E
s war ein Auftritt für die Literatur
geschichtsbücher, den Saša Stanišić am
Montagabend im Frankfurter Römer
absolvierte: Soeben hatte er den Deutschen
Buchpreis gewonnen, da attackierte er in seiner
kurzen Dankesrede den frisch gekürten Nobel
preisträger Peter Handke, so wie er das in den
vergangenen Tagen auf Twitter öfter getan hat
te: »Echauffieren« müsse er sich, so Stanišić, weil
den Nobelpreis jemand bekommen habe, der
ihm seine Freude an seinem eigenen Preis ein
bisschen vermiest habe. Denn »dieser Mensch«
habe sich die Wirklichkeit so zurechtgelegt,
»dass dort nur noch Lüge besteht«; hier werde
»das Poetische in Lüge verkleidet«: »Mich er
schüttert, dass so was prämiert wird.« Stanišić’
prämiertes Buch heißt Herkunft, und tatsächlich
muss der 1978 in Bosnien geborene, 1992 nach
Deutschland geflohene Autor die Schriften
Handkes über den Balkan als fundamentalen
Angriff auf die eigene Herkunft verstehen. Er
erinnerte an die massakrierenden Milizen in
seiner Heimatstadt Visegrád, die Handke an
zweifelte. Somit ging es in diesen wenigen Mi
nuten plötzlich ums Überleben und um eine
existenzielle Beglaubigung der eigenen Poetik.
Dass es sich dabei um eine geradezu archaische
männliche Generationenkonstellation handelt
- ein 41jähriger Autor greift einen 76jährigen
Autor an –, befeuerte die Wirkung des Auftritts
zusätzlich; ebenso, dass der Nobelpreisträger zu
den großen, stets umstrittenen deutschsprachigen
Schriftstellern der vergangenen Jahrzehnte gehört,
zudem ein Eckpfeiler der SuhrkampKultur ist.
Auch wenn der Buchpreisträger es wohl gar nicht
so gewollt hatte: Es lag ein Hauch von Denkmal
sturz in der Luft – so wie vor 53 Jahren, als
Handke in Princeton die arrivierten Heroen der
Gruppe 47 attackierte. Und bereits vor Montag
abend war klar: Die Jury des Buchpreises, die eine
fragwürdige Shortlist zusammengestellt hatte,
Am Montag wurde Saša Stanišić für »Herkunft« mit dem Deutschen Buchpreis
ausgezeichnet – und attackierte Peter Handke scharf VON ALEXANDER CAMMANN
Eine Frage der
Wahrhaftigkeit
Olga Tokarczuk, geboren 1962, gelingt eine
kraftvolle literarische Mystik
Schreiben wie die Engel
Die polnische Schriftstellerin Olga Tokarczuk erhält nachträglich den Literaturnobelpreis für das Jahr 2018. Grund genug, eine der stärksten
weiblichen Stimmen der europäischen Gegenwartsliteratur endlich auch in Deutschland zu entdecken VON IRIS RADISCH
E
igentlich eine gute Nachricht.
Die Stockholmer Jury, deren
Glaubwürdigkeit nicht nur
wegen des lange verschleppten
#MeToo und Vergewaltigungs
skandals, sondern auch wegen
ihrer letzten experimentellen
Preisvergaben an eine Journalistin und einen
Musiker nahezu verschwunden war, hat sich
wieder dazu bequemt, Schriftsteller und
Schriftstellerinnen mit dem bedeutendsten
Literaturpreis der Welt auszuzeichnen. In die
sem Fall eine polnische Autorin und einen ös
terreichischen Autor, deren Werk aus den Trau
mata und Träumen Mitteleuropas entspringt
und sich in maximaler Entfernung zum anglo
amerikanischen Buchweltmarkt und seiner lite
rarischen Monokultur entwickelt hat.
Peter Handke, an dessen blindwütige Partei
nahme für den serbischen Nationalismus und
die serbischen Kriegsverbrecher im Jugoslawien
krieg jetzt zu Recht wieder stirnrunzelnd erin
nert wird, braucht man hierzulande kaum
noch vorzustellen. Anders verhält es sich mit
der 57jährigen polnischen Autorin Olga To
karczuk, die den Preis aus den Händen der
halbherzig erneuerten LiteraturnobelpreisJury
nachträglich für das Jahr 2018 erhält. In
Deutschland hat sie es, trotz Stipendien und
Preisen, bisher nicht leicht gehabt. Ihre Romane
erschienen in immer neuen Verlagen, für ihr
jüngstes Opus magnum Die Jakobsbücher, ein
nahezu 1200seitiges Epos über den im
- Jahrhundert in der polnischlitauischen
Adelsrepublik lebenden selbst ernannten jüdi
schen Propheten Jakob Joseph Frank, fand
sich lange kein deutsches Verlagshaus, bis der
junge Kampa Verlag eine Übersetzung in Auf
trag gab, die in diesen Tagen erschienen ist.
