Die Zeit - 17.10.2019

(Kiana) #1

64 FEUILLETON 17. OKTOBER 2019 DIE ZEIT No 43


Öffnet


d ie Inventa re!


Ein Appell, das vorhandene Wissen zu afrikanischen Objekten in


deutschen Museen endlich frei zugänglich zu machen


D


ie öffentliche Debatte um die ko­
loniale Vergangenheit Deutsch­
lands und den Umgang mit kolo­
nialen Objekten in öffentlichen
Sammlungen hat vieles in Bewe­
gung gesetzt. Die Diskussion, die sich an den
Planungen für das Humboldt Forum in Berlin
entzündete und durch den von Emmanuel Macron
in Auftrag gegebenen, im November 2018 veröf­
fentlichten Rapport sur la restitution du patrimoine
culturel africain intensivierte, hat bereits zu kon­
kreten Schritten geführt. Ein Bekenntnis zur Auf­
arbeitung des Kolonialismus wurde in den ak­
tuellen Koalitionsvertrag aufgenommen. Stellung
bezogen haben zudem die Staatsministerinnen
Monika Grütters und Michelle Müntefering in
einem Beitrag, in dem sie unter anderem fordern,
»in einen echten Dialog mit den Herkunftsgesell­
schaften zu treten und so für eine partnerschaftli­
che Zukunft zu wirken« (FAZ vom 15. 12. 2018).
Europaweit einzigartig, wurden in Deutschland
für die Erforschung von Provenienzen aus »kolo­
nialen Kontexten« kurzfristig zwei Millionen
Euro bereitgestellt, mit denen zunächst vor allem
kleine Projekte gefördert werden. Als Forschende
und Kulturschaffende aus verschiedenen afrikani­


schen und europäischen Ländern fordern wir je­
doch mehr: Transparenz!
Es ist ein Skandal, dass es trotz dieser nunmehr
zwei Jahre anhaltenden Debatte noch immer keinen
freien Zugang zu den Bestandslisten der öffent­
lichen Museen in Deutschland gibt. Wie genau
sehen die afrikanischen Sammlungen in deutschen
Museen aus? Aus welchen Regionen kommen die
Objekte? Welche Arten von Objekten sind es? Wir
wollen und müssen das wissen, wenn wir die Auf­
arbeitung der kolonialen Vergangenheit gemeinsam
betreiben wollen. Wir brauchen unbeschränkten
und unkontrollierten Zugang! Die Kenntnis der
Bestände ist die Grundlage für jeden Dialog.
Zudem muss aus Afrika heraus eine unabhängige
Auseinandersetzung mit den Kulturgütern ermög­
licht werden, ohne Abhängigkeit von deutschen
Partnern. Die Objekte können dazu beitragen,
Wissen und Erinnerung in den postkolonialen
Gesellschaften zu reaktivieren und neu zu erschlie­
ßen – das gilt für Afrika wie natürlich auch für
andere Regionen der Welt.
Sowohl die gemeinsame Auseinandersetzung
mit dem Kolonialismus als auch eine unabhän­
gig von deutschen Institutionen erfolgende Neu­
erforschung der Vergangenheit kann nur statt­

finden, wenn endlich öffentlich bekannt ist,
welche Objekte und welche Informationen es zu
diesen in den Museen gibt. Derzeit muss jedes
einzelne künstlerische oder wissenschaftliche
Projekt, jede internationale Delegation indivi­
duell die einzelnen Museen in Deutschland kon­
taktieren und den Zugang zu Informationen er­
bitten. Dies führt zu Doppelungen, Mehrauf­
wand, Intransparenz, Abschreckung und nicht
selten zum Scheitern.
Um Transparenz zu schaffen, sind keine lang­
wierige Datenaufbereitung und abgeschlossenen
Digitalisierungsprojekte erforderlich, wie oft be­
hauptet wird. Die Arbeit an den Inventaren wird
nie fertig sein, sie wird immer work in progress
bleiben. Es gibt keinen Grund zu warten.
Deshalb fordern wir von den öffentlichen
Museen beziehungsweise ihren Trägern, den
Kommunen, Bundesländern und dem Bund, die
schnellstmögliche weltweite Verfügbarmachung
der Bestandsverzeichnisse afrikanischer Objekte
in den jeweiligen Sammlungen, unabhängig vom
Grad der Vollständigkeit oder vermeintlichen
Perfektion dieser Verzeichnisse. Einfache Scans
und Listen reichen. Wir brauchen sie jetzt. Erst
dann kann der Dialog beginnen.

