Die Zeit - 17.10.2019

(Kiana) #1

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Seit Deutschland erfolgreich die Weltklima-
herrschaft übernommen hat, sind viele Men-
schen erleichtert. Schluss mit den lästigen
CO₂-Konto-Chips unter der Haut (an beson-
ders emissionsstarken Körperstellen, Sie erin-
nern sich), endlich wieder genügend Tempo-
150-Zonen in kinderreichen Innenstadtlagen,
und alle Frauen oder Transgenderpersonen, die
Greta heißen, können sich an eigens geschaffe-
nen Identity-Spots kostenneutral in Berta um-
taufen lassen. Oder in Gretel. Bei ihren Com-
fort-Kunden übernimmt diesen Service sogar
die Bahn. Das dauert zwar ein klitzekleines
bisschen länger, dafür heizen und rattern unsere
Züge aber wieder mit echter deutscher Braun-
kohle. Deutschland, einig Klimaland. Was wer-
den wir von unseren Nachbarstaaten für die
Rückkehr zur Vernunft bewundert! Die Eng-
länder, so hört man, wollen sich demnächst
ganz auf ihre Insel zurückziehen, um Thomas
Hobbes neu zu lesen; in Österreich wird Ibiza
Staatsurlaubsziel (mit satten 576 Tonnen CO₂
für einen 9-Euro-Flug ab Schwechat); und so-
gar die Polen, diese Dickschädel, besinnen sich
und kehren im großen Stall, äh, Stil zur
Schweine mast zurück. Wir Deutsche hatten es
aber auch echt übertrieben mit der Klimaschüt-
zerei. War es wirklich nötig, die gute alte Auto-
industrie samt aller zarten Elektro- und Hybrid-
Pflänzchen einzustampfen und uns zu einem
Volk von Kettcar-FahrerInnen zu erklären? Fri-
sche Luft, okay, Entschleunigung, blabla, auch
schadet es gewiss nicht, hin und wieder etwas
für die schlaffe Oberschenkelmuskulatur zu
tun. In der Zulassungspolitik aber hätte man
generöser sein müssen. Zuletzt verzeichnete das
Bundesministerium für Verkehr 15 Millionen
Tretautos. Bei 83 Millionen Deutschen bedeu-
tete das: Jedes Fahrzeug barg im Schnitt 5,5 In-
sassen. Dass das schon wegen der statistischen
deutschen Leibesfülle und der Helmpflicht
eine Hafermilchmädchenrechnung war, leuch-
tet ein. Sitzen Sie mal zu dritt auf der Rückbank
eines Kettcars, Modell Dakar! Selbst im Dino-
Format ist das kaum zu bewerkstelligen. Und
wenn die vom Weltretten ausgelaugten Deut-
schen mal in den Urlaub fahren wollten und für
40 Kilometerchen zwei Stunden strampeln
mussten (solange Vati noch frisch war) und ih-
nen dann lauter braun gebrannte Holländer in
holländischen Hubraumwundern entgegenka-
men, war die Laune im Orkus. Es musste etwas
geschehen. Und es geschah etwas. Anfang der
Woche hat Kettler Insolvenz angemeldet, nach
70 Jahren. Traurig. Und doch nur ein kleiner
Kollateralschaden für eine große Sache. FINIS

Das


Letzte


Und doch! Sich an den Hals eines Pferdes zu schmie-
gen, die warmen Ohren eines Hundes durch die
Finger gleiten zu lassen ist fragloses Glück. Dass sich
ein Tier unsere Zärtlichkeit bieten lässt, dass es über
alles hinweg, was wir Tieren antun können oder
schon angetan haben, Vertrauen und Nähe schenkt,
hat etwas von dem Vorschein göttlicher Gnade. Wir
werden für unsere Sünden nicht verworfen.
Und noch größer das Glück, wenn das Tier un-
sere Zuwendung seinerseits sucht, sogar zu ertrotzen
versucht wie der Hund, der unter der Tischdecke
emportaucht, erst den Kopf auf die Knie legt (eine
Anfrage), dann die Vorderpfoten aufsetzt (schon eine
Forderung), sich hochstemmt, schließlich eine Hin-
terpfote am Stuhlrand abstößt und unversehens auf
unserem Schoß sitzt, ein Deutscher Boxer von vierzig
Kilo, der uns in dieser Position um Haupteslänge
überragt. Er knuspert innig an unserem Ohr, dann
sinkt er in sich zusammen, stopft den dicken Kopf
in unsere Armbeuge, faltet die Läufe wie ein Rehlein
und schläft ein. So ist es recht! Das pochende Leben

