Die Zeit - 17.10.2019

(Kiana) #1

56 FEUILLETON


TITELTHEMA: LITERATURNOBELPREIS


Passt schon


In einem Künstlerleben gibt es fast immer Abgründe und Irrwege. Die Ehrung von Handke ist goldrichtig VON EVA MENASSE


G


roße Kunst setzt voraus, dass
ein fehlbares Menschlein et-
was geschaffen hat, das von
seiner Bedeutung und Wir-
kungsdauer weit über ihm,
dem Menschlein, steht. Das
ist eines der Geheimnisse der
Kunst und unverhandelbar; sie wird nicht vom gu-
ten Menschen geschaffen, sondern vom genialen. Es
ist viel darüber sinniert worden, ob sich der gute
Mensch, den man wohl als ausgeglichenen, vermit-
telnden, aufopferungsvollen Philanthropen definie-
ren würde, womöglich besonders schlecht zum
Künstler eignet.
Kunst ist oft dann ergreifend und von jahrhun-
dertelanger Wirkung auf die Menschen, wenn sie die
Extreme verbindet, wenn sie aus dem Hässlichsten,
zu dem der Mensch fähig ist – Eifersucht, Lüge, Hass,
Folter, Mord –, eine ästhetisch überwältigende Er-
zählung schafft. Das setzt aber voraus, dass sich der
Künstler auskennt in den menschlichen Abgründen.
Viele bedeutende Künstler waren psychisch krank,
kriminell, Rassisten oder sonst wie moralische Mons-
ter, alles altbekannt. Das fassungslose Erstaunen
darüber, das trotzdem regelmäßig ausbricht, hängt
mit der Wirkung ihrer Werke zusammen: Wer sich
gerade von Wagners Tristan oder dem überirdisch
schönen Se la mia morte brami von Carlo Gesualdo
zu Tränen rühren ließ, kann kaum ertragen, dass der
eine, ein Antisemit, vom Verbrennen vieler Juden in
einer Nathan-Aufführung fantasiert, der andere aus
Eifersucht Frau und Kind erstochen hat.
Deshalb ist die Diskussion über die moralische
Qualifikation eines Künstlers obsolet; das Werk wirkt
oder eben nicht. Das zumindest gilt in aufgeklärten
liberalen Zeiten. Das heißt keineswegs, biografische
Schandflecken zu verleugnen; sondern man erforscht
sie. Im besten Fall stehen sie dann, bis in den hin-
tersten Winkel peinlich hell beleuchtet (etwa Thomas
Mann als katastrophaler Vater und qualvoll verkapp-
ter Homosexueller), wie die grau-gipsernen Guss-
formen neben den strahlenden Werken.
Ohne Zweifel ist Peter Handke ein Autor von
Weltrang. Sein literarisches Schaffen ist so bedeutend,
dass es den Literaturnobelpreis verdient, es ist groß
und vielgestaltig, es ist weltweit verfügbar und be-
kannt. Dabei ist es nun gerade kein Werk, das sich

vorrangig mit dem Schmutzigen und Bösen beschäf-
tigt, auch keines, das von einer Ideologie in Geiselhaft
genommen werden könnte (es sei denn von einer
Bewegung für mehr individuelle Innerlichkeit). Aller-
dings ist es ein hochtrabend egomanisches Werk; das
Werk eines Einzelgängers und Eigenbrötlers, der
seine poetisch-lyrischen Funken seit Langem aus dem
obsessiven Selbstgespräch schlägt und sich auf nichts
verlässt als den eigenen, ganz merkwürdig genordeten
Kompass. Aus dem jungen Wilden, der in Princeton
das Publikum beschimpfte, ist gerade kein Provoka-
teur vom Typus Houellebecq geworden, sondern je-
mand, der sich trotzig seine eigene, recht abgelegene
Kunstwelt gebaut hat. Die verrätselten, manchmal
verblasenen Texte der letzten beiden Jahrzehnte haben
dabei die großartigen früheren etwas übergraut: Den
Erzählungen Wunschloses Unglück, Kindergeschichte,
Langsame Heimkehr oder der Notizensammlung Das
Gewicht der Welt sind im Gefolge des Nobelpreises
viele neue Leser zu wünschen.
Zugespitzt: Kaum ein Werk
eines deutschsprachigen Künst-
lers hätte eigentlich weniger
Potenzial zur Kontroverse.
Wäre da nicht der politische
Peter Handke. Aber auch dieser
ist untypisch, jedenfalls un ter
den dezidiert politischen
Schriftstellern. Dass er, wie Böll
und Grass, bei Sitzblockaden mitgemacht oder Bun-
deskanzlern brieflich Ratschläge erteilt hätte, ist nicht
bekannt. Er hat, abgesehen von einer schweren, immer
wieder ausbrechenden Allergie gegen die Zumutungen
der Welt (seine Allergene sind Journalisten, Medien-
sprech, Mainstream und lebende Konkurrenten), hier
immer nur ein Thema jenseits seiner Literatur gehabt:
eine sentimental verzeihende Liebe zu Serbien.
Dass Handke mit seinen Äußerungen und Texten
die Hinterbliebenen von serbischen Kriegsverbrechen
und Massakern (Srebrenica, Višegrad) schockiert hat,
dass sich Opfer von ihm verhöhnt fühlten, dass seine
Einlassungen unklar, raunend und an Stellen poeti-
sierend waren, wo Poetisches nur obszön sein konnte,
ist hinreichend belegt. Mit dem blutkühlenden Ab-
stand von 23 Jahren muss man aber festhalten: Ein
Text wie Eine winterliche Reise zu den Flüssen Donau,
Save, Morawa und Drina oder Gerechtigkeit für Serbien

