Die Zeit - 17.10.2019

(Kiana) #1

  1. OKTOBER 2019 DIE ZEIT No 43 FEUILLETON 57


»Ich war ein ganz guter Stürmer. Linksaußen, ein Linksfuß.« Peter Handke in Siena, 1978

Foto: Isolde Ohlbaum

Der Zorn des Stürmers


Viermal traf unser Autor Peter Handke zum Gespräch. Gegengelesen hat Handke die Gespräche nie. Seine Devise war:


»Erfinden Sie was. Das ist sowieso am schönsten.« Annäherung an einen tollkühnen Dichter VON PETER KÜMMEL


D


ialoge mit Peter Handke sind
abenteuerlich, meistens im
guten Sinn: Man kommt ins
Freie. Handke ist kein Rhe-
toriker, der aus einem könig-
lichen Wortschatz schöpft.
Er ist eher wie ein Pilger, der
beim Sprechen, murmelnd und sich selbst ins Wort
fallend, seinen Weg zum genauen Satz sucht. Er
nennt sich »das Gegenteil eines Könners«. Könner-
schaft sei ihm verhasst. Kunst bedeute, zu tun, was
man nicht könne.
In diesem Jahrzehnt habe ich vier lange Gespräche
mit Peter Handke führen können. Beim ersten Tref-
fen, im April 2012, war der Regisseur Luc Bondy
dabei; die anderen Gespräche, im September 2014,
im Juni 2016 und am 19. April 2019, fanden unter
vier Augen statt.
Er ist ein schutzloser und großzügiger Gesprächs-
partner. Man hat nach einem Treffen mit ihm Ma-
terial für zwei, drei Zeitungsseiten. Offenbar braucht
er das Gefragtwerden. Und er vertraut dem Frager
insofern, als er die Abschriften der Interviews nicht
gegenliest. Als ich ihn in Paris anrufe, um zu fragen,
ob er unser jüngstes Gespräch nicht durchsehen und
autorisieren wolle, antwortet er: »Ach nein. Schreiben
Sie doch, was Sie wollen. Oder erfinden Sie was. Das
ist sowieso am schönsten.«
Dieser Text basiert auf den vier erwähnten Ge-
sprächen. Manche Passage ist in der ZEIT schon
gedruckt worden, etliches ist bisher unveröffent-
licht. Und nichts ist erfunden. Auch wenn das be-
stimmt am schönsten gewesen wäre.


