Die Zeit - 17.10.2019

(Kiana) #1
Foto: Koch Films

P


arasite ist ein Film der Treppen.
Eine führt im Architektenhaus der
Familie Park zu den schick aus­
gestatteten Schlaf­ und Ankleide­
zimmern, dorthin, wo die Dame
des Hauses ihre Luxustaschen auf­
bewahrt – subtil beleuchtet, als
wären es Museumsstücke. Eine rohe Betontreppe
verbirgt sich weiter unten hinter einem Vorrats­
schrank; da geht es in einen jener Bunker, mit de­
nen sich die Superreichen dieser Welt auf abseh­
bare Katastrophen, den Umwelt­GAU, vielleicht
auch einen Aufstand der Bedürftigen, vorbereiten.
Durch ein Labyrinth von Bahnschächten und Ver­
sorgungskanälen flüchten irgendwann die unter­
privilegierten Protagonisten von Bong Joon Hos
Film aus dem hügeligen Villenviertel der Stadt in
ihre finstere Souterrain­Wohnung – ein Abstieg in
die Hölle.
Für sich genommen wäre die Treppenmetapher
wenig originell. »Upstairs, downstairs«, oben die Herr­
schaft, unten die zum Dienen Verdammten – mit
diesem Bild sind Freunde englischer Adelsserien seit
Jahrzehnten vertraut. Auch Parasite erzählt eine
Dienstbotengeschichte, und es werden viele Tabletts
umhergetragen. Aber der südkoreanische Regisseur
Bong Joon Ho, der seit seinem Durchbruch mit dem
Monsterfilm und Blockbuster The Host (2006) mun­
ter den Korridor zwischen Genre­ und Arthouse­
Kino bespielt, hat Übung darin, Bild­ und Wort­
formeln neu zu beleben. Die Treppen in Parasite, mit
dem Bong in Cannes die Goldene Palme gewann,
entwickeln als Verbindung sozialer Sphären einen
zeitgemäß­sinnfälligen Charakter. Und der Regisseur
lässt seine Figuren auf dem Weg nach oben oder
unten regelrechte Choreografien aufführen.
Dabei sind die Armen aus dem Souterrain, ist die
Familie Kim die treibende Kraft. Die vier, Eltern und
junge Erwachsene, sind allesamt arbeitslos. Doch sie
haben sich nicht aufgegeben; sie suchen Anschluss,
buchstäblich. In das schnellste Netz der Welt – Süd­
korea führt offiziell die Hitliste an – klinken sich die
Jugendlichen ein, indem sie in drangvoller Enge
neben der Toilette kauernd ein freies WLAN­Signal
aus der Nachbarschaft anzapfen. Sie brauchen eine
Anleitung für einen ihrer Gelegenheitsjobs: das Falten
von Pizzakartons. Eine Chance zum Aufstieg scheint
sich zu bieten, als der junge Ki Woo in Vertretung
eines Freundes von den wohlhabenden Parks als
Nachhilfelehrer für die Tochter eingestellt wird. Ki
Woo macht sich daran, seine Angehörigen in den
Haushalt einzuschleusen. Der Haken: Die Parks
haben bereits Personal. Chauffeur und Haushälterin
müssen ausgebootet werden; dabei dürfen die Arbeit­
geber nicht merken, dass sie manipuliert werden.
Das Spiel um die Posten vollzieht sich mit großem
Erfindungsreichtum, als Serie komischer Vignetten.
Die Kims begreifen schnell, wie die Parksche Infra­
struktur funktioniert; sie freuen sich darüber, »wie
viel Geld von ihrem Haus in unseres fließt« – das
Projekt Umverteilung scheint zu gelingen. Bis zu der
stürmischen Nacht, in der die geschasste Haushälte­
rin zurückkehrt, und die Kims sich in einen hysteri­
schen Zwei­Fronten­Krieg verstricken.
Das südkoreanische Kino erlebte in den Neunzi­
gern einen künstlerischen Aufschwung, der bis heu­


Der reiche Herr Park (Lee Sun Kyun) und seine Frau Yeon-kyo (Cho Yeo Jeong) wissen nicht alles über ihr Personal

Wo, bit te,


geht es hier


nach oben?