wäre, vom in Kärnten geborenen, nunmehr in Paris
lebenden Hansi Müller geschrieben, gar nicht oder
nur als sperriger Text eines versponnenen Reiseschrift-
stellers wahrgenommen worden. Der gigantische,
Handkes Ruf weithin vernichtende Skandal, den
diese Reportagen verursachten, war überhaupt nur
auf Basis seiner literarischen Prominenz möglich und
ist beim Wiederlesen kaum mehr verständlich. Jeden-
falls haben weder das Buch noch Handkes spätere
skurrile Teilnahme am Begräbnis Slobodan Miloševićs
irgendjemanden von der Unschuld der Serben beim
grauenvoll blutigen Zerfall Jugoslawiens überzeugt.
Möglicherweise wurde, gerade um Handke zu wider-
legen, der verworrene Verlauf der Balkankriege noch
präziser analysiert. Der größte Schaden, den Handke
verursachte, richtete sich gegen ihn selbst. Der prä-
digitale Shitstorm war nach Ansicht vieler die ver-
diente Antwort. Heute sind die Mittel, Skandal und
Protest zu erzeugen, noch tausendmal wirksamer. Und
das kollektive Moralempfinden
verfeinert sich in dem Ausmaß,
in dem der Streit in den sozialen
Medien brutaler wird.
Dennoch: Wir haben es
nicht mit einem in der Wolle
gewirkten Nationalisten, Mör-
derversteher und Faktenver-
dreher zu tun, der auch noch
mit einem Preis belohnt worden
ist, sondern mit einem zum »Tatzeitpunkt« 1996
berühmten Literaten auf politischen Abwegen. Dieser
Unterschied ist bedeutsam. Die Literaturgeschichte
ist voll von solchen.
Viele Autoren haben sich von ihrem meisterhaften
Umgang mit Sprache, von der Macht, die sich da-
durch über andere Menschen gewinnen und genießen
lässt, verführen lassen, ihr Talent für fragwürdige po-
litische Ziele einzusetzen. Martin Walser, ein anderer
großer Schriftsteller, hat im Laufe seines langen Lebens
beinahe jedes Fähnchen einmal hochgehalten, vom
extrem linken DKPler bis zum traurigen Patrioten,
der vor dem Fall des Eisernen Vorhangs von der Wie-
dervereinigung träumte. Das aber galt damals als
skandalös und geradezu deutschnational – besonders
aufseiten der westdeutschen Linken, die den Entwurf
eines »anderen Deutschland« noch zugestehen woll-
ten, als sich die damit beglückten DDR-Bürger schon