in den Adern des Tieres vermählt sich unserem Puls-
chlag. Wir ruhen Herz an Herz.
Was war das erste Tier in meinem Leben? Der
Goldhamster, der die Mehlwürmer wie Bockwürst-
chen aus der Kralle fraß? Die zwei Meerschwein-
chen, die meine Gymnasialzeit, sogar den Auszug
aus dem Elternhaus überlebten, das eine rechts er-
blindet, das andere links, aber beide in höchstens
Tönen zwitschernd, wenn man die Waschküche
betrat? Nein, sie waren es nicht, jedenfalls in keinem
existenziellen Sinne.
Das erste Tier meines Leben war die Katze an ei-
nem türkischen Hotelstrand, rot-weiß getigert und
ziemlich struppig, vielleicht zehn Wochen alt, die
unter einem Felsen saß und ein sehr lautes Miau
machte, als ich vorbeikam, mich regelrecht anschrie.
Ich sah sie kaum, denn es war schon dunkel und die
Brandung so laut, dass ich sie auch kaum gehört
hätte, wenn sie nicht so gebrüllt hätte. Ich kniete
nieder, und da kam sie schon angewackelt, schmiegte
ihren Kopf in meine Handfläche, dabei die Augen

Ein Abgrund


von Verrat


VON JENS JESSEN

JESSENS TIERLEBEN verdrehend, sodass sie mir ins Gesicht blicken konnte,
wie eine Frau, die beim Küssen die Lider nicht senkt.
Ach, hätte ich die Prüfung nicht bestanden! Aber da
ich sie bestand, folgte mir die Katze nunmehr auf Schritt
und Tritt, erst in die Hotelhalle, wo wir empört heraus-
geworfen wurden, dann in die Tiefgarage, wo der unbe-
merkte Zutritt in den Fahrstuhl möglich war. Im Zim-
mer bestellte ich Kaffee mit einem Kännchen Milch.
Ich war kein Deutscher, der gerne Milchkaffee
trank, ich war ein Deutscher, der gerne türkischen
Kaffee trank, aber Tiere, ich erlebte es jetzt, haben die
Kraft, unser Leben zu verändern. Sie trank die Milch
aus einem Aschenbecher, schnurrte, um mich zu be-
ruhigen, lief auf dem Doppelbett herum, bis sie mein
Kopfkissen identifiziert hatte, und schlief dort sofort
ein. Es begannen Tage eines unwürdigen Versteck-
spiels, das ihr und mir das Letzte an agentenhafter
Geschicklichkeit abverlangte.
Die Katze konnte sich beim geringsten Anschein
von Gefahr unsichtbar machen, ohne mich dabei je
aus den Augen zu verlieren. Als ich den Koffer packte,

legte sie sich hinein. Als ich sie heraushob,
krallte sie sich an meine Brust. Als der Bus vor-
fuhr, war sie nicht mehr zu sehen, aber als ich
aus dem Fenster zurückblickte, saß sie auf ei-
nem Mäuerchen und sah mir nach, eine einzige
große, zur Skulptur gewordene Frage. Ich spürte
die Schwere der Schuld, es war der ultimative
Verrat, und ich kann nicht behaupten, dass mir
die Last in den vierzig Jahren seither leichter
geworden wäre. Ich vermeide, daran zu denken,
basta. Und mehr als dieses Basta zur Sicherung
des seelischen Komforts ist der Menschheit in
ihrer vieltausendjährigen Geschichte des Um-
gangs mit Tieren auch niemals eingefallen.