»Parasite«, der neue Film des Südkoreaners Bong Joon Ho, entfaltet die


Choreografie des misslingenden Aufstiegs VON SABINE HORST


te anhält; die Autorenfilmer dieser Welle, Lee Chang
Dong (kürzlich mit Burning bei uns im Kino), Kim Ki
Duk, Hong Sang Soo, Park Chan Wook, alle zwischen
50 und 65, alle mindestens als Co­Autoren an ihren
Drehbüchern beteiligt, sind Stammgäste auf großen
Festivals – und entfalten ein immenses Spektrum an
Tonlagen, vom intimen, hingetupften Independentfilm
bis zum blutigen Thriller. Bong ist einer der erfolg­

reichsten von ihnen, und die Art, wie er seine Filme
der westlichen Popkultur öffnet – der Actionfilm
Snowpiercer wurde mit internationaler Besetzung nach
einem französischen Comic gedreht –, scheint be­
sonders exportfähig zu sein. Außerdem versteht er es,
zu unterhalten. 2017 brachte er im Wettbewerb von
Cannes einen Film unter, dessen Star ein genmani­
puliertes, furzendes und umwerfend sympathisches

Riesenschwein ist. Die Öko­Satire Okja war auf
dem Festival als Netflix­Produktion umstritten; in­
zwischen ist sie Kult – samt Schweine­Merchandise.
Was Bong Joon Hos Werk zusammenhält, ist
eine Form von Parteinahme, die sich auf einen
genauen Blick für gesellschaftliche Strukturen
gründet – er hat zunächst Soziologie studiert – und
sich nicht nur auf der Handlungsebene seiner Filme

E


s ist von entscheidender Bedeutung, in
welchem Zustand man diesen Film an­
sieht. In einem Augenblick der Schwä­
che wird er Traurigkeit hinterlassen und
neue Nuancen des Wortes »Fremdschämen« er­
schließen. Im Zustand der Stärke dagegen folgt
man mit aufgerissenen Augen dem deutschen
Unterhaltungsfilm auf einen bizarren Trip, direkt
hinein in sein – buddhistisch gesehen – unreines
Ich, dorthin, wo es darf, was es will, und wirklich
tut, was es kann, hinein ins Reich seiner Triebe,
wo ein guter Regisseur und ein guter Kamera­
mann eine ungute Idee aus dem Schlick reißen,
nur um uns einmal richtig zu zeigen, was geht,
wenn genug Geld für Kostüme zur Verfügung
steht und deutsche Stars alles mitmachen und vor
allem mitsingen, auch wenn sie nicht singen kön­
nen – Stars, die man sehr lieben und sehr verehren
muss, um ihnen das zu verzeihen, aber wer ver­
ehrt schon Uwe Ochsenknecht?
Ich war noch niemals in New York ist die Ver­
filmung eines Udo­Jürgens­Musicals. Nach sei­
nem Tod setzte sich die Ansicht durch, dass Jür­
gens ein großer Künstler gewesen sei. Nun seine
sämtlichen unsterblichen Melodien in dichter
Folge und von Heike Makatsch geflüstert wieder
hören zu müssen, weckt den Wunsch, darüber
noch einmal nachzudenken. Und schon diesen
Anflug von Misstrauen hat Udo Jürgens eigent­
lich nicht verdient. Mutti schlägt sich den Kopf
an. Das Letzte, was in diesem blinkt, ist ein Fet­
zen des titelgebenden Sehnsuchtslieds. Mutti
schlüpft auf ein Kreuzfahrtschiff, von wo ihre
Tochter sie wieder ins Krankenhaus verfrachten
will, und schon sind wir auf hoher See. An Bord
verlieben sich die drei Frauen – eine von ihnen
ist Friseur – in drei, sagen wir mal, schillernde
Typen. Es kriselt, doch in New York bekommt
Hans am Ende seine Grete und seinen Hans.
Handlung im Film wird meistens überschätzt.
Hier ist die Zicke selbstverständlich blond
(Makatsch), der Professor tollpatschig (Moritz
Bleibtreu), der Schwule ist ein Zauberer (Pasqua­
le Aleardi), und Mutti ist knuffig (Katharina

Thalbach). So will es das Unterhaltungsunter­
bewusstsein. Das Ganze muss und möchte Über­
klischee sein, bis zum Punkt, an dem man das
Cupcake ganz in den Mund geschoben bekommt
und die Creme aus der Nase quillt. »Bis es schon
wieder gut ist«, lautet die Formel in solchen Fäl­
len, und der Welpe, der gerade aufs Kissen pin­
kelt, hört auf den Namen Ironie. Ironie legt leider
gar nichts wieder trocken, und im Übrigen ist sie
auch nicht mehr das, was sie einmal war.
Der Absicht nach ist diese Produktion eine
Heldentat, sie ist ein tollkühner Versuch, die
deutsche Unterhaltung wieder aufs Berliner Ni­
veau der Zwanziger zu hieven. Und irgendwie ist
sie auch die deutsche Antwort auf La La Land,
den Hollywoodfilm über Hollywood als Total­
illusion. Dort sah man gern zu, wie Fantasie und
Wirklichkeit sich bis zur Verwechselung an­
näherten und echte Scheingefühle erzeugten, die
dann zu so etwas wie dem Leben selbst im eige­
nen Film wurden. Das ist zu spitzfindig hier.
Hier geht es um Zufriedenheitsmoral: Die Kar­
rierefrau, der in seinem Schmerz vergrabene Wit­
wer, der in verlogener Ehe lebende Schwule, sie
alle müssen sich reinigen, den Egoismus in sich
abtöten, um glücklich zu sein und ein besserer
Mensch zu werden. So will es das therapierte
deutsche Unterbewusstsein.
Katharina Thalbach kann natürlich alles spie­
len, und sie spielt alles, sie ist so etwas wie die in
sich gerundete und vollständige Idee einer
Komö diantin. Sie turnt jenseits von Peinlichkeit
herum. Uwe Ochsenknecht ist es aber, der in
diesem Inferno wenigstens einen Zentimeter
neben sich zu stehen scheint, und als Einziger
andeutet, er könne, womöglich wolle er anders.
Ihm traut man zu, dass er in seiner Seelennot an
die Kulisse tritt und mit der erstbesten Flasche
Wein durchbrennt. Aber davon bekommen wir
nichts zu sehen. Ganz schnell, bevor die Schwä­
che wieder einsetzt: Der Film sei all jenen emp­
fohlen, die sich die nackte Wahrheit ansehen
wollen und es ertragen. Die wirklich echte,
schonungslose Wahrheit.

