- OKTOBER 2019 DIE ZEIT No 43
FEUILLETON 55
Der österreichische Schriftsteller Peter Handke wurde am 6. Dezember 1942 geboren. Seine Romane und Theaterstücke machten
ihn früh berühmt. Am 10. Dezember wird ihm in Stockholm für sein einflussreiches Werk der Literaturnobelpreis 2019 verliehen
Bleibender Schatten
Peter Handkes Engagement für Serbien wird heftig kritisiert.
Tut man dem großen Dichter da etwa unrecht? VON THOMAS ASSHEUER
H
ow dare you«, könnte man ihnen
zurufen, wie könnt ihr es wa-
gen? Anstatt Peter Handke,
einen der sprachmächtigsten
Schriftsteller der Gegenwart,
zum Literaturnobelpreis zu gra-
tulieren, schmäht ihr sein Werk:
Das amerikanische PEN-Zentrum ist »sprachlos«
über die Wahl eines Schriftstellers, der »Genozid-
verbrechern publizistischen Beistand« leistete. Und
der Schriftsteller Saša Stanišić nutzte seine Dankes-
rede zur Verleihung des Deutschen Buchpreises, um
den künftigen Literaturnobelpreisträger massiv an-
zugreifen: »Ich bin erschüttert« (siehe S. 58).
Man kann den Protest verstehen. Die Wunden
sind offen wie am ersten Tag, wie damals, beim ersten
großen Streit um Handke. Unvergessen sind seine
Zweifel an der Ermordung von mehr als 8000 musli-
mischen Männern und Jungen in Srebrenica, seine
verächtlichen Sätze über bosnische »Muselmanen«,
seine Wahlempfehlung für einen ultranationalisti-
schen Hasspolitiker, sein Treffen mit dem Kriegsver-
brecher Radovan Karadžić. Und so weiter.
Mit wütender Hartnäckigkeit, mehr als zehn Jahre
lang, hat sich Peter Handke mit dem Jugoslawienkrieg
aus ein an der ge setzt, doch wer heute an diese Schriften
erinnert, gilt schnell als jemand, dem die intellektuel-
len Kapazitäten fehlen, um säuberlich zwischen Autor
und Werk zu unterscheiden. Der Spiegel etwa legt
Wert auf die Feststellung, Handke sei als Dichter auf
den Balkan gereist und nicht als Reporter, denn mit
Reportern kennt sich das Magazin bekanntlich aus.
Botho Strauß beschwerte sich schon vor Jahren,
Deutschlands »konsensitiv geschlossene Öffentlich-
keit« habe keine Ahnung von des Dichters »Größe«;
sie kenne nur das »allgemein Richtige« und nicht das
tiefe »Wahre«. So scheint es wie immer: Das Nattern-
gezücht der politisch Korrekten versprüht sein Gift
gegen einen Dichter, dessen Wahrheit in Tiefenschich-
ten reicht, die moralisierende Gutmenschen nicht ein-
mal vom Hörensagen kennen. Wer groß dichtet, darf
auch groß irren.
Trennung von Autor und Werk, von Kunst und Mo-
ral? Nichts wäre schöner, als mit dieser salvatorischen
Formel Frieden mit diesem unvergleichlichen Autor zu
schließen, aber es wäre ein fauler Frieden, eine erpresste
Versöhnung. Sie würde dem Werk nicht gerecht, denn
zu seinem Glück und zu seinem Unglück hat sich Hand-
ke selbst nie an diese Trennung gehalten.
Handke, das vergisst man leicht, ist das Kind einer
philosophischen Revolution, der größten, die es im
- Jahrhundert gegeben hat: der Revolution der Sprache.
Ihre Losung hieß »Wörter machen die Welt!«, sie organi-
sieren die Wahrnehmung, sogar das Riechen und das
Schmecken. Wörter richten Menschen ab, sie machen
die Fantasie reich, sie machen sie arm. Wörter, schreibt
der junge Handke, sind keine »Fensterscheiben«, durch
die man auf die Welt blickt; mit der Sprache könne man
die Dinge »drehen«, und das sei eine »gesellschaftliche
Aufgabe«. Wer die Wörter ändert, der ändert die Welt,
und der »Bewohner des Elfenbeinturms« tritt den Beweis
an. Handke schreibt die Publikumsbeschimpfung (1966),
zwei Jahre später Kaspar Hauser (1968), ein Theaterstück
über die Allgewalt der Sprache in den Händen der Macht.
Wie sie foltert, quält, zugrunde richtet.
Großartige Bücher entstehen aus dem kritischen Geist
der Sprachrevolution, Bücher von brutaler, überscharfer
Genauigkeit in einem leuchtend klaren Deutsch, das
keiner so beherrscht wie Handke. Aber was heißt beherr-
schen – Handke will die Sprache gerade nicht beherr-
schen, er will sie zum Schweben bringen. Er schreibt eine
zögernde, fragende Prosa, für ihn sind Worte wie Bilder,
die die Dinge erst zur Erscheinung bringen. Die wahre
Sprache ist eine Sprache ohne Gewalt; sie schafft »Welt-
empfänglichkeit«, sie stiftet »Bedeutsamkeit«, sie verstärkt
unsere »Anwesenheit« im Leben. Handke schreibt es
immer wieder: Im Naturfrieden der Sprache ereignet sich
die Epiphanie der Welt, sie verwandelt sich, sie lässt »sich
sehen«. Nicht länger herrschen die Menschen über sich
und andere. Die Steine beginnen zu reden, und unter
dem Blick des Dichters »fällt der Regen aufwärts«.
