Die Zeit - 17.10.2019

(Kiana) #1
Darf der Staat das? Darf er einem Säugling gegen den
Willen der Eltern abgeschwächte Viren injizieren, die eine
Hirnhautentzündung auslösen können? Das Risiko, dass
die Masernimpfung eine derartige Schädigung nach sich
zieht, ist zwar verschwindend gering; laut Bundeszentrale
für gesundheitliche Aufklärung gab es weltweit nur
»wenige Einzelfälle«, und ein Zusammenhang mit der
Impfung sei nicht einmal belegt. Doch so gering das Risiko
auch sein mag, und sei es nur für leichtere Reaktionen wie
Fieber und Ausschlag, es bleibt die Grundsatzfrage: Hat
der Staat das Recht, die Gesundheit Einzelner aufs Spiel zu
setzen, um die Gesundheit vieler zu schützen?
Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) findet:
Ja. Er will Kinder und Erwachsene, die Kitas und Schulen
besuchen oder dort arbeiten, zur Impfung gegen Masern
verpflichten. Masern, so heißt es in Spahns Gesetzentwurf
zur Impfpflicht, gehörten zu den ansteckendsten In fek­
tions krank hei ten: »In vielen Fällen treten schwere Kom­
plikationen, im schlimmsten Fall mit Todesfolge, auf.« Weil
die Durchimpfungsrate der deutschen Bevölkerung unter
die kritische Marke von 95 Prozent gefallen sei, müsse die
bisherige Freiwilligkeit durch Zwang ersetzt werden, lautet
die Begründung für das Gesetz.
Dieser bußgeldbewehrte Zwang kollidiert mit drei Ver­
fassungsgarantien: dem Recht auf körperliche Unversehrt­
heit, dem Erziehungsrecht der Eltern und der Menschen­
würde. Die ersten beiden lassen sich noch recht einfach
gegen die Rechte der Mitmenschen abwägen. Weil das
Risiko, durch eine Masernimpfung leicht zu erkranken,
deutlich geringer ist als das Risiko, durch Ansteckung schwer
zu erkranken und zu Tode zu kommen, gebietet es der
Schutz der körperlichen Unversehrtheit der Mehrheit, für
das eigene Kind die Impfung hinzunehmen. Aus demselben
Grund tritt das Erziehungsrecht der Eltern hinter die Ge­
sundheitsinteressen eigener und fremder Kinder zurück.
Doch wie steht es mit der Menschenwürde? Artikel 1
des Grundgesetzes schützt den Bürger davor, verdinglicht
zu werden. Der Mensch darf nie zum bloßen Objekt des

Staates gemacht werden. Doch wenn ein Bürger nicht
geimpft werden möchte, auch nach der Verhängung eines
Bußgeldes nicht, müssten ihn dann nicht etwa Polizisten
festhalten, damit ihm eine Nadel in den Oberarm ge­
stochen werden kann? Das Bundesgesundheitsministeri­
um verneint das: »Eine Zwangsimpfung kommt in keinem
Fall in Betracht.« Doch in Fällen drohender Epidemien
darf der Staat schon heute Zwangsimpfungen anordnen.
Laut Infektionsschutzgesetz kann in Extremfällen ange­
ordnet werden, dass Teile der Bevölkerung an Schutz­
impfungen »teilzunehmen haben«.
Aber wäre dies nicht eine Verzweckung der Menschen,
weil sie dazu benutzt würden, andere zu schützen? Aus ei­
nem ganz anderen Kontext, aber aus derselben Prinzipien­
welt stammen folgende Sätze des Bundesverfassungs­
gerichts: »Die Betroffenen (...) werden dadurch, dass ihre
Tötung als Mittel zur Rettung anderer benutzt wird, ver­
dinglicht und entrechtet.« Mit diesem Hinweis auf die
Menschenwürde erklärte das Gericht 2016 ein Gesetz für
nichtig, das der Bundesregierung den Abschuss eines von
Terroristen entführten Passagierflugzeuges erlaubt hätte.
Der Unterschied zur Impfung ist natürlich, dass die Passa­
giere mit Sicherheit stürben, sollte ein Bundeswehr­Kampf­
jet das Flugzeug, in dem sie sitzen, beschießen. Aber das
Problem der Verzweckung besteht in beiden Fällen.
Außerdem: Wenn es gerechtfertigt ist, jemandem ein
bisschen was (etwa einen Fieberschub nach der Imp­
fung) anzutun, um viele andere zu schützen, wie will
man da das Folterverbot aufrechterhalten? Nehmen wir
den Fall eines geständigen Bombenlegers im Verhör­
raum, der eine Explosion durch die Preisgabe des Bom­
benverstecks noch verhindern könnte. Warum dürften
Polizisten ihm nicht eine kleine Nadel unter den Finger­
nagel schieben, ihm also vorübergehenden Schmerz zu­
fügen, um Hunderte oder Tausende zu retten?
Wann immer Jens Spahns Masernschutzgesetz verab­
schiedet wird – es dürfte vor dem Bundesverfassungsgericht
landen. Den Richtern stehen harte Fragen ins Haus.