Man gönnt sich ja sonst nichts: Udo Jürgens’ Musical »Ich war noch niemals in
New York« als Film in kompromissloser Starbesetzung VON THOMAS E. SCHMIDT

Unterhaltung, deutsch


bemerkbar macht. Sie fußt auch auf Mikrobeob­
achtungen und Zitaten. Das gilt für Parasite mit
seiner konzentrierten Laborsituation ganz beson­
ders. Erinnert die Haushälterin mit dem runden,
erregten Gesicht und der Brille nicht an die ver­
zweifelte Mutter in der Treppenszene von Eisen­
steins Panzerkreuzer Potemkin? Heißt die Hightech­
Firma von Herrn Park zufällig »Another Brick«,
oder sollen wir uns an den Refrain des Pink­Floyd­
Songs erinnern: »All in all you’re just another brick
in the wall«?
Vor den Augen des Zuschauers materialisie­
ren sich in Para site die Lebensformen der west­
lich geprägten Konsumgesellschaft und des urba­
nen Prekariats. In der abgeschotteten Villa der
Parks herrscht zenhafte Ruhe, sind die Dinge,
von den Designermöbeln im großzügigen Wohn­
zimmer bis zur Batterie gläserner Wasserflaschen
im Kühlschrank, perfekt arrangiert. Man würde
alles gern anfassen: die matt schimmernden
Oberflächen von Tischen und Schränken, die
Seidenblusen der Hausfrau, die prächtigen Obst­
stücke, die als gesunde Zwischenmahlzeit serviert
werden. In der Wohnung der Kims hingegen
herrschen Chaos, Chips und Krümel, krabbeln
Käfer, und die Grenze nach draußen ist furchtbar
durchlässig. Der gewaltige Regen, den der kleine
Sohn der Parks spielend in einem Indianerzelt –
made in USA – im Garten aussitzt, flutet das
Viertel der Kims und macht sie zu Besitzlosen, zu
Flüchtlingen. Ein vollkommen beiläufiger
Schnitt führt von Frau Park, die gerade an ihrer
Taschensammlung vorbeigleitet, in die Notun­
terkunft, in der sich die Tochter der Kims durch
einen Haufen gespendeter Kleider wühlt.
Dabei erscheinen die Reichen hier nicht grau­
sam und nicht einmal besonders unsympathisch;
sie bezahlen ordentlich und benehmen sich
freundlich; ihr Habitus, der Campingtrips, spon­
tane Gartenpartys und Klitorismassagen auf
dem Sofa einschließt, hat durchaus etwas Cooles,
Aufgeklärtes. »Geld ist wie ein Bügeleisen, es
glättet alle Falten«, sagen die Kims. Marx würde
vielleicht bemerken, dass Leute wie die Parks so
entspannt sein können, weil ihre Vorstellungen
von Lebensqualität allgemeiner Maßstab, weil
die »Gedanken der herrschenden Klasse in jeder
Epoche die herrschenden Gedanken« sind. Die
marginalisierten Kims glauben selbst an die
Möglichkeit, innerhalb des neokapitalistischen
Konkurrenzsystems voranzukommen. Und sie
verfügen durchaus über das, was es behaupteter­
maßen dazu braucht; sie sind anpassungsfähig
und resilient. Das Einzige, was sie nicht haben,
ist das, was sie retten könnte: Klassenbewusst­
sein. Nach einem wahnwitzigen Finale träumt Ki
Woo immer noch davon, die Villa für seine Fa­
milie in Besitz zu nehmen.
Die kunstvollen Muster jedenfalls, die Herr­
schaft und Dienstboten in ihrem Ringen um
Hegemonie über die Villa bilden, sind für jeden
lesbar: Zeichen einer ziemlich hoffnungslosen
Zeit, in der die »Abgehängten« der einen Welt
beständig gegen die Elenden der anderen aus­
gespielt werden und selbst das Klima Klassen­
charakter angenommen hat.

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