massenhaft vom Acker machten. Martin Walsers po-
litische Biografie ist exemplarisch für vieles, was an
Künstlern oft so schwer zu verstehen ist. Wie gesagt,
hat er politisch vieles ausprobiert, aber immer – und
das ist im Rückblick geradezu komisch – zur jeweils
ganz falschen Zeit. Der Grund liegt in einem domi-
nanten Widerspruchsgen, das viele Künstler und
Intellektuelle (Slavoj Žižek oder der bereits zitierte
Houellebecq) in sich tragen und das, neben der Denk-
und Sprachgewalt, ihr größtes und notwendiges Ka-
pital ist: ein unbändiges Misstrauen gegen den Zeit-
geist und seinen Comment, eine je nach Fall bewun-
dernswerte, mutige, verschwendete, falsche, oft selbst-
beschädigende Kraft, sich dem entgegenzustemmen.
Ein Literaturnobelpreis, der nicht sofort zum
Skandal erklärt würde, ist eigentlich keiner. Er wäre
dann nur schnödes Geld, entkleidet der Aufregung
und Theatralik. Es gibt solche Gewinner auf der
Liste der letzten Jahre, wir wollen den Mantel des
Schweigens und Vergessens, der über ihnen liegt, gar
nicht lüpfen. Davon abgesehen ist es eine bunte Liste
an Verrückten, Verdächtigen und lautstark für un-
würdig Gehaltenen. Der Literaturnobelpreis ist ein
schwedisches Danaergeschenk, das wusste Peter
Handke, als er vor Jahren sagte, er gehöre abgeschafft.
Denn indem sie ihn bekommen haben, werden die
meisten Gewinner die banalen Etiketten nie wieder
los, mit denen sie ab nun im Menschheitsgedächtnis
gespeichert werden – auch im Gedächtnis all jener,
die noch nie eine Zeile von ihnen gelesen haben und
wegen der Etiketten nicht mehr lesen werden. Schau-
en wir uns die Liste mit diesem unliterarischen Scheel-
auge an: Da gibt es Kriegstreiber (France), Hitler-
Bewunderer (Hamsun), Frauenquäler (Canetti, He-
mingway), ehemalige SS-Mitglieder (Grass), männer-
fressende Emanzen (Jelinek) und sogar, horribile
dictu, einen Popsänger (Dylan). Unwürdige über
Unwürdige. Hier reiht sich nun Peter Handke ein,
einerseits ein bedeutender Autor, andererseits jemand,
der um einen angeklagten Kriegsverbrecher öffentlich
trauerte. Für eine Nobelpreis-Jury, die sich aufgrund
von Skandalen fast um ihre Existenz gebracht hätte,
eine wirklich erstaunliche Wahl. Aber wie man im
süddeutschen Raum zu sagen pflegt: Passt schon.

Die österreichische Autorin Eva Menasse erhielt in
diesem Jahr den Ludwig-Börne-Preis in Frankfurt