D


ie Frage, ob ein Mensch, zumal ein
sterbenskranker, über seinen Tod selbst
bestimmen und ob er für die Beendi­
gung seines Lebens die Unterstützung eines
Arztes in Anspruch nehmen darf, gehört zu den
schwierigsten. Wohl noch in diesem Jahr wird
das Bundesverfassungsgericht erstmals in seiner
Geschichte ein Urteil über die Grenzen ärztlicher
Sterbehilfe fällen. Eine für die gesamte Gesell­
schaft zufriedenstellende Regelung wird es nicht
geben können. Zu hart und fundamental stoßen
religiöse, moralische, ethische und rechtliche
Einstellungen aufeinander, zu unterschiedlich
sind die persönlichen Erfahrungen.
Jede aktive Sterbehilfe ist strikt verboten. Wer
einen Menschen auf dessen Wunsch hin tötet,
wird wegen Tötung auf Verlangen mit bis zu fünf
Jahren Gefängnis bestraft. Beihilfe zum Suizid
bleibt nur straflos, wenn der Sterbewillige seinen
Tod selbstständig herbeigeführt hat. Das heißt:
Die Zyankalikapsel darf ihm zwar auf den Nacht­
tisch gelegt werden, doch muss er sich diese aus
eigener Kraft in den Mund führen. Für Ärzte
bedeutete das bis 2015: Besorgten sie einem
Patienten das tödliche Medikament, drohte ihnen
nach den Standesregeln zwar der Verlust ihrer
Approbation, ihre Assistenz beim Suizid war
jedoch straffrei.
Erlaubt ist Ärzten hingegen die passive Sterbe­
hilfe, also der Abbruch lebenserhaltender Maß­
nahmen wie etwa das Abschalten eines Beat­
mungsgeräts, wenn dies dem Willen des Patienten
entspricht. Oder die indirekte Sterbehilfe, zum
Beispiel die Verabreichung starker Schmerzmittel,
die im Endstadium das Leben verkürzen können.
Die Regeln waren so diffus, die Verunsiche­
rung unter Ärzten und Sterbehelfern derart groß,
dass der Gesetzgeber 2015 ein Gesetz erließ, das


endlich Klarheit schaffen sollte. Heraus aber
kamen nur weiteres Chaos und neuer Streit, den
jetzt das Verfassungsgericht entscheiden muss.
Der neue Strafrechtsparagraf 217 führt erstmals
den Begriff der »geschäftsmäßigen« Beihilfe ein
und ahndet eine solche Tat mit bis zu drei Jahren
Gefängnis. Doch was heißt das für einen Arzt?
Wann beginnt das Geschäft mit dem Tod?
Der Impuls des Gesetzgebers ist nachvollzieh­
bar und ehrenhaft. Er will verhindern, dass Ver­
wandte Druck auf lebensmüde Angehörige aus­
üben, dass Ärzte nach eigenem Ermessen den Tod
herbeiführen, dass Sterbehilfevereine aus Geldgier
zum Suizid raten und am Ende womöglich eine
Sterbewelle auslösen. Untersuchungen etwa aus
den Niederlanden deuten darauf hin, dass eine
Liberalisierung der Sterbehilfe durchaus zu einem
Anstieg von Suiziden führen kann.
Umgekehrt lässt sich aber argumentieren: Um­
fassen die im Grundgesetz festgeschriebene Men­
schenwürde und das Persönlichkeitsrecht nicht
auch das Recht auf ein selbstbestimmtes Sterben?
Und ist es am Ende nicht viel humaner, wenn ein
Sterbewilliger bei seinem Tod von einem Arzt
unterstützt wird, der bereits Erfahrungen mit
assistierten Suiziden gesammelt hat? 2017 urteilte
das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig, dass
einem Sterbenskranken ermöglicht werden müsse,
sich selbst zu töten. Ihm dürfe darum in einer
»extremen Notlage« nicht der Zugang zu einem
todbringenden Medikament verwehrt werden.
Das nun angerufene Bundesverfassungsgericht ist
in keiner Weise an das Urteil der Leipziger
Richter gebunden. Gleichwohl ist deren Rechts­
meinung nicht ohne Einfluss – und die lautete:
»Der Einzelne ist insbesondere am Lebensende
und bei schwerer Krankheit auf die Achtung und
den Schutz seiner Autonomie angewiesen.«

Der Gesundheitsminister plant eine Impfpflicht. Dem könnte
das Grundgesetz entgegenstehen VON JOCHEN BITTNER

Dürfen Ärzte Schwerstkranken tödliche Mittel besorgen? Darüber
entscheidet bald das Bundesverfassungsgericht VON MARTIN KLINGST

Der Piks und


d ie Würde


Grenzen der


Sterbehilfe


ETHIK


Informationen des Gesundheitsministeriums
zur geplanten Impfpflicht: bit.ly/2GfT5yC

Links zu diesen und weiteren Quellen:
zeit.de/wq/2019-43

WISSEN 45


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