Dass Olga Tokarczuk eine der stärksten
weiblichen Stimmen der europäischen Gegen
wartsliteratur ist, war schon zu spüren, als vor
19 Jahren zur Frankfurter Buchmesse die
deutsche Übersetzung ihres Romans Ur und
andere Zeiten erschien, eine, beginnend im
Jahr 1914, aus der Perspektive diverser Engel
erzählte Chronik des fiktiven ostpolnischen
Städtchens Ur, die sich weit hinauswagt aus
dem Flachland des psychologischen Realis
mus, hinein in ein Labyrinth aus unterirdisch
miteinander kommunizierenden Zeitebenen,
Figuren, Mythen und Wirklichkeitsschichten.
Schon damals war der wichtigste Antriebsstoff
für dieses mittlerweile imposant angewachsene
Œuvre zu erkennen: die kraftvolle literarische
Mystik der polnischen Autorin, mit der sie
nationale Grenzen überwindet und historische
Epochen, Träume, Räume und Stimmen zu ei
ner großen Polyphonie zusammenführt.
Dieses Prinzip des offenen, multiperspekti
vischen, multinationalen, multigeschlechtli
chen, ja sogar multireligiösen Kunstwerks ist
im Fall von Olga Tokarczuk nicht das Ergebnis
einer besonders fortschrittlichen Kunstauffas
sung, sondern ergab sich ganz natürlich aus
dem historisch bedingten Schwindelgefühl der
Autorin, die seit vielen Jahrzehnten in einem
kleinen Dorf im niederschlesischen Eulen
gebirge und in Breslau zu Hause ist. Einem
Landstrich an der Grenze der Kulturen, der
Staaten und der Religionen, der über die Jahr
hunderte abwechselnd böhmisch, ungarisch,
deutsch und polnisch war und seinen Bewoh
nern auf diese Weise eine eindrückliche Lektion
über die Zerbrechlichkeit der Welt und die
Kurzlebigkeit aller nationalen und sonstigen
Identitäten erteilt hat.
Die Autorin fühlt sich den
geistigen Nomaden verbunden
Nach ihrem Psychologiestudium in Warschau
reiste Olga Tokarczuk jahrelang mit Notizbuch
und Rucksack quer durch die Welt nach China
und Neuseeland, Syrien und Ägypten – getrie
ben von derselben Rastlosigkeit der Mittel
europäer, die auch in Peter Handkes jahrelan
gen Wanderschaften und seinen großen Pilger
romanen Bildverlust oder Durch die Sierra de
Gredos oder Mein Jahr in der Niemandsbucht
ihren Niederschlag gefunden hat. Tokarczuks
im Jahr 2018 mit dem Man Booker Interna
tional Prize ausgezeichneter Roman Unrast ist
ein aus dem Geist dieser Pilgerschaft entstande
nes schillerndes und verwildertes Buch voller
mysteriöser Ereignisse, metaphysischer Speku
lationen und rätselhafter Geschichten, in dem
man sich wie in alten Zeiten verirren kann, in
denen die Welt noch nicht vollständig ver
googelt war. Einen Ursprung, eine Heimat, ei
nen Besitz, einen Nationalstolz, eine Hierarchie
oder auch nur eine Zentralperspektive, die zu
TITELTHEMA: LITERATURNOBELPREIS
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würde mit ihrer Wahl eine besonders schwer
wiegende Entscheidung fällen müssen. Denn ob
Stanišić gekürt würde oder nicht – man würde es so
oder so als literaturpolitisches Statement deuten.
Die JuryBegründung für Stanišić ergriff dann auch
deutlich Partei in der Auseinandersetzung: »Mit viel
Witz setzt er den Narrativen der Geschichtsklitterer
seine eigenen Geschichten entgegen.«
Wäre die JuryEntscheidung anders ausgefallen,
wenn Stanišić sich vorab nicht so stark gegen Handke
exponiert hätte? Diese unbeantwortbare Frage bleibt
legitim, denn noch nie in ihrer 14jährigen Ge
schichte fand die BuchpreisEntscheidung vor einer
derart aufgeladenen öffentlichen Debatte statt – es
war eine Ausnahmesituation.
