WISSEN
Der
Zweifel
Hält sich
Karliczek?
Kurz bevor Bundesforschungsministe-
rin Anja Karliczek (CDU) im Juni ver-
kündet, dass sie in Münster und Ibben-
büren – ihrem Wahlkreis – ein neues
Batterieforschungszentrum finanzieren
wolle, bittet sie ihre Ministeriumsmit-
arbeiter um Prüfung: welche »Sprach-
regelung« verwendet werden solle, falls
NRW den Zuschlag erhalte. Das geht
aus Ministeriumsunterlagen hervor, die
der ZEIT vorliegen.
Offenbar ahnte Karliczek den Vor-
wurf, der dann tatsächlich kam: Sie
habe die 500 Millionen Euro für das
Batterieforschungsprojekt in ihr Hei-
matland NRW gelenkt – das kritisieren
Politiker aller Parteien, aus dem Bund
wie aus den Ländern. Das Vergabever-
fahren sei intrans parent gewesen, der
eigentliche Favorit unter den Bewer-
bern (Ulm) aus nicht nachvollziehbaren
Gründen zurückgestellt worden. Tau-
sende Seiten Akte n wurden vom Mi-
nisterium an den Forschungsausschuss
im Bundestag überstellt. Dort vertei-
digte Karliczek sich, wie auch in Hin-
tergrundgesprächen mit Journalisten.
Die Zweifel aber bleiben. Insbeson-
dere am unübersichtlichen Verfahren
und an einigen beteiligten Vertretern
aus Industrie, Forschung und Ministe-
rium – und deren Agenda: Die Batterie-
zellforschung ist, vor allem für die Auto-
branche, ein umkämpftes Terrain. Dem
Bundesministerium geht es um die
Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands,
den Regionen um Arbeitsplätze, den
Landespolitikern um Proporz, den
Wissenschaftlern um Renommee.
Waren das zu viele Begehrlichkeiten zu
vieler miteinander vernetzter Akteure?
Mittendrin in diesem Netz hängt
Anja Karliczek. Schon seit ihrem
Amtsantritt gilt sie als Fehlbesetzung.
Vergangene Woche rempelte sogar
ihre Parteikollegin, Baden-Württem-
bergs Kultusministerin Susanne Eisen-
mann, sie frontal an: Sollten sich die
Vorwürfe bestätigen, sei Karliczek als
Ministerin »nicht mehr tragbar«. Das
nährt den Zweifel. Weniger an der
Vergabe des Batterieforschungs-
projekts als am politischen Geschick
der Ministerin, die eines der
schwächsten Glieder der großen
Koalition ist. ANNA-LENA SCHOLZ
A http://www.zeit.de/audio
MEDIZIN • ARCHÄOLOGIE • HOCHSCHULE • DIGITALISIERUNG • ESSEN
Ob das vermeintliche Wundermittel so gut ist wie angenommen, muss sich erst noch herausstellen
Foto: Philotheus Nisch für DIE ZEIT; Illustration: Timo Lenzen für DIE ZEIT
Die Pille gegen alles?
Metformin ist ein altes Medikament gegen Diabetes. Jetzt wird es als mögliche Allzweckwaffe
gehandelt – bei Krebs, gegen Herzleiden und als Hilfe zum Abnehmen VON HARRO ALBRECHT
E
s gibt Medikamente, bei denen
sich selbst Gesunde fragen müs-
sen, ob es nicht besser wäre, diese
prophylaktisch einzunehmen. Bei
der Acetylsalicylsäure, besser be-
kannt als Aspirin, war es lange
Zeit so, weil sie die Herzinfarkt-
gefahr mindern sollte. Dann kamen die Statine
auf, die nicht nur die Blutfette ins Lot bringen,
sondern auch sonst günstige Effekte auf den
menschlichen Organismus haben. Jetzt steht ein
neuer Kandidat auf der Liste: Metformin, seit
mehr als 60 Jahren ein Klassiker gegen Diabetes.
