Die Zeit - 17.10.2019

(Kiana) #1

KINDER



  • & JUGENDBUCH


DIE LUCHS-JURY
EMPFIEHLT

Sachbuch: Die dreifache
Abenteuerreise des Aleksan-
der Doba, der als erster
Mensch mit einem Kajak
den Atlantik überquerte.
Inhaltlich und optisch über-
raschend, mit grandiosen
Bildkompositionen in Baby-
blau, Schwarz und Weiß.

Agatha Loth-Ignaciuk/
Bartłomiej Ignaciuk (Ill.):
14.000 Meilen über das
Meer. Gerstenberg 2019;
ab 10 Jahren

Kinderbuch: Drei Kinder,
eine alte Freundschaft, eine
erste Liebe: endlich ein neu-
er Roman der Norwegerin
Maria Parr, die sich so vor-
trefflich in Kinderseelen ein-
fühlen kann. Furchtbar nur
die Illustrationen der deut-
schen Ausgabe. Selten passen
Inhalt und Verpackung so
schlecht zu ein an der.

Maria Parr: Manchmal
kommt das Glück in
Gummistiefeln. Dressler
2019; ab 10 Jahren

Bilderbuch: Geometrie
meets Philosophie. Drei
Bücher, drei Gedanken-
spiele. Mac Barnett fordert
Große und Kleine zum
Antwortenfinden heraus.
Illustrationsmeister Jon
Klassen verwandelt sogar
einen Kreis, ein Quadrat
und ein Dreieck in Cha-
raktertypen.

Mac Barnett/Jon Klassen (Ill.):
Dreieck; Kreis; Quadrat.
NordSüd 2019; ab 5 Jahren

Mehr Leichtigkeit im Leben, das wünscht sich Kim. Erst mal fühlt sich aber alles schwer an

Illustration: Jillian Tamaki/Reprodukt


Sechzehn


zu sein ist


das absolut


Schlimmste!


Mariko und Jillian Tamaki haben eine über-


wältigende Graphic Novel über die schwere


Zeit des Erwachsenwerdens geschaffen:


Atmosphärisch, tiefgründig, selbstironisch


VON BENNO HENNIG VON LANGE

L


isa hat heute gesagt: ›Alle denken,
sie sind etwas Besonderes.‹ Das ist
nichts Besonderes!!« Mit dieser No-
tiz und ein paar wie vom Herbst-
wind ins Buch hineingewehten
Blättern beginnt Skim – die Ge-
schichte einer pummeligen, un-
scheinbaren und etwas linkischen 16-Jährigen, die
den Leser im Herbst und Winter des Jahres 1993 an
ihrem Leben teilhaben lässt. Dies ist das Tage buch
von Kimberly Keiko Cameron (genannt Skim) lautet
der Untertitel der Graphic Novel, die von einem
untypischen Teenagerleben erzählt, das zugleich
geprägt ist von den typischen Teenagerthemen: Es
geht um Liebe, Einsamkeit und Suizid. Um den
Wunsch, aus der Masse hervorzustechen oder in ihr
zu verschwinden. Und um die große Frage, ob man
nun etwas Besonderes ist – oder gerade nicht.
Kim lebt mit ihrer Mutter in Toronto; die Eltern
sind getrennt, den Vater und dessen wechselnde Part-
nerinnen sieht Kim ab und an zum Essen. Sie besucht
eine Mädc hen- High school, will Wicca-Hexe werden,
schwärmt für Tarotkarten und Astrologie. Ihre Mit-
schülerinnen reagieren auf Kims Äußeres – meist trägt
sie eine große dunkle Collegejacke mit Kapuze –, ihre
verschlossene Art und ihre abwegigen Hobbys mit
Ausgrenzung. Spöttisch wird sie Skim genannt, ange-
lehnt an skim milk, stark fettreduzierte Milch, was
eben gerade nicht zu ihrem üppigen Körper passt.
Selbst Kims einzige Freundin Lisa ruft sie Skim, ohne
zu bemerken, dass Kim lieber nicht so genannt würde



  • was viel über die Freundschaft der beiden sagt, die
    nicht halten wird. Vielleicht erkennt Lisa die Verlet-
    zungen der Freundin aber auch deshalb nicht, weil
    Kim sich einen Schutzschild aus Teilnahmslosigkeit
    errichtet hat. Hinter dieser Fas sa de aber steckt eine
    sensible und genaue Beobachterin, ein so tiefgründi-


ges wie lebenshungriges Mädchen, dessen Gedanken
und Erlebnisse an der Schwelle zum Erwachsensein
in diesem Comicroman auf fantastisch selbstironische
und reduzierte Weise eingefangen sind.
Ist man nun etwas Besonderes oder das Gegenteil
davon? Für 16-Jährige kann das eine gefährliche Fra-
ge sein, weil sie das gesamte Selbst und die Welt, in
der sie herumirren, in Zweifel zieht. So sehr, dass sich
mancher entscheidet, nicht wei-
terleben zu wollen. Der Ex-Freund
von Kims Mitschülerin Katie hat
sich umgebracht, woraufhin an
der Schule ein präventiver Aktio-
nismus ausbricht. Katie wird fort-
an von einem Tross Mädchen be-
gleitet, die ihr in der Trauer bei-
stehen wollen. Und schnell steht
die stille, verschlossen wirkende
Kim im Verdacht, ebenfalls Selbst-
mordpläne zu hegen, was es unbe-
dingt zu verhindern gilt. Kim
kann dieses aufgesetzte und in
ihren Augen verlogene Getue
nicht ernst nehmen. Auch der Tod
des Jungen berührt sie nicht: »Ich
KANNTE John Red dear ja gar
nicht«, schreibt sie in ihr Tage-
buch. Eine der vielen typisