KUBA
Vera- MAYA
cruz
Havanna
Chichen
Itzá
Santiago de Cuba
AZTEKENREICH
ZEIT-GRAFIK
200 km
Pazifischer Ozean
Karibisches Meer
Golf von Mexiko
Hernán Cortés’
Weg von Kuba
Tenochtitlan
W
enn auf den Ruinen, die Ar-
chäologen ausgraben möch-
ten, eine Millionenstadt steht,
wird es schwer. Vor allem,
wenn es sich um Mexiko-Stadt
handelt, eine der größten und
lautesten Metropolen des Pla-
neten. Grundmauern, Asphaltschichten, Abwasser- und
Stromleitungen: Wie jedes Zentrum moderner Zivilisa-
tion birgt die Stadt hartnäckige Barrieren, nur selten öff-
nen sich »winzige Fenster in die Vergangenheit« der Azte-
ken, wie es der mexikanische Archäologe Leonardo López
Luján in einem Aufsatz beschreibt. Wer als Forscher die
vorspanische Welt in der Hauptstadt ergründet, verbringe
die Tage in »dunklen, feuchten und übel riechenden Grä-
ben«. Öffne sich ein kleiner Schlitz in den Untergrund,
seien seine Mitarbeiter vor Ort, schreibt López Luján:
wenn ein Transformator installiert, eine U-Bahn gebaut,
ein Straßenbelag erneuert wird. Am Ende erwische man
mit Glück die kleine Ecke eines Tempels.
Die Funde aber, die sein Institut aus stinkenden Gru-
ben birgt, könnten spektakulärer kaum sein: Sie brechen
mit dem altbackenen Bild von den barbarischen Ur-
einwohnern Mexikos – und belegen, dass es vielmehr
eine blühende Hochkultur war, die nur ein Jahrhundert
lang schillerte und deren Führungselite am 13. August
1521 von spanischen Eroberern ausgelöscht wurde. Zu
sehen sind die Funde – und mit ihnen die Neudeutung
einer ganzen Kulturgeschichte – jetzt in einer Stuttgarter
Ausstellung zum Wirken der Azteken.
Gearbeitet haben die mexikanischen Archäologen im
Zentrum der aztekischen Kultur, am Templo Mayor –
damals Teil von Tenochtitlan, heute von Mexiko-Stadt.
Gerade mal 1,29 Hektar durften sie in drei Jahrzehnten
durchwühlen – ein Zehntel des sakralen Bereichs und nur
ein Promille der Fläche, auf der sich die Hauptstadt im
- Jahrhundert einst ausbreitete. Dennoch haben die
Wissenschaftler auf diesem urbanen Fitzelchen Erstaun-
liches zutage gefördert.
Dazu gehören Funde, die den alten, europäischen Blick
bestätigen: Die Azteken erscheinen hier als blutrünstige
Clique, die Menschen opferte, besiegten Gegnern das
Herz aus dem lebendigen Leib reißen ließ, die
vor Kannibalismus nicht zurückschreckte.
Gefunden wurden Opfersteine dieser rituel-
len Hinrichtungen und dafür geeignete
Schnittwerkzeuge aus Stein, und im Jahr
2015 auch der Stumpf eines sonderbaren
Turms. Gefertigt aus Kalk, Ton erde und
Hunderten von Menschenschädeln, be-
dient er den gewünschten Schauder.
Den legendären Huei Tzompantli scheint
es demnach tatsächlich gegeben zu haben, ein
berüchtigtes Bauwerk, das die Azteken dem Kriegs-
und Sonnengott Huitzilopochtli widmeten. Die Häupter
der Hingerichteten wurden erst durchbohrt und auf ein
Gestell gereiht und dann zur Mauer eines vier bis fünf
Meter hohen Turms auf ein an der ge schich tet. Einer dieser
Totenschädel ist auch in Stuttgart zu sehen. Wie viele es
ursprünglich waren? »Mehr als hunderttausend«, fabulierte
der spanische Konquistador Bernal Díaz del Castillo in
seiner posthum (1632) veröffentlichten Wahrhaften Ge-
schichte der Eroberung von Neuspanien. Im angeblich so
aufrichtigen Werk hatte der Hobbychronist genauso über-
trieben wie sein Vorgesetzter Hernán Cortés in Briefen an
den spanischen König Karl V. Die Schriftstücke der beiden
Eroberer sorgten maßgeblich für das schlechte Image, das
den vermeintlich so Wilden aus Mexiko bis heute anhaftet.
Die Texte haben nur einen Haken: Vor allem Cortés
besaß triftige Gründe, die Azteken in ein schlechtes
Licht zu rücken. Er war ohne Einwilligung seines Kö-
nigs an die Küste Amerikas gesegelt, hatte dort im Gold-
rausch eine Kultur vernichtet – frühe Fake News sollten
im Nachhinein die Rechtfertigung für den egoistischen
Eroberungstrip liefern. Am Ende waren es die heim-
gebrachten Schätze, die genügend Argumente dafür lie-
fern sollten, dass die Aktionen richtig waren.
Die damals nach Europa verfrachteten »Souvenirs«
bezeugen aber vielmehr einen bemerkenswerten ästheti-
schen Willen der Azteken. Die Federschilder etwa. Welt-
weit gibt es nur noch vier Exemplare, zwei der Kunst-
stücke sind im Besitz des Landesmuseums Württemberg.
Mehrere Schichten bunte Federn klebten die Künstler
mit Agavensaft auf einen Untergrund aus Pflanzenfaser-
vlies. Dazu rupften sie den zimtbraunen Eichhorn-
kuckuck oder den grün schillernden Quetzal – oder
sammelten auf, was bei der Mauser der gefangenen Tiere
zu Boden fiel.
Nicht minder begabt waren die aztekischen Bildhauer.
Der Gott Mictlantecuhtli, Herr der Unterwelt, lässt unter
seinen Rippen Leber und Gallenblase baumeln. Ein junger
Wolf, lange als »gefiederter Kojote« interpretiert, ist sowohl
naturalistisch dargestellt als auch ein Zeugnis modern an-
mutenden Designs: Elegant lässt er seine Mähne wehen –
als stünde er im Windkanal. Ein Wasserfloh und eine Heu-
schrecke, überlebensgroß in Stein gehauen, zeugen von
kunsthandwerklichem Geschick, denn die aztekischen
Künstler fertigten die robusten Preziosen nicht etwa mit
Stahlwerkzeug, sondern mit Gerät aus Stein.
Umso erstaunlicher, wie den Bildhauern ein Objekt
wie der Sonnenstein gelingen konnte. In Stuttgart ist
eine Re kon struk tion dieser Scheibe (3,60 Meter Durch-
messer) zu sehen. Sie stellt die komplexe Zeitrechnung
der Azteken dar: Zwei rechnerisch in ein an der verzahnte
Kalendersysteme, die alle 52 Jahre zusammenkommen
- worauf die Zählung von Neuem beginnt.
Die Azteken glaubten, dass sie nicht im ersten Zeitalter
lebten, sondern in der fünften Schöpfung. Über ihnen stand
demnach, Tag für Tag, die fünfte Sonne. Die erste Sonne
hatte 13 Kalenderzyklen lang oder 676 Jahre am Himmel
geleuchtet. Die Azteken glaubten, dies sei die Zeit der
Riesen gewesen. Man vermutet, dass gefundene Dino-
saurierknochen sie einst zu dieser Annahme verleiteten.
Naturgewalten waren die Inspiration für die Ausgestaltung
der weiteren Zyklen. Die zweite Schöpfung gehörte dem
Wind, in der dritten regnete es Feuer, in der vierten wütete
die Flut. Tatsächlich waren es Tropenstürme, der explodie-
rende Vulkan Popocatépetl und Überschwemmungen, die
die Vorstellungskraft anregten.
Am konkretesten ist dies an der meisterhaften Skulp-
tur des Gottes Ehecatl abzulesen. Sein fast zwei Meter
hoher spiralförmiger Schlangenkörper (siehe Foto) ver-
bildlicht eine Windhose, die sich im Uhrzeigersinn
dreht. Als zerstörerischer Tornado fegt sie übers Land
und schleudert Häuser und Lebewesen gen Himmel.
Drohende Naturgefahren erklären aber nur zum Teil
den oft überbordenden Opferdrang der schutzsuchen-
den Azteken. Es gab einen weiteren Grund, warum Göt-
tern menschliches Leben geopfert wurde: Der Tod galt
als Nährboden für neues Leben. Die Götter selbst, so
geht die Legende, hatten ursprünglich damit angefan-
gen, diese Vorstellung in konkrete Rituale umzusetzen.
Am Ende der vierten Sonne hatten zwei von ihnen sich
ins Feuer geworfen, damit eine fünfte Sonne und ein
Mond entstehen konnten. Aus dieser göttlichen Helden-
tat erwuchs menschliche Bringschuld. Eingelöst wurde
sie mit frischem Leben – als Grundessenz für künftiges
Leben. Das Wissen um die Legenden und Deutungen
erklärt – und entschuldigt? – den angeblichen Blutdurst
der Azteken, weil es ihn kontextualisiert.
Ihr Imageproblem handelten sich die Azteken aber
durchaus auch mit jener dreisten und brutalen Methode
ein, mit der sie sich vor 600 Jahren die Vorherr-
schaft auf dem Gebiet des heutigen Mexiko
sicherten: mit despotischer Machtpolitik.
Im 11. Jahrhundert war das noch kleine
Volk vom Ort Aztlan aus losgezogen. Auf
der Suche nach einer neuen Heimat ent-
deckte es im Tal von Mexiko, was der
Stammesgott Huitzilopochtli prophezeit
hatte: Wo ein Adler auf einem Kaktus sitzt
und eine Schlange verspeist, dort sei der
ideale Ort, die Zukunft in Angriff zu neh-
men. 1326 gründeten die Azteken auf Inseln
im Texcoco-See die Stadt Tenochtitlan. Sie fischten,
legten künstliche Beete für Mais, Bohnen und Chili an – die
»schwimmenden Felder« – und entdeckten als Einnahme-
quelle das Söldnerwesen. Sie übten Waffennutzung und
Kriegstaktik, führten die Schulpflicht für Jungen und
Mädchen ein und arbeiteten kontinuierlich daran, zur
Großmacht aufzusteigen.
Das gelang, weil sie umliegende Stadtstaaten dank
ihrer militärischen Mittel unter Druck setzten: Geld oder
Vernichtung! Am Ende hatten sie 450 Städte unterwor-
fen; fast drei Millionen Menschen lebten in ihrem Reich.
In viertel -, halb- oder ganzjähri gen Abständen flossen
Tributzahlungen nach Tenochtitlan. Die Leistungen er-
brachten die Untertanen in Form von Honig, Gold,
Kautschuk, Federn tropischer Vögel oder Jaguarfellen als
Polster für königliche Sitzmöbel.
Mit dem erlangten Reichtum schufen die Azteken einen
Ort, der den ankommenden Spaniern wie das Paradies er-
scheinen musste: Auf den Wasserstraßen zwischen den
Wohnblocks zirkulierte der Kanuverkehr. Auf dem riesigen
Markt boten Händler exotische Güter und goldenen Zier-
rat an. Mit seinen 200.000 Einwohnern stand Tenochtitlan
anderen Weltstädten jener Zeit – Konstantinopel oder
Paris – in nichts nach. Im Gegenteil: Die medizinische
Versorgung war gar so gut, dass kranke Spanier es vorzogen,
sich von aztekischen Heilern kurieren zu lassen.
Warum es so leichtfiel, diese intakte Leistungsgesell-
schaft zu unterjochen, ist bis heute ein Rätsel. Hernán
Cortés war ein vom Glück begünstigter Hasardeur – aber
ausgestattet mit taktischem Geschick. Ohne den Segen der
Krone stach er in See, mit zehn Schiffen, 400 Soldaten, 14
Kanonen. In Tenochtitlan wurde er freundlich empfangen - und nahm dann König Moctezuma hinterhältig gefangen.
Der durfte fortan nur noch unter Duldung der Spanier
regieren. Als Marionette, die Autorität dahin. Der nächste
König starb an Pocken, eingeschleppt von den Spaniern.
Der aztekische Herrschaftsapparat zerfiel.
Nachdem sie zwischenzeitlich die Hauptstadt flucht-
artig hatten verlassen müssen, kehrten die Spanier zurück.
Diesmal waren sie wirklich mächtig, dank einer neuen List.
Sie hatten sich die Hilfe jener gesichert, die zuvor von den
Azteken geknechtet worden waren: Sie versprachen den
umliegenden Stadtstaaten, sie von der Tributpflicht gegen-
über den Azteken zu befreien. Tatsächlich flossen die Luxus-
güter fortan nicht mehr in aztekische Hände. Sondern in
die der neuen Herren aus Europa.
Fotos: Wolfgang F. Meier/RJM/Rheinisches Bildarchiv Köln; Hendrik Zwietasch/Landesmuseum Württemberg (r.)A http://www.zeit.deeaudio
Im
Auge des
To r n a d o s
Eine spektakuläre Ausstellung
zeigt: Die Azteken waren kein
barbarisches Volk, sondern eine
Hochkultur VON URS WILLMANN
ARCHÄOLOGIE
Quellen:
»Azteken«, die aktuelle
Große Landesausstellung Baden-Württemberg,
dauert bis zum 3. Mai 2020
Inés de Castro, die Direktorin des
Linden-Museums in Stuttgart,
führte uns durch die Ausstellung
Der informative Katalog zur
Azteken-Schau ist im Hirmer Verlag
erschienen (336 S., 34,90 €)
Links zu diesen und weiteren Quellen
finden Sie auf ZEIT ONLINE
unter zeit.de/wq/2019-43
Wie ein
Wirbelsturm:
Die Statue des
Windgotts
Ehecatl hat
die Form
einer Spirale.
Kleines Bild:
Federschild
von 1520
38 WISSEN 17. OKTOBER 2019 DIE ZEIT No 43