Der soll plötzlich nicht nur gegen Zuckerkrank-
heit helfen, sondern gegen alles. Krebs. Früh-
geburten. Übergewicht. Altern.
Seit einigen Jahren wecken Studien im Wo-
chentakt Hoffnungen, beflügeln Fantasien. Im
Einzelnen: Metformin könne Patienten beim Ab-
nehmen helfen; es reduziere das Risiko von Herz-
Kreislauf-Erkrankungen selbst bei Nichtdiabeti-
kern; es könne bei bestimmten Erkrankungen das
Risiko von Frühgeburten mindern; es könne sogar
den Nikotin-Entzug erleichtern (bisher allerdings
nur im Tierversuch). Die positiven Wirkungen
erscheinen so umfassend, dass einige gesunde,
experimentierfreudige Zeitgenossen es bereits
gegen das Altern einsetzen (ZEIT Nr. 30/19). Das
Beste daran: Metformin ist alt, deshalb patentfrei
- und daher sehr günstig.
Doch was ist an dem Hype dran? Eine der in-
teressanten »Nebenwirkungen« von Metformin ist
die mutmaßliche Hemmung von Krebszellen. So
hatten Typ-II-Diabetiker, die lange Zeit Metfor-
min einnahmen, seltener Krebserkrankungen als
solche, die mit Insulin behandelt wurden. Labor-
versuche schienen diesen Befund zu bestätigen.
Erst allmählich schälte sich der komplizierte Me-
chanismus heraus, auf welche Weise die Substanz
das schafft: Metformin greift an vielen Stellen
gleichzeitig in den Stoffwechsel ein. Es sorgt zum
Beispiel dafür, dass besonders das Lebergewebe
eine überschießende Glukoseproduktion drosselt,
wodurch der Zuckerspiegel im Blut sinkt. Gleich-
zeitig aktiviert es Mechanismen, die den Energie-
bedarf der Zellen senken: Zellteilungen und die
aufwendige Produktion von Eiweißen werden
hintangestellt, die Energiekraftwerke der Zellen,
die Mitochondrien, gebremst. »Dadurch arbeiten
die Zellen ökonomischer«, erklärt Michael Roden,
Direktor des Instituts für Klinische Diabetologie
an der Universität Düsseldorf. Krebszellen sind
ganz besonders auf Glukose angewiesen – und
Metformin lässt sie gleichsam verhungern. Zusätz-
lich aktiviert es den programmierten Zelltod.
Das Medikament wirkt also gleichzeitig an sehr
vielen Stellen. Das erklärt auch, warum es sich
möglicherweise gegen viele Erkrankungen einset-
zen lässt. Ebendiese Wirkungen waren lange Zeit
übersehen worden, denn 1922 wurde Insulin ent-
deckt. Das Problem Diabetes galt damit als weit-
gehend gelöst. Das schwächer wirksame Metfor-
min wurde nur noch in Europa und dort meist bei
älteren Patienten mit Typ-II-Diabetes eingesetzt.
Erst 1994 wurde es in den USA zugelassen, womit
der Kreis der Patienten, die das Medikament über
längere Zeit schluckten, wuchs – und damit die
verfügbaren Daten. Darin fiel plötzlich auf, dass
Patienten, die Metformin einnahmen, seltener
Herz-Kreislauf-Erkrankungen hatten. »Dieser
Effekt ist der Grund, dass Metformin in den klas-
sischen Diabetes-Leitlinien immer noch das Medi-
kament Nummer eins ist«, sagt Michael Roden.
Mittlerweile ist es das am häufigsten verschriebene
Diabetes-Medikament der Welt.
Trotz neuer Befunde wird Metformin offiziell
weiterhin nur zur Behandlung gegen den Typ-II-
Diabetes eingesetzt und gegen eine bestimmte
Form von Eierstockzysten, die mit Diabetes ein-
hergeht. Diese Zurückhaltung liegt an Erkenntnis-
problemen, mit denen die Medizin immer wieder
zu kämpfen hat. »Die ursprünglichen Daten stam-
men überwiegend aus der Epidemiologie, deren
große Kraft und Stärke in der großen Zahl der
Teilnehmer liegt«, sagt Roden. Daraus resultierten
interessante Assoziationen, aber eben nicht mehr.