DIE ZEIT: Herr Žižek, was halten Sie vom
Literaturnobelpreis für Peter Handke?
Slavoj Žižek: 2014 hat Handke die Abschaf-
fung des Nobelpreises gefordert, der sei eine
»falsche Kanonisierung« der Literatur. Dass
er den Preis jetzt selbst bekommt, zeigt: Er
hatte recht.
ZEIT: Sie stammen aus Ex-Jugoslawien, ei-
nem Land, das für Handke stets eine melan-
cholische Utopie war. Verstehen Sie ihn?
Žižek: Natürlich verstehe ich das, nichts
leichter als das. Der Nobelpreis für Handke
ist ein weiteres Zeichen für das, was Robert
Pfaller die »Interpassivität« der westlichen
Linken nennt: Sie wollen gerne authentisch
sein, aber durch einen anderen, der das au-
thentische Leben an ihrer Stelle lebt. Handke
hat lange Jahre interpassiv sein authentisches
Leben gelebt, frei von der Korruption des
westlichen Konsumkapitalismus, und zwar
durch Slowenen, seine Mutter war Slowenin.
Für ihn war Slowenien ein Land, in dem die
Worte noch direkt in Verbindung standen
mit den Dingen. In den Läden hieß Milch
einfach »Milch«, keine kommerzialisierten
Markennamen störten das Bild. Die slowe-
nische Unabhängigkeit und die Bereitschaft
des Landes, der Europäischen Union beizu-
treten, haben in ihm dann eine gewalttätige
Aggression entfacht: Er hat die Slowenen nur
noch als Sklaven des österreichischen und
deutschen Kapitals betrachtet, die ihr Erbe
an den Westen verscherbeln. Und all das,
weil seine Interpassivität gestört wurde, weil
Slowenen sich nicht mehr so verhalten ha-
ben, dass er sich durch sie authentisch geben
konnte. Kein Wunder also, dass Handke sich
Serbien zugewandt hat, als letzter Bastion des
Authentischen in Europa. Er verglich die
bosnischen Serben, die Sarajevo belagerten,
mit Indianern, die »Ami-Karawanen« über-
fallen und niedermetzeln. Kurz gesagt, mit
Gilles Deleuze: »Si vous êtes pris dans le rêve de
l’autre, vous êtes foutu!« – »Wenn du im Traum
des anderen gefangen bist, dann bist du erle-
digt!« Wir Slowenen waren in Handkes
Traum gefangen; von uns wurde erwartet,
entsprechend zu leben.
ZEIT: Sollten politische Überlegungen eine
Rolle spielen bei der Entscheidung über den
Literaturnobelpreis?
Žižek: Ja, das sollten sie. Warum? In seiner
Phänomenologie des Geistes erwähnt Hegel
»das bewußtlose Weben des Geistes«: Im
Untergrund ändern sich die ideologischen
Koordinaten, meist völlig unbeobachtet
von der Öffentlichkeit, bis diese Tendenz
dann zur plötzlichen Explosion kommt und
alle überrascht sind. Zu solchen verborge-
nen Koordinatenverschiebungen kam es in
den Siebziger- und Achtzigerjahren in Jugo-
slawien, sodass, als die Dinge dann explo-
dierten, es schon zu spät war – der alte ideo-
logische Konsens war längst untergraben
und fiel in sich zusammen. Die Haupt-
akteure der verborgenen Zerstörung waren
nationalistische Dichter. Deswegen glaube
ich nicht, dass man politische und ethische
Überlegungen trennen kann von der reinen
Literatur. Vor fast hundert Jahren scherzte
Karl Kraus, dass Deutschland, das Land der
Dichter und Denker, ein Land der Richter
und Henker geworden sei – heute findet in
unserer Ära der ethnischen Säuberungen die
gleiche Verkehrung statt. Sogar in seinen
unpolitischsten Texten – man erinnere sich
an die geschwollene Poesie von Himmel über
Berlin – war Handke ein Dichter aus dem
Zweiergespann der Dichter und Henker.
Auch hier ist er nur das jüngste Beispiel in
einer langen Liste, deren exemplarischer
Vertreter Thomas Mann in seinen Betrach-
tungen eines Unpolitischen ist. Unpolitisches
Nachsinnen über die komplizierte Natur
der Seele und der Sprache ist der Stoff, aus
dem ethnische Säuberungen gemacht sind.


Die Fragen stellte Lars Weisbrod


Der slowenische Philosoph
Slavoj Žižek kritisiert Handkes
Blick auf Jugoslawien

Als Milch noch


Milch hieß


Dafür sucht er Bundesgenossen und findet sie im
»serbischen Volk« und in seinen Kämpfern, diesen – er
schreibt das wirklich – »Indianern« der Gegenwart,
die sich – wie die Sniper in Sarajevo – im Namen ihrer
Freiheit der »Ami-Karawanen« erwehren, der »Hu-
manschutztruppen«, die »Menschenrechte« brüllen
und doch nur eines können: betrügen.
Als Anti-Globalisierungs-Dramen würde man
Werke wie Die Fahrt im Einbaum (1999) heute be-
zeichnen, als literarischen Amoklauf gegen eine west-
liche Moderne, deren Ambivalenz Handke schon zu
Zeiten gesehen hat, als seine Gegner noch blauäugig
an das Versprechen einer Neuen Weltordnung glaub-
ten. Doch Handkes Wut schießt über, sie tritt nach
allem, was nach Westen riecht, nach seinen »Com-
mon sense-Pup pen« mit ihren »Mausklick-Augen«,
nach »Mrs. und Mr. International«. Die langsame


Heimkehr in diese »transkontinentale City-Civili-
sation« ist undenkbar geworden; gnadenlos greift er
den Liberalismus an und trifft ihn an seiner offenen
Flanke, dem Fetisch des Geldes, gegen den sich
Handkes Butzenscheibenprovinz mit ihren hand-
verlesenen »Apfelmenschen« abhebt wie das iden-
titäre Paradies von der kapitalistischen Hölle.
Mit einem gewissen Recht empört sich Handke
über den Versuch, Milošević zum Alleinschuldigen
zu stempeln, über »einen unverwüstlichen und ge-
radezu beneidenswert selbstbewussten Hass gegen
alles Serbische«. Zugleich aber wird seine eigene Po-
sition immer verbohrter. Die serbischen Nationalis-
ten erscheinen ihm fast wie seinsnahe Partisanen, die
bloß ihr Sittengesetz verteidigen und den »Gauner-
staaten« der Nato die Stirn bieten.
Wer so aufopferungsvoll wie das »serbische Volk«
der Westmoderne widersteht, der kann in Handkes
Augen keine Verbrechen begehen. Als serbische