Hier lesen Sie im Wechsel die Kolumnen »Berliner
Canapés« von Ingeborg Harms, »Jessens Tierleben«
von Jens Jessen, »Männer!« von Susanne Mayer sowie
»Auf ein Frühstücksei mit ...« von Moritz von Uslar

A http://www.zeit.deeaudio

Beatrice Rana wurde 1993 in Apulien geboren und stammt aus einer Musikerfamilie

Foto: Michelle Gustafson/The New York /Redux/laif; Illustration: Jindrich Novotny/2 Agenten für DIE ZEIT

Ihr Kompass:


Bach


Ohne jeden Kitsch – die italienische Pianistin Beatrice Rana


macht eine fulminante Karriere VON WOLFRAM GOERTZ


D


ie unschuldige Aria aus Johann
Sebastian Bachs Goldberg-Variatio-
nen dauerte nicht mehr als eine
Minute und 47 Sekunden und
brachte einen tauben Chauvinisten
trotzdem aus der Fassung. Kaum hatte die BBC im
vergangenen Jahr diese kleine Seelenmusik, gespielt
von der italienischen Pianistin Beatrice Rana, über
YouTube ins Internet gestellt, echauffierte sich ein
User namens »Johnny Guitar«. Er kramte das ab-
solute Totschlagargument der Branche heraus, die
Referenzaufnahme von Glenn Gould von 1955,
und schwang die Keule: Ȇberlasst Gould das
Werk! Es gibt keinen Grund, einen Klassiker zu-
gunsten des Feminismus zu ruinieren.« Da bekam
er aber deftig etwas zu hören aus der Community.
Zitierbar ist das hier nicht.
In Johann Sebastian Bachs Haus gibt es be-
kanntlich viele Mietwohnungen. Eine hat nun
Beatrice Rana bezogen und überaus stilvoll und
doch raffiniert möbliert. Schon von Kindesfingern
an habe sie diese Musik geliebt und immer wieder
gespielt, erzählte sie einmal – Bach sei ihre Seele
und ihr Kompass. Eine Puppenstube freilich sind
die Goldberg-Variationen für Beatrice Rana nicht,
sondern eher ein bunter Jahrmarkt. Manche Varia-
tion befragt sie wie mit der Kristallkugel und war-
tet fast andächtig auf die Antwort. In anderen
Passagen jazzt sie förmlich über die Klaviatur, als
habe Oscar Peterson sie angespornt. Das hat Kraft,
steht im Saft, ädert die Linien sehr genau und
spürt Bachs subtilem Witz nach. Dabei entwickelt
es stets den Sog der großen Form.
Beatrice Rana, 1993 in Steinwurfnähe zum
Golf von Tarent in Apulien geboren, betrachtet
ihre Karriere als eine Fähre durchs Leben, die im-
mer zum Heimathafen zurückkehrt. Sie hat reich-
lich exquisite internationale Preise gewonnen,
etwa beim Arturo-Benedetti-Michelangeli- oder
beim Van-Cliburn-Wettbewerb. Trotzdem wollte
sie vorerst lieber muttersprachlich geerdet in
Italien bleiben. Ihre erste Plattenaufnahme mit
rein italienischer Besetzung ging mit zwei großen
Klavierkonzerten von Sergej Prokofjew (Nr. 2 in
g-Moll) und Peter Tschaikowsky (Nr. 1 in b-Moll)
dann doch ein Wagnis ein. Mit an Bord: vertraute
Gesichter, das Orchestra dell’Accademia Nazionale
di Santa Cecilia in Rom, Italiens derzeit bestes
Orchester, und am Pult Antonio Pappano, der
selbst ein vorzüglicher Pianist und noch größerer
Menschenfreund ist. Er hatte Beatrice Rana für
die Platte vorgeschlagen, und sie dankte es ihm
mit einer Bravourleistung.
Prokofjews Brillanz geht von Ranas Tasten weg
wie geschnitten Brot, schnell und herrlich mit-
leidlos. Zugleich findet sie – was schwieriger ist –
auch für den tastend-melancholischen Beginn des
Kopfsatzes die richtige Gefühlstemperierung:
mild, luftig, mit einer Wehmut, die sozusagen
prophylaktisch trauert, weil ja noch nichts vorge-
fallen ist. Das alte Tschaikowsky-Schlachtross hat
hingegen das Zeug zum Galopper des Jahres: rit-
terlich, sportlich, aber niemals schäumend. Vor