Erste Unterzeichnende:



  • Kader Attia (Künstler, Berlin, Deutschland/
    Paris, Frankreich)

  • Anne­Marie Bonnet (Universität Bonn,
    Deutschland)

  • Sebastian Conrad (Freie Universität Berlin,
    Deutschland)

  • Souleymane Bachir Diagne (Columbia
    University, New York, USA)

  • Andreas Eckert (Humboldt­Universität, Berlin,
    Deutschland)

  • Albert Gouaffo (Université de Dschang,
    Kamerun)

  • Wolfgang Kaleck (Rechtsanwalt, European
    Center for Constitutional and Human Rights,


Berlin, Deutschland)


  • Sylvie Memel Kassi (Direktorin Musée des
    Civilizations, Abidjan, Elfenbeinküste)

  • Achille Mbembe (Witwatersrand­Universität,
    Johannesburg, Südafrika)

  • Bonaventure Soh Bejeng Ndikung (Kurator,
    Berlin, Deutschland)

  • Sharon Dodua Otoo (Schriftstellerin, Berlin,
    Deutschland)

  • Ciraj Rassool (University of the Western Cape,
    Südafrika)

  • Milo Rau (Autor und Regisseur, Zürich,
    Schweiz)

  • Felwine Sarr (Université Gaston Berger,


Saint­Louis, Senegal)


  • Bénédicte Savoy (TU Berlin, Deutschland/
    Collège de France, Paris, Frankreich)

  • Katharina Schramm (Universität Bayreuth,
    Deutschland)

  • Friedemann Schrenk (Goethe­Universität
    Frankfurt a. M., Deutschland)

  • Romuald Tchibozo (Université Abomey­
    Calavi, Benin)

  • Jürgen Zimmerer (Universität Hamburg,
    Deutschland)


Sowie mehr als 100 weitere Unterzeichnende:
https://oeffnetdieinventare.com/

Z


um Verständnis der türkischen Inter­
vention in Syrien sollten vier Aspekte
berücksichtigt werden. Ich liste sie im
Folgenden chronologisch auf.
Erstens: Die Angst der Türken vor Aufspal­
tung, sie ist so alt wie die Republik. Anfang
des 18. Jahrhunderts herrschte das Osmani­
sche Reich über eine Fläche von rund 20 Mil­
lionen Quadratkilometern in Europa, Asien
und Afrika. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts
war sie auf 783.000 Quadratkilometer ge­
schrumpft. Das Trauma des Verlusts vor allem
des Balkans, der ägäischen Inseln und des Na­
hen Ostens prägt die nationale Identität seit
einem Jahrhundert. Die Gründung eines kur­
dischen Staats in Syrien, wo die Kurden die
größte ethnische Gruppe stellen, könnte auch
die Kurden in der Türkei mit einbeziehen und
anatolisches Territorium kosten. Das Problem
hatte deshalb noch für jede Regierung Priori­
tät, wenn es um Sicherheit und Bedrohungs­
potenzial ging.
Der zweite Aspekt hat allein mit Syrien zu
tun. Mit Syrien teilt die Türkei ihre längste
Landgrenze (911 Kilometer). Bis zum Ende
des Ersten Weltkriegs war Syrien osmanische
Provinz, seither ist es ein problematischer
Nachbar der Türkei. Zahlreiche
Konflikte haben die Beziehungen
geprägt, von Grenzstreitigkeiten
bis zur Aufteilung des Euphrat­
Wassers. Dass der Chef der PKK,
von der Türkei zum »Staatsfeind
Nummer eins« deklariert, im sy­
risch kontrollierten Bekaa einen
Stützpunkt einrichtete und in Da­
maskus Residenz nahm, brachte
die beiden Länder schließlich an
die Schwelle des Kriegs. Eine Iro­
nie der Geschichte: Unter der Er­
doğan­Regierung näherten sich Damaskus und
Ankara erstmalig an. Als erster syrischer Staats­
chef besuchte Baschar al­Assad 2004 die Tür­
kei. Erdoğan absolvierte den Gegenbesuch
noch im selben Jahr. Die beiden Staatschefs
machten zusammen Urlaub, die Armeen bei­
der Länder führten gemeinsame Manöver
durch. Mit den syrischen Flüchtlingen aber,
die nach dem arabischen Frühling 2011 vor
Damaskus’ Wut in die Türkei flohen, änderten
sich die Beziehungen. Die Freunde von gestern
wurden zu Feinden.
Der ethnische und der politische Aspekt
sind um einen religiösen zu ergänzen: Dass in
Damaskus Alawiten regieren, obwohl die Be­
völkerungsmehrheit sunnitisch ist, wurde in
Bezug auf das innere Gleichgewicht der beiden
Länder unausgesprochen zum Problem. Erdo ğans
Sympathie für die Muslimbrüder, einen Geg­
ner der Baath­Partei, die aktive Unterstützung
Ankaras für die Freie Syrische Armee und die
zunehmende Verwandlung der Türkei in einen
Stützpunkt für den IS lösten in Damaskus Un­
mut aus.
Der vierte Aspekt der Syrien­Offensive
hängt mit Erdoğans Bedrängnis im Inland zu­
sammen. Seit der Schlappe bei den letzten
Kommunalwahlen mit dem Verlust von Istan­
bul ist Erdoğan auf dem absteigenden Ast. Ein
Ex­Premier und ein ehemaliger Staatspräsident
verließen seine Partei und planten, konkurrie­
rende Parteien zu gründen. Die Opposition
vereinte sich erstmals in einer demokratischen
Front. Die Wirtschaftskrise und 3,5 Millionen
syrische Flüchtlinge, die als billige Arbeitskräf­