Und bei den Laborversuchen seien so hohe Dosen
Metformin benutzt worden, sagt Roden, wie sie
im Menschen nie vorkämen.
Was bislang fehlt, sind kontrollierte Studien,
die die Mutmaßungen beweisen. Pharmafirmen
sind wenig interessiert daran, in die Erforschung
eines Medikaments zu investieren, dessen Patent
längst abgelaufen ist. Trotzdem sind solche Unter-
suchungen im Gange. »Es macht einen skeptisch,
dass einige dieser Studien schon sehr lange laufen
und noch nicht einmal vorläufige Ergebnisse ver-
öffentlicht worden sind«, sagt Roden.
Und was ist mit der prophylaktischen Therapie
von Gesunden? Kann das Medikament eine Ab-
nehmhilfe sein, sollte man es vielleicht als Krebs-
prophylaxe einnehmen oder als Vorbeugung gegen
Herzinfarkte?
Vor allem in den USA holen sich manche Men-
schen Metformin bereits auf eigene Faust. Jenseits
offizieller medizinischer Leitlinien experimentie-
ren sie mit dem Arzneimittel, eine sogenannte
Off-Label-Anwendung. Ist das auch in Deutsch-
land der Fall? »Es gibt immer wieder Hinweise,
dass der Off-Label-Einsatz versucht oder zumin-
dest diskutiert wird«, sagt Roden. Ja, Metformin
könne beim Abspecken helfen – aber höchstens
zwei bis drei Kilogramm. Und welche Nebenwir-
kungen drohen? Die bekannte Übersäuerung des
Blutes durch Metformin sei extrem selten; Nie-
ren-, Leber- und Herzkranke aber sollten deshalb
trotzdem darauf verzichten. »Das reale Problem
des Metformins ist die Flatulenz, die Blähung«,
sagt Michael Roden. Sie trifft ungefähr 15 Prozent
der Nutzer. Für einige Menschen sind die Darm-
winde so belastend, dass sie das Medikament ein-
fach nicht nehmen können.
Aber das sind Nebenschauplätze. Die große
Hoffnung bleibt, dass Metformin im Kampf gegen
Krebs hilft. Das Medikament, seit Langem ver-
schrieben, ist noch immer nicht ganz verstanden.
»Natürlich ist Metformin ein Mittel gegen
Krebszellen«, sagt Mathias Heikenwälder vom
Deutschen Krebsforschungszentrum, »aber es
macht auch viele andere Dinge im Stoffwechsel.«
Weil man deshalb nicht gut überblicken könne,
welche Nebenwirkungen eine Krebstherapie mit
Metformin habe, gebe es Hemmungen, es einzu-
setzen. Möglicherweise, sagt Heikenwälder, ent-
stünden durch das Aushungern von Krebszellen
erst recht Mutationen, wodurch der Krebs weiter-
wuchere. Auch der umgekehrte Fall sei indes
denkbar: »In Zukunft könnte man zum Beispiel
durch eine Metformin-Behandlung Tumorzellen
in eine metabolische Ecke treiben, wo man sie
dann mit einer sekundären Therapie erwischen
kann.« Er denke schon, dass Metformin Krebs-
patienten helfen könne: »Man muss nur die Rich-
tigen dafür finden.«
Quellen
Die UK Prospective Diabetes Study
zeigt 1998, dass Metformin die Sterblichkeit
an Herz-Kreislauf-Erkrankungen senkt
Eine Studie im International Journal of Cancer
legt 2018 nahe, dass Metformin die Über-
lebensrate bei Patienten mit Hirntumoren erhöht
Mounting Evidence Against an Association
heißt eine Analyse, in der der Nutzen von
Metformin bei Krebs bezweifelt wird
- OKTOBER 2019 DIE ZEIT No 43 37