Aber wie mächtig die Konstellation auch wirkte:
Die Jury hat einen sehr guten Preisträger mit einem
würdigen, wenngleich nicht fulminanten Buch aus
gezeichnet – obwohl man Jackie Thomae mit ihrem
coolen Roman Brüder über zwei in der DDR gebo
rene Brüder mit demselben afrikanischen Vater den
Preis ebenso gegönnt hätte. Stanišić’ Herkunft ist eine
Annäherung an das Land seiner Kindheit – weniger
ein Roman, vielmehr ein vielschichtiges ProsaPatch
work und eine autobiografische Erzählung, über den
Untergang Jugoslawiens, die Flucht der Familie nach
Heidelberg, seine Reisen zurück, den Abschied von
der Großmutter. All das wird in verschiedenen Klang
farben virtuos präsentiert, als europäische Spuren
suche, die immer die verwandelbare, kaum fixier
bare Idee von Herkunft umkreist – und damit eine
Szenerie unserer Epoche entwirft.
verteidigen oder zu vermehren es sich lohnte, gibt
es nur in der Welt der Sesshaften. Den geistigen
Nomaden, denen Olga Tokarczuk sich verbunden
fühlt, gehört alles und nichts.
Dem neuen urbanen Kosmopolitismus der eu
ropäischen Metropolen und Flughäfen neigt die
Literaturnobelpreisträgerin Olga Tokarczuk aber
genauso wenig zu wie der Literaturnobelpreis
träger Peter Handke. Im Gegenteil. Beide zählen
eher zu den Geopoeten und sind literarisch auf der
Suche nach unverwechselbaren geografischen Kul
turräumen – für Tokarczuk ist es das schlesische
Glatzer Land, in dem sie lebt; für den bei Paris
lebenden Handke das in einem slowenischen
Irgendwo angesiedelte »Neunte Land« seiner Fan
tasie. Besonders im Roman Taghaus, Nachthaus
macht Olga Tokarczuk die niederschlesische
Grenzlandschaft zur Bühne für einen bilder und
figurenstarken polnischen Roman, in dem die
Gräber deutsche Namen tragen und das vergrabene
Tafelsilber der Deutschen im Kartoffelacker vor
sich hin träumt.
In keinem der Bücher von Olga Tokarczuk gibt
es eine wiedererkennbare Autorenstimme, und es
gibt keinen Kommentarstil, der den beschriebe
nen Weltwinkel einfärbte, verschönerte, dramati
sierte, ironisierte oder sonst wie manipulierte. Ihr
Stilideal ist das der Engel, der Sterbenden oder der
vormodernen Skribenten, die sich »ohne Reflexion,
ohne Urteil, ohne Gefühl« an die Niederschrift
des zu Berichtenden machen – eine »neutrale
Schreibweise«, eine écriture blanche, wie sie auch
den Pariser Autoren des Nouveau Roman und ih
rem Chefinterpreten Roland Barthes vorschweb
te. Wenn ausgerechnet Tokarczuks Übersetzerin
Esther Kinsky jetzt über die Literaturnobelpreis
trägerin verlauten lässt, dass »ihre Stärke nicht
ihre Sprache ist«, kommt die kalte Schönheit von
Tokarczuks eigenwilligem Chronistenton dabei
zu kurz.
Dass in Polen, in dem die nationalkonserva
tive PiS in der Parlamentswahl am vergangenen
Sonntag einen deutlichen Sieg errungen hat,
diese alle literarischen Konventionen sprengen
de Nobelpreisträgerin oft eher distanziert be
trachtet wurde und man sie zudem für ihre kriti
schen publizistischen Stellungnahmen immer
wieder heftig attackierte: All das versteht sich
eigentlich von selbst.
A http://www.zeit.deeaudio
Maciek Nabrdalik / VII / Redux / laif
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58 FEUILLETON 17. OKTOBER 2019 DIE ZEIT No 43
WiesiehtdieZukunftaus?InSachenKlimasinddie
Prognoseninzwischensehrgenau.Undebenso
erschreckend.IndiesemBuchentwerfenLuisaNeubauer,
diebekanntestedeutscheKlimaaktivistin,undder
PolitökonomAlexanderRepenningdieGeschichte
unsererZukunft.DenndieMenschheitstehtam
Scheideweg.WennwirjetztnichtdenKursändern,
schaffenwirunsselbstab.Politiker,Unternehmer,
Bürger,jedermussaktivwerden.Aberwie?
»WIRSIND DIE ERSTEN,DIE DIEKLIMAKRISE
ZU SPÜRENBEKOMMEN,UND DIE LETZTEN,
DIE NOCH ETWASÄNDERN KÖNNEN.«
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