allem völlig ohne Kitsch, der anderen Pianisten
bei dieser Gelegenheit gerne mal aus dem
Steinway tropft.
Doch kaum hatte die damals 22-jährige
Italienerin sich unter den Elefanten des Re-
pertoires bewährt, wollte sie zurück zu Bach,
zu den Goldberg-Variationen – und es spricht
für ihre Schallplattenfirma Warner Classics,
dass sie der jungen Künstlerin diesen nicht
wenig hochtrabenden Wunsch erfüllte. Anders
als von irgendwelchen verbohrten YouTube-
Konsumenten fiel das Urteil der Fachwelt ein-
hellig aus. Heftigen Jubel gab es sogar von
Englands strengem Autoritätsmagazin, dem
Gramophone. Niemand fragte mehr, ob dies
nun eine weibliche Lesart sei.
Jetzt hat Beatrice Rana die französische
Karte, die der Exilant Prokofjew im Jahr 1923
in seinem 2. Klavierkonzert gezogen hat, aber-
mals als Trumpf auf den Tisch geworfen – für
ihre neue CD. Da finden sich Werke von
Maurice Ravel und Igor Strawinsky, allesamt
geschrieben im aufgekratzten und zugleich
impressionistisch bewölkten Pariser Milieu
des frühen 20. Jahrhunderts. Diesmal gibt es
freilich weder die hilfreiche Kavallerie eines
Orchesters noch die Güte und den Schutz bei
Bach, diesmal beherrschen die schiere ma-
nuelle Brillanz und der Nervenkitzel die Sze-
ne, auch auf der Hörerseite: bei Strawinsky im
Höllentanz des Feuervogels und in der Karate-
Bude von Petruschka, bei Ravel in den Meeres-
und Luftspiegelungen der Miroirs, schließlich
in der fast obszön gewienerten Morbidezza
von La Valse.
Hier zeigt sich – schnell und laut können
schließlich viele – die enorme pianistische
Lernkurve, die Beatrice Rana absolviert hat,
vor allem in den langsamen Sätzen. Die Oi-
seaux tristes spielt sie sozusagen in völlig abge-
dunkelter Voliere, und den multiplen Turm-
klängen im Vallée des cloches verschafft sie eine
fast unheimliche Räumlichkeit. Ravels Idee,
dass die Glocken von überallher zu rufen schei-
nen, formt Rana zu einem Meisterstück klin-
gender, cineastischer Poesie. Als Zuhörer erlebt
man das als doppelten Genuss: Plötzlich ist die
Entfernung vom Ohr zum inneren Auge so
kurz wie ein Wimpernschlag.
Ihr Debüt hat Beatrice Rana im Alter von
nur neun Jahren gegeben, damals spielte sie
Bachs Klavierkonzert f-Moll. Abermals ein
Werk, das sie sozusagen durchs Leben begleitet.
Kompass Bach. In diesen Tagen kann sie solche
Vertrautheit brauchen. Der Steinway, der auf
sie wartet, steht auf dem gefährlichsten aller
Podien: im großen Saal der New Yorker Carne-
gie Hall. Im kleinen debütierte sie im März mit
Chopin. Ein Abend, der laut New York Times
Maßstäbe verschob. Zum Guten natürlich.

Beatrice Rana: Klavierwerke von Ravel und
Strawinsky (Warner Classics)


  1. OKTOBER 2019 DIE ZEIT No 43 FEUILLETON 65


»Wersagt denn,daß di eWeltschon entdeckt ist?«


Nobelpre is fürLiteratur 2019


PeterHandke


Suhrka mp


Foto:PeterLindbergh

http://www.peter-handke.de
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