Es gab Schreibkrisen, und irgendwann in den Acht-
zigerjahren wollte Handke nicht mehr nur die Wahr-
nehmung des Einzelnen trainieren, er wollte die Welt
im Ganzen erzählen. Die Wörter sollen die Gesellschaft
nicht mehr revolutionieren, sie sollen sie romantisieren.
Sehr früh und sehr hellsichtig hat Martin Walser diese
Poetik als »Mischung aus Wittgenstein und Hei deg ger«
bezeichnet, und nun neigt sich die Waagschale zu Hei-
deg ger. Der Ton wird feierlich, Weihrauch steigt auf, mal
spricht Handke von der Mythisierung der Welt, mal vom
Heiligen, als sei das kein Gegensatz. Auf ein unbeding-
tes moralisches Gesetz kann Handkes Kunstreligion
dabei getrost verzichten, denn dieses steckt ja bereits in
der »Moral« der heiligen Sprache. Ihr Licht zeigt uns die
Welt wie am ersten Tag in ihrer »sozusagen politisch-
ästhetisch-ethischen Stille«. Das »Erscheinen der Welt«,
schreibt er in seinem Roman Die Wiederholung (1986),
»war zugleich die einzige Vorstellung von einem Gott,
welche mir über die Jahre geglückt ist«.
Romantisierung der Welt, die langsame Heimkehr
einer bilderlosen, imaginativ verarmten Zivilisation zu
sich selbst: Das war Handkes Programm vor dem Mauer-
fall, in der scheinbaren Windstille der Geschichte. Doch
dann, in den Jahren nach 1989, nach dem spektakulären
Ende des Kalten Krieges, in dem Moment, als sich der
kapitalistische Sieger an seinem Triumph über den Kom-
munismus berauschte, schien er seine romantische Zu-
versicht zu verlieren. Das Genie der Wahrnehmung
spürte eine Bedrohung, er sah die »Bleibe« der Menschen
in Gefahr oder, wie es nun hieß: die »Sprache des Volkes«.
Der Westen ist für Handke nur noch das Rationale und
Rechenhafte; seine Meinungsmüllmedien verdürben das
Sehen und pflanzten die Gewalt in die Herzen unschul-
diger Völker. Alles, den ganzen Planeten, überziehe der
Westen mit seiner »beschissenen Realzeit« und zwinge
den Nationen ein Leben auf, das nicht mehr das ihre sei.
Das westliche Leben, so wird Handke es in seinem Ro-
man Der Bildverlust beschreiben, ist ein Leben in der
Kälte des abstrakten Rechts – eines Rechts, das die kon-
krete Gemeinschaft auflöst und ihre urwüchsige Gerech-
tigkeit zersetzt.
Wie reagiert Handke literarisch auf den Epochen-
bruch von 1989? Er hält Ausschau nach den letzten
unberührten Flecken, nach Enklaven und Rückzugs-
orten, er sucht Niemandsbuchten und Jaunfelder, er
sucht das Neunte Land mit seinen Sprachabstammungs-
gemeinschaften, wo die schönen alten Namen noch nicht
durch sinnlose Zahlen ersetzt wurden und der Vater das
Gesetz verkörpert und die Mutter die Liebe. 1994 er-
scheint sein Tausendseitenroman Mein Jahr in der Nie-
mandsbucht, eine artistische »Komödie der Kontem-
plation«, die in ihrem »penetrant harmonischen Schluss«
(Martin Seel) die Aussöhnung von Sein und Sprache
beweihräuchert. Wie zum letzten Mal.
Als dann Jugoslawien zerfällt, sieht Handke seine Vor-
ahnungen bestätigt – die »Manhattan-Zivilisation«
werde sich auch diese Enklave noch einverleiben. Hand-
ke trauert über das Aus ein an der fal len des Vielvölker-
staates, doch Mitte der Neunzigerjahre beginnt auch sein
Drama, nicht nur ein persönliches, sondern das Drama
seines Werks. Längst hat er sich in einen metaphysischen
Dualismus hineinspekuliert, in dem es nur noch eine
Wahrheit gibt: auf der einen Seite die Dichtung, auf der
anderen Seite die »Information« – die Lügen aus der »ver-
meintlichen Welt«, verbreitet vom »europäischamerika-
nischen Großbildkapital«, von seinen Allesfressern und
Humanitätshyänen. Sie zwingen alle Völker dieser Erde,
ihr Heiligstes aufzugeben, ihrer Mütter Sprache.
Handke, kurz gesagt, attackiert die westlichen »Raum-
verdrängerrotten« mit Kriterien, die er seiner fiktiven
Dichtungswahrheit entnommen hat, er trennt nicht
zwischen Kunst und Politik, im Gegenteil – er will, dass
seine Wahrheit politisch wird, dass sie zur Welt kommt.
TITELTHEMA: LITERATURNOBELPREIS
Fortsetzung auf S. 56
Foto: Laura Stevens/Camera Press/laif
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