te die Arbeitslosigkeit im Land verschärfen,
verprellten noch seine leidenschaftlichsten An­
hänger. Bei Umfragen steckte die AKP in ei­
nem Zehn­Jahres­Tief. Viele munkelten, der
einzige Ausweg aus diesem Dilemma wäre ein
Krieg. Und so kam es dann auch. Erdoğan
nötigte die Opposition, den Feldzug zu unter­
stützen, damit zog er sie auf seine Seite und
zerschlug ihre Allianz. Ebenso brachte er seine
innerparteilichen Widersacher zum Verstum­
men. Er zementierte seine Macht, indem er
die Zügel straff anzog. Und mit dem Verspre­
chen, die syrischen Geflüchteten in der Sicher­
heitszone anzusiedeln, die mit der Operation
geschaffen werden soll, hat er nach seinem
Dafürhalten auch gleich das Flüchtlingspro­
blem gelöst.
Diese Punkte auf lokaler Ebene wurden
durch internationale Diplomatie begünstigt:
Der Konflikt zwischen den USA und Russland
in Syrien erweiterte Erdoğans Handlungsspiel­
raum. Mit kluger Taktik spielte er beide gegen­
einander aus, indem er östlich des Euphrat mit
den USA und westlich des Euphrat mit Russ­
land paktierte. Trump wollte die Last der Tür­
kei aufbürden und aus Syrien abziehen, des­
halb gab er Erdoğan grünes Licht. Putin
drückte zunächst ein Auge vor der
Offensive zu, denn sie würde die
USA aus Syrien entfernen und die
Kurden Washington entfremden,
aber Moskau und Damaskus in die
Arme treiben. Und was Europa be­
trifft: Einmal mehr knickten die
europäischen Hauptstädte vor Er­
doğans Drohung ein, die Grenzen
für die Flüchtlinge zu öffnen, wes­
halb sie sich auf eine Verurteilung
und ein Waffenembargo be­
schränkten. So verloren die von
den USA im Stich gelassenen Kurden die erste
Runde, Gewinner waren, neu erstarkt, Erdoğan
und der IS.
Die Medaille hat aber noch eine andere
Seite: Die Offensive hat die Türkei in der
Welt komplett isoliert. Eine breite Front, von
der EU bis zur Arabischen Liga, hat sich ge­
gen Erdoğan gestellt. Darüber hinaus zeigen
sich zunehmend auch die Gefahren des be­
schrittenen Minenfelds: Trumps Drohung, die
türkische Wirtschaft zu zerstören, wenn sie zu
weit gehe – türkische Truppen könnten auch
US­Kräfte in der Region treffen oder sich Ge­
fechte mit russisch­syrischen Einheiten an der
Grenze liefern. Die Kurden, die die Operation
als »Besatzung« empfinden, könnten Groß­
städte in der Türkei ins Visier nehmen. Das
Chaos in der Türkei, zu der all das führen
könnte. Die Defizite der türkischen Armee,
die in den letzten zehn Jahren erhebliche Säu­
berungen zu gewärtigen hatte.
Erdoğan ist nun ganz davon abhängig, wie
Trump und Putin handeln. Für ihn, der hofft,
als »siegreicher Feldherr« aus der Syrien­
Offensive hervorzugehen und damit sein Ein­
Mann­Regime zu stabilisieren, könnte all das
auch in den Untergang führen.

Aus dem Türkischen von Sabine Adatepe

Die türkische Intervention in Syrien hat eine komplexe Vorgeschichte.
Eine Einordnung der aktuellen Geschehnisse VON CAN DÜNDAR

Erdoğans Hoffnung –


oder sein Untergang?


Can Dündar ist Chefredakteur
der Internetplattform »Özgürüz«.
Er schreibt für uns wöchentlich
über die Krise in der Türkei

Illustrationen: Oriana Fenwick für DIE ZEIT; Pia Bublies für DIE ZEIT (r.)

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