DER LEBENSZORN:
Am Rand der Trauerfeier für seinen am 28. Novem-
ber 2015 gestorbenen Freund Luc Bondy kommt es
im Dezember 2015 im Pariser Odéon-Theater zu
einem kurzen Gespräch mit Handke. Ich sehe, dass
er einen Verband am Handgelenk trägt. Warum? Er
sagt, vergnügt wie ein Anekdotenerzähler, dass er sich
die Verletzung selbst zugefügt habe: Das ewige Gebell
des Nachbarhundes habe ihn, der zu Hause im Gar-
ten gesessen habe, so erbittert, dass er mit Wucht auf
den Gartentisch geschlagen habe – dabei habe er sich
die Hand gebrochen.
Der Zorn ist ein Lebensthema. Einerseits als
guter Schreibantrieb: »Ich schreibe nur aus Zorn oder
einer anderen Begeisterung. (...) Es gibt eine Geduld
heute unter den Menschen, die ich nicht schön finde.
Das ist nicht einmal eine Schafsgeduld, sondern eine
Ochsengeduld. Schafsgeduld kann ich verstehen,
aber nicht die Ochsengeduld. Manchmal kommt
mir die ganze Menschheit verochst vor. Jeder kleine
Stier ist mir lieber als diese erwachsenen Ochsen.«
Andererseits ist der Zorn auch ein Problem.
Manchmal, sagt Handke, habe er Angst vor sich:
»Dass ein Zitronenkernchen auf den Boden fällt, und
das ist so glitschig, dass man’s nicht aufheben kann,
und man zündet das ganze Haus an. Bei Doderer
kommen auch so Geschichten vor. Dass eine Kaffee-
tasse am Teller kleben bleibt – und sich das Fürchter-
lichste draus entwickelt.« (So eine Szene habe ich,
ansatzweise, in Handkes Landhaus in der Picardie
erlebt. Zu einem Holzscheit, der schief im Kamin
lag, sagte er, indem er ihm einen Tritt hin zur Flamme
gab, zwar leise, aber wohl doch an die ganze Schöp-
fung gerichtet: »Arschloch«.)
Bisweilen hat man den Eindruck, der Zorn sei sein
Weg zur Wahrhaftigkeit: als müssten in einem tieferen
Sinn erst die Sicherungen durchbrennen, alle sozialen
Rücksichten weggeschmolzen werden, ehe wahr ge-
sprochen werden könne. Und ohne nun Psychologie
zu betreiben, lässt sich ahnen, dass Handke das Allein-
sein und Dagegenstehen früh lernen musste: Immer
wieder war er als Kind Zeuge, wenn der deutsche
Stiefvater seine Mutter prügelte – und er hatte zu
verkraften, dass die Mutter sich das Leben nahm (man
lese Handkes Wunschloses Unglück).
Natürlich ging es in unseren Gesprächen auch
um die erbitterte Zornesaktion gegen die westli-
che Politik, die Peter Handkes Leben überschat-
tet, seine Parteinahme für die serbische Regierung
im Jugoslawienkrieg und seine Solidarität mit
Milošević (siehe auch die Seiten 55 und 56 dieser
Ausgabe). Am 19. April 2019 kam er unvermittelt
darauf zu sprechen:
»Die ganze Welt hat Serbien alleingelassen, und
dann werden die bombardiert. Der größte Skandal
in der Geschichte der Nachkriegszeit ist das, was man
mit Jugoslawien gemacht hat. Und ich war der Idiot,
weil ich es gesagt habe. Immer werd ich jetzt beläm-
mert und beleckt, als ob nix gewesen wär.«
Er war ein Ausgestoßener, und nun spricht
man ihn nicht mehr drauf an?
»Als ob nichts gewesen wär. Nicht ungute
Menschen von kleinen österreichischen Zeitungen
sprechen mit mir, als ob es meine Ächtung gar
nicht gegeben hätt. Die sagen zu mir: Sie waren
halt der Schriftsteller.«
Der Irre, der Irrsinn verbreiten darf?
»So in dem Sinn. Aber ich war ja kompetent. Ich
hab was Kompetentes gesagt von A bis Z. Ich hab gar
nicht für Serbien gesprochen. Ich hab nur gefragt,
wie kommt es, dass Deutschland und Österreich
sofort, wie in den alten Zeiten, wieder zusammen-
gehen mit Kroatien. Immer die gleichen Feindschaf-
ten und Bündnisse. Sofort wird Kroatien anerkannt –
ohne dass man nachgedacht hätte.«


Er hielt eine Rede am Grab von Milošević. War
ihm klar, dass er sich in ein Abseits stellen würde?
»Nein, nein. Ich hab gesagt: Milošević ist nicht
Hitler. Der war eine tragische Figur. Der konnte
nur Fehler machen. Man kann von einem Mi-
lošević nicht verlangen, dass er als der Gandhi des
Balkans auftritt. Er, ein Bankier, der in New York
gearbeitet hat. Es ist von einer Ahnungslosigkeit,
dieses Europa!«

NUTZLOSES WISSEN ZU HANDKE I:
Er wohnt seit Jahrzehnten in Chaville, südwestlich
von Paris, mit der RER-Bahn leicht zu erreichen. In
sein Haus ist schon dreimal eingebrochen worden.
Zuletzt gelangten Diebe ins Haus, indem sie ein Kel-
lerfenster einschlugen. Sie warfen alles durcheinander,
fanden aber nichts, was sie interessierte. Hingegen
fand Handke auf diese Art Papiere wieder, die er für
verschollen gehalten hatte. Den Einbruch in den
Keller empfand er als unnötig. Die Diebe hätten
durch die Haustür kommen können, die sei nicht
abgeschlossen gewesen. Er erwäge, künftig Zettel mit
der Bitte »Nicht einschlagen« an die Kellerfenster zu
kleben.