Truppen 1995 in Srebrenica mehr als 8000 Men-
schen ermorden, meldet Handke Zweifel an, genau-
so, wie er das serbische Massaker in Visegrád an-
zweifelt. Das Wort »mutmaßlich« wird zur Standard-
phrase, als seien das Fake- News aus den »gekachelten«
Medienhöhlen der »vermeintlichen Welt« mit ihrem
»nackten, geilen, marktbestimmten Fakten- und
Scheinfakten-Verkauf« und der »vorfabrizierten Uni-
versalsprache« (»witnesses said«). Man müsse die Vor-
geschichte bedenken, schrieb Handke, als es schon
nichts mehr zu leugnen gab, vielleicht sei alles nur
ein »unverzeihlicher Racheakt« der Serben?
Dann reist er tatsächlich nach Srebrenica, und der
Reisende macht das, was er immer macht: Er blickt
in die Natur, er schaut nach hüben und nach drüben,
nach Bosnien und Serbien. Und siehe, schon kommen
»Pappel- und Weidenflocken durch die Lüfte ge-
schneit«, auch »Akazienblütenbäusche«. In der Natur,
so scheint es, gibt es den Tod und auch das Leben,

doch bald schon wieder erblüht die gnädige Erde im
großen Vergeben und Vergessen. Opfer und Täter
erscheinen wie Schattenwesen im Naturschauspiel
einer von alters her schicksalhaften Weltgeschichte,
während die ungnädige Weltpresse noch Bilder von
»mutmaßlichen Massakerstätten« verbreitet, und zwar
»nicht zu wenige«. Wenn man diesen Text moralisch
lese, schrieb der bosnische Schriftsteller Dževad Ka-
rahasan angeekelt, dann sei Handkes Sommerlicher
Nachtrag zu einer winterlichen Reise ein Dokument
des »ethischen Nihilismus« (ZEIT Nr. 8/96). Aber
kann man ihn anders lesen?
Im Dezember 1996 besucht Handke Radovan
Karadžić, jenen inzwischen verurteilten Kriegsver-
brecher, der den Befehl gegeben hatte, die UN-
Schutzzone Srebrenica einzunehmen. Im Gepäck
hat Handke seine Winterliche Reise, Karadžić revan-
chiert sich mit selbst geschnitzter Lyrik. Und als
Slobodan Milošević starb, verneigte sich Handke

an seinem Grab. »Es hat mich gedrängt, eine, nein,
die andere Sprache vernehmen zu lassen, nicht
etwa aus Loyalität zu Milošević, sondern aus Loya-
lität eben zu jener anderen, der nicht journalisti-
schen, der nicht herrschenden Sprache.«
Handkes Serbien-Texte sind keine Episode, sie
sind der bleibende Schatten über seinem Werk. Er
hat nicht bloß als politischer Zeitgenosse geirrt, er
hat seine Ästhetik auf die wirkliche Welt übertragen,
seine Überzeugung, wahr sei nur das, was dem Ur-
sprünglichen nahe ist. Ganz anders der Autor, der aus
der Gesellschaft der Menschen in die Gemeinschaft
der Blätter und Pilze auswandert. Hier entwirft
Handke jenes mimetische, bewahrende Verhältnis
zur Natur, zu dem die Mobilmachungsmoderne nicht
in der Lage ist. In diesen inständigen Beschreibungen,
in der Abrechnung mit uns »Naturvergessenen« liegt
Handkes Wahrheit. In seinen völkischen Abstam-
mungsgemeinschaften liegt sie nicht.

Bleibender Schatten Fortsetzung von S. 55


Fotos: Michael Biach/n-ost/ddp images; AP/Ullstein Bild (r.)

Politisch hat sich


Handke vor allem


selbst geschadet


Die Gedenkstätte Potočari für die Opfer des Massakers in Srebrenica 1995 Peter Handke auf der Begräbnisfeier von Slobodan Milošević im Jahr 2006

ullstein bild – AP


  1. OKTOBER 2019 DIE ZEIT No 43

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