozent der Aktien
von Südzucker, dessen Vorläufergesellschaft einst
in den 1920er-Jahren von Rübenbauern gegründet
wurde. Und die im VSZ organisierten Landwirte
liefern ihre Rüben exklusiv an Südzucker. »Wir
haben gesagt, wir haben die besten Erträge in Eu-
ropa, haben die besten Fabriken und mit Südzucker
das größte Unternehmen der Branche als Partner.«
Doch mit dem freien Wettbewerb war es dann
nicht so weit her.
»Die Politik in Brüssel und Berlin hat versagt«,
schimpft Zeller. Denn gleich elf EU-Länder, vor
allem in Osteuropa, sprangen nach dem Ende der
Marktordnung ihren Landwirten mit Direkthilfen
für ihre Rüben bei. Zudem hebelten 13 EU-Staaten
per »Notfallzulassungen« die nach EU-Recht ei-
gentlich verbotene weitere Verwendung besonders
wirksamer Pflanzenschutzmittel aus. Deutschland
hingegen hält sich strikt an die Verbote.
»Resigniert, enttäuscht, ja wütend«, reagierten
seine Landwirtskollegen auf die Situation, sagt
Zeller. »Wir fühlen uns wie im Schraubstock.« Auf
der einen Seite würde alles liberalisiert, was angeb-
lich den freien Markt behindere, auf der anderen
Seite würden die Bauern etwa durch die verschärf-
te Düngemittelverordnung oder das Verbot von
Pflanzenschutzmitteln immer stärker reglementiert,
was die Produktion verteuere.
Letztlich haben aber auch die Vertreter der Rü-
benbauer im Südzucker-Aufsichtsrat dem Restruk-
turierungsplan des Vorstands zugestimmt. »Es gab
keine Alternative«, glaubt Zeller, »wir verdienen mit
dem Zuckerrübenanbau kein Geld mehr.«
Unumstritten waren die Fabrikschließungen
allerdings nicht. »Wir waren dafür, noch zwei, drei
Jahre durchzuhalten«, sagt Franz Josef Möllenberg.
Der ehemalige Vorsitzende der Gewerkschaft Nah-
rung-Genuss-Gaststätten (NGG), sitzt seit 1992
als Arbeitnehmervertreter im Südzucker-Aufsichts-
rat und ist der stellvertretende Vorsitzende.
Doch der Vorstand setzte sich durch. Jetzt wür-
den die Arbeitsplätze der Zuckerwerke im westfäli-
schen Warburg und im brandenburgischen Brot-
tewitz der Marktliberalisierung geopfert, kritisiert
Möllenberg. Dabei lägen beide Standorte in struk-
turschwachen ländlichen Gebieten. Seit mehr als
100 Jahren wurde in Brottewitz und Warburg Zu-
cker produziert. Vorbei. »Und die Jobs kommen
nicht zurück«, sagt der Gewerkschafter.
Knapp 5000 Menschen arbeiteten hierzulan-
de im klassischen Zuckerbereich, schätzt Möllen-
berg. Aber hinten dran hingen noch 50.000 Be-
schäftigte in der Süßwarenindustrie. Leider habe
der Zucker – anders als die Braunkohle oder die
Automobilbranche – keine politische Lobby. Und

bei jedem neuen Freihandelsvertrag, den die EU
schließe, falle man hinten runter. So sehe etwa das
Mercosur-Abkommen mit südamerikanischen
Ländern wie Brasilien zollfreie Zuckerimporte von
180.000 Tonnen vor. Das würde wieder eine Zu-
ckerfabrik in Europa kosten. In Brasilien aber
werde genauso wie in anderen großen Produktions-
ländern der Anbau von Zuckerrohr subventioniert.
Ausbeutung und Umweltfrevel seien in den Zucker-
rohrplantagen weitverbreitet.
Bei ihrer Klage über die »verzerrten Wettbe-
werbsbedingungen« sind sich Arbeitnehmer und
Vorstand völlig einig. Doch dies und alle Proteste
haben den vom Jobabbau betroffenen Beschäftigten
nichts genützt. Es gehe »nicht um Gewinnmaximie-
rung, sondern um Verlustreduzierung«, hat ihnen
Wolfgang Heer erklärt. Und in Mannheim sagt er
jetzt: »Wir haben mit allen Gewerkschaften an den
von der Schließung betroffenen Standorten faire
Abkommen erzielt.«
Im laufenden Geschäftsjahr rechnet Heer mit
einem operativen Konzerngewinn zwischen »null und
100 Millionen Euro« – je nachdem wie gut die Ge-
schäfte mit Pizzen und Bioethanol die Verluste aus
dem Zuckergeschäft kompensieren. Denn die Effek-
te der reduzierten Zuckerproduktion kommen erst
nach der nächsten Kampagne zum Tragen.
Entlastung an der Preisfront könnte ausge-
rechnet der Klimawandel bringen. Nachdem die
Zuckerernte in Europa schon im vergangenen
Trockenjahr ziemlich schlecht ausfiel, rechnet
der Zuckerrübenfunktionär Fred Zeller auch in
diesem Jahr mit einer schlechten Ernte. »In vie-
len Regionen hat es einfach zu wenig geregnet«,
sagt er. Dies werde die Zuckerpreise wohl wieder
steigen lassen.

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  1. OKTOBER 2019 DIE ZEIT No 43 WIRTSCHAFT 35


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