IN GESELLSCHAFT.
Im Juni 2016 hatte er gerade Tolstoi gelesen, die Auf-
erstehung: »Und das war manchmal so herrlich, dass
ich sagte: Ich darf jetzt nicht weiterlesen; jetzt muss
ich aufhören.«
Um sich das Herrliche aufzusparen?
»Auch. Aber vor allem deshalb, weil in diesem
Text alles so gestaut ist, ein solcher Weltstau
herrscht, ein Lebensstau, dass man zugleich be-
glückt und erschüttert und traurig ist ...«
Kann es sein, dass ein Tolstoi-Satz zur Pforte
wird für einen eigenen Text? Ist das eigene Schrei-
ben eine Fortsetzung des Lesens?
»Wenn das passiert, dann ist er, der andere Au-
tor, aber kein Fremder mehr, dann ist das mein
Ahnherr oder meine Ahnfrau. Das ist vielleicht
sogar ein brüderliches Gefühl. Ich fühl mich dann
in einer Gesellschaft.«
Ich zitiere den Schauspieler Alec Guinness; der
sagte von sich, er habe sich sein Leben lang wie ein
Hochstapler gefühlt, ein Kind, das sich unter die
Erwachsenen gemischt hatte. Kann Handke mit
dem Satz etwas anfangen?
»Ja. Man stapelt hoch, und im Hochstapeln er-
wischt man doch eine Wahrhaftigkeit. Schon sich
hinzusetzen und zu sagen, ich schreib jetzt ein
Theater stück, ich schreib jetzt einen Scheißroman
oder irgend so was! Schon sich hinzusetzen und zu
schreiben: ›Die Jefferson Street ist eine stille Straße in
Providence‹ – so wie mein Roman Der kurze Brief
zum langen Abschied anfängt –, ist eine Hochstapelei.
Aber weil man schon der Gefangene der eigenen
Hochstapelei ist, geht man in ihr weiter. Und plötzlich
entsteht aus der Hochstapelei eine Realität, die herr-
licher ist als jede tägliche Realität. Vielleicht muss man
statt Hochstapelei eher sagen: Tabubruch.«
Worin liegt der?
»Im Schreiben. Heutzutage schreibt jeder mühe-
los und kriegt den Deutschen Buchpreis, und ich seh
sofort, es ist alles Gewäsch, alles gemacht. Dass heut
alle schreiben, manchmal denk ich, daran bin ich
schuld. Die haben damals mich gesehen, Bilder von
mir in Princeton und so, und haben sich gedacht:
Wenn dieser Arsch das kann, kann ich es auch. Aber
für mich ist es ein gewaltiges Tabu, eine Frechheit, zu
schreiben! Eine stille Frechheit.«
Gibt es Momente, wo er das Gefühl hat, er erfasst
schreibend das Leben eines anderen Menschen?
»Manchmal beim Gehen durch die Stadt weiß
ich plötzlich alles von einer Person, die mir begeg-
net – für drei Sekunden.«
(Princeton, das muss für die Jüngeren hier ein-
geschoben werden, bedeutete den ersten Aufruhr in
Handkes Autorenleben: Da warf er, im Jahr 1966,
23-jährig und langhaarig, während einer Schrift-
stellertagung der maßgeblichen Gruppe 47 in be-
sagter amerikanischer Universitätsstadt der fast kom-
plett versammelten deutschen Gegenwartsliteratur
»Beschreibungsimpotenz« vor.)

NUTZLOSES WISSEN II und III:
Er schneidet sich seit Jahrzehnten die Haare selbst.
Er hat seit einem Unfall in Alaska, an dem er, ohne
einen Führerschein besessen zu haben, als Fahrer
beteiligt war, nie mehr ein Auto gelenkt. Auch des-
halb, so reime ich es mir zusammen, ist er ein großer
Wanderer und Kinogänger.

ER UND MEG RYAN.
Manchmal wirkte Handke wie ein Autor, den das
Vergessenwerden überschattet. Im Juni 2016, bei
einem Treffen in seinem Garten in Chaville (in
Frankreich war die Fußball-EM im Gang, er hatte
gerade das Spiel Portugal – Österreich im Prinzen-
parkstadion gesehen), erzählte er eine Anekdote aus
seinem Geburtsort Griffen (Kärnten). Dort habe ihn
im Wirtshaus eine junge Kellnerin angesprochen,
um ihm zu sagen, wie stolz alle Griffener auf ihn
seien. Schließlich sei der Hollywoodfilm Stadt der
Engel mit Meg Ryan ein Remake vom Himmel über
Berlin, und dazu habe ja wohl Handke das Drehbuch
geschrieben! »Das hat mir gut gefallen. Die konnte
gar nicht glauben, dass aus Griffen so einer kommt,
der was mit Meg Ryan zu tun hat!«

TITELTHEMA: LITERATURNOBELPREIS


In einem anderen Gespräch, zwei Jahre zuvor,
hatte das bitterer geklungen: »Ich lese gerade eine
Mörike-Biografie, und ich lerne, jede Kleinigkeit von
ihm, weit über das Schwabenland hinaus, wurde mit
Jubel empfangen. Es hat ein Echo gefunden im
schönsten Sinn. Aber heute? Da gibt’s ein paar Spin-
ner noch, die einem schreiben, wenn ein Buch drau-
ßen ist. Aber immer die gleichen inzwischen. Es
kommen gar keine anderen mehr dazu.«
Er hätte nicht gedacht, dass sich das noch ändern
würde. Als er den Anruf aus Oslo erhielt, soll er ge-
rührt und sprachlos gewesen sein.

