Die Zeit - 17.10.2019

(Kiana) #1

  1. OKTOBER 2019 DIE ZEIT No 43 WISSEN 43


G


ibt es etwas Privateres als
den Leib? Als meinen Kör­
per, der mich ausmacht,
mitsamt dem Gehirn?
Zurzeit befasst sich der
Bundestag wieder mit die­
sem Thema, denn es liegen
mehrere Anträge für ein neues Organspende­
gesetz vor. Muss man ausdrücklich zugestimmt
haben, damit dem eigenen Körper nach dem
Tod Organe entnommen werden können? Das
ist die »Zustimmungslösung«. Oder genügt es,
nicht widersprochen zu haben? Das ist die
»Widerspruchslösung«.
Die Abgeordneten sind sich uneins, aber nicht
entlang der Parteigrenzen; die ein an der wider­
sprechenden Anträge sind parteiübergreifend.
Die Zustimmungslösung verficht eine über­
parteiliche Gruppe von Abgeordneten um die
Grünen­Vorsitzende Annalena Baer bock. Die
Widerspruchslösung liegt dem Gesetzentwurf
einer ebenfalls überparteilichen Gruppe um
Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU)
und den SPD­Gesundheitsexperten Karl Lauter­
bach zugrunde. Diesem Entwurf zufolge gilt
jeder Bürger als möglicher
Organspender, der zu Leb­
zeiten keinen Widerspruch
erklärt hat. Wenn zugleich
auch den nächsten Ange­
hörigen kein entgegenste­
hender Wille bekannt ist,
gilt die Organentnahme
als zulässig.
Nun wartet alles auf
den Termin im Oktober
oder November, an dem
im Bundestag die Meinun­
gen auf ein an der sto ßen
werden. Mit Begleitmusik:
Ärzteverbände, Kirchen­
vertreter, Philosophen ha­
ben sich bereits Ende September während einer
Anhörung des Bundestages geäußert, und all­
mählich verschärft sich der Ton.
Die zugrunde liegende Frage reicht allerdings
weiter als das Thema Organspende. Sie betrifft
schwerwiegende Probleme wie Impfpflicht,
Sterbe hilfe oder Leihmutterschaft, aber auch All­
tagsthemen wie zum Beispiel Bekleidungsvor­
schriften. Die Frage lautet: Wem gehört mein
Körper – nur mir oder auch der Gesellschaft?
Im Jahr 1971 hatte der Slogan »Mein Bauch
gehört mir« eine enorme Durchschlagskraft.
Ebendeshalb. Er lehnte jede Einmischung der
Allgemeinheit in die körperlichen Angelegenhei­
ten der Frau ab und daher auch das Abtreibungs­
verbot. Gar so selbstverständlich ist der Slogan
aber nicht – weder im Streit ums Abtreibungs­
recht noch im Krach um bauchfreie Sommer­
mode im Schulunterricht. Die Körpermitte gilt
vielen als durchaus so zial pflich tig. Im Kopftuch­


streit ist es dann der Kopf. Auffällig oft ist übri­
gens der weibliche Körper der Kampfplatz.
Wem also gehört mein Körper? Schon der
britische So zial phi lo soph John Stuart Mill, ein
Liberaler, wunderte sich 1859 darüber, dass
»Wesen und Grenzen der Macht, welche die Ge­
sellschaft rechtmäßig über das Individuum aus­
übt«, eine selten erörterte Frage seien. Obwohl
sie doch viele Debatten »durch ihr geheimes
Dasein tief beeinflusst«. So ist es bis heute.
Mills Formulierung ist auch deshalb interes­
sant, weil sie drei Beteiligte nennt: ausdrücklich
das Individuum und die Gesellschaft, indirekt
aber auch den Staat, denn der setzt ja das Recht
fest. Damit ist unsere Frage nach der Sozial­
pflichtigkeit des Körpers präzisiert: Welchen Zu­
griff hat der Staat auf meinen Körper?
Mills Antwort: »Dem Individuum sollte der
Teil des Lebens gehören, bei dem hauptsächlich
der Einzelne interessiert ist, der Gesellschaft da­
gegen der Teil, an dem die Gemeinschaft ihr In­
teresse hat.« Klingt plausibel, bleibt aber rätsel­
haft. Denn wonach bemisst sich dieses »haupt­
sächlich«? Und in welchen Einheiten wird im
Einzelfall gemessen, ob das Interesse des Indivi­
duums oder das der Ge­
sellschaft überwiegt?
Nähern wir uns dem
Thema auf einem Umweg.
Der Soziologe Norbert
Elias beschrieb 1939 die
Gesellschaft als eine »Figu­
ration« von Körpern, und
zwar nach dem Vorbild ei­
nes getanzten Menuetts:
Die Struktur der Gesell­
schaft besteht in der auf ein­
an der abgestimmten Bewe­
gung der Tänzer. Das mag
trivial klingen, in den So­
zialwissenschaften ist aber
just dieser Umstand, dass
eine Gesellschaft aus echten Körpern gebildet
wird, jahrzehntelang nicht beachtet worden.
Die Tanzschritte folgen Regeln. Die Bewegung
ist den Individuen nicht vollkommen anheimge­
stellt. Man mag der Ansicht sein, heutzutage herr­
sche in den meisten Gesellschaften mehr Körper­
freiheit denn je – schließlich sind die Zeiten der
Leibeigenschaft oder der viktorianischen Sitten­
strenge vorbei. Doch Elias zeigte, dass das Geflecht
der Gewaltverbote, Anstandsregeln und anderer
Verhaltensnormen seit dem Mittelalter eher enger
als weitmaschiger geworden ist – man vergleiche
nur die Tischsitten. Bei Tisch wird nicht mehr ge­
rülpst und gefurzt. Auch das Strafrecht enthält eine
Fülle von Verboten körperlichen Verhaltens, die
zu­ und nicht abnimmt. So ist beispielsweise die
Vergewaltigung in der Ehe erst seit 1997 strafbar.
Verschoben hat sich jedenfalls die Verteilung der
Freiheiten. Der Mann ist eben nicht mehr frei, mit
dem Körper einer Frau zu tun, was er will. Der Staat

Fortsetzung auf S. 44

We m


gehört


mein


Körper?


Politiker streiten über Impfpflicht,


Organspende, Sterbehilfe und Abtreibung.


Immer prallen die Rechte des Einzelnen


und der Gemeinschaft aufeinander:


Wer darf über Leib und Leben


bestimmen? Versuch einer Antwort


VON GERO VON RANDOW

wacht sehr wohl über ihre körperlichen Beziehungen,
vielleicht sogar noch nicht genug.
Man kann noch weiter gehen. Ohne den Zu­
griff auf die Körper seiner Bürger kann kein Staat

existieren. Es müssen ja nicht Züchtigungen oder
die Todesstrafe sein, aber Gefangennahme und
Abschiebung, Terrorbekämpfung und gezielter
Todesschuss, Gummiknüppel oder Wasserwerfer

sind sehr körperliche Mittel, die Staatsmacht gegen
Individuen durchzusetzen.

ETHIK


Francesco Ciccolella für DIE ZEIT

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Herzen:
259

Nieren:
1216

Lebern:
597

Transplantierte Organe* in
Deutschland im Zeitraum Januar
bis September 2019

Wenig Herz


* nach dem Tod gespendet; ZEIT-GRAFIK/Quelle: DSO

Im Würgegriff: Der Patient zwischen Medizin und Gesetzen
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