NUTZLOSES WISSEN, LETZTER TEIL:
In den Kneipen Chavilles schaut er sich gern Fuß-
ballspiele an. Er nennt sich einen guten Zuschauer.
Der große FC Barcelona sei ihm dabei, sagt er, schon
lange auf die Nerven gegangen mit seinem perfekten
Dreiecksspiel: Messi, Iniesta, Xavi. Elender Kontroll-
fußball sei das: »Die spielen die anderen müde. Das
ist unfair. Unmenschlich! Ich mag den Messi nicht.
Ein toller Spieler, aber ich kann ihn nicht ausstehen.
Da ist mir der Ronaldo lieber – weil er so ein Schnö-
sel ist. Bei Messi weiß man gar nicht, wo man
menschlich dran ist. Wirklich gute Spieler sind auch
ungeschickt, finde ich. Messi ist nie ungeschickt.«
Fußballspiele nennt Peter Handke »gute Oasen
des Schauens«. Welches war das schönste Spiel seines
Lebens?
»Wie ich im Internat aus 30 Metern ein Tor
geschossen hab. Ich hab mir gedacht: Was ist denn

los mit dem Ball? Warum ist der jetzt im Tor?«
War er selbst ein richtiger Fußballspieler?
»Ich war ein ganz guter Stürmer. Linksaußen, ein
Linksfuß. Nur im Kopfball war ich nicht gut. Weil
ich mich nicht getraut hab. Ich war ja Brillenträger.
Jetzt würd ich mich trauen.«
Warum jetzt?
»Jetzt wär’s mir egal. Aber jetzt spielt keiner mehr
mit mir. Das letzte Mal, dass ich gespielt hab, war
beim Begräbnis meines Schwiegervaters, in Loth-
ringen. Da hat die ganze riesige Familie Fußball
gespielt in Gedenken an den Großvater. Und ich
hab plötzlich Kopfball gespielt. Es war eine Freu-
de. Vor allem die Kinder, wie die draufgeknallt
haben. Ohne Furcht vor den Erwachsenen. Wie
die Teufel!«

VÖLLIG EGAL!
Am 10. Dezember wird der Literaturnobelpreis in
Stockholm verliehen. Von den Preisträgern wird eine
Rede erwartet. Handke ist bekannt dafür, lange Re-
den aus dem Stegreif halten zu können. Wie schafft
er das?
»Ich bin ich, und dann geht’s schon. Ich hab mein
Gefühl und meine Bilder und meinen Rhythmus ...«
Er hat einmal gesagt, dass es sich dem Menschen
nicht zieme, sich vorzubereiten.
»Ludwig Hohl hat das gesagt: Es widerspricht der
Würde des Menschen, sich vorzubereiten.«
Aber wenn in der Rede plötzlich ein schwarzes
Loch sich auftut und man nicht mehr weiterweiß?

»Jo, dann scheitere ich eben. Was soll das alles?
All diese Dramen um nichts und wieder nichts.
Ist doch völlig egal.«

EIN WITZ.
Immer wieder hatte ich beim Gespräch mit dem
großen Schriftsteller Peter Handke den Eindruck,
dass in diesem ernsten, durch jedes Wort zur Kühn-
heit reizbaren, schutzlos aufmerksamen Mann ein
verzweifelter Entertainer stecken könnte: einer, der
sich sogar die Hand brechen würde, um den Lauf der
Dinge zu unterbrechen. Kein Verherrlicher des Krie-
ges, sondern einer, in dem selbst so etwas wie ein
Krieg im Gang ist.
Könnte er sich vorstellen, dass aus ihm kein Dich-
ter, sondern ein professioneller Witzemacher hätte
werden können?
»Ich habe einen einzigen Witz selber erfunden,
aber über den lacht niemand. Ich lache da immer
selber drüber, wie die schlechten Witzeerzähler. Die
lachen auch immer selbst und immer allein. Nein,
nein. Niemand wird lachen.«
Ich bitte ihn, den Witz doch zu erzählen.
»Nein, der ist so dumm. Also, es gibt doch das
Gemälde von Caspar David Friedrich, zwei Männer
in Betrachtung des Mondes, oder? Ich habe das Bild
für mich neu gemalt. Ich sehe da einen Betrunkenen:
einen Mann in Betrachtung von zwei Monden.«
Es passiert, was er prophezeit hatte: Er kämpft
vergeblich gegen das Lachen, während er den
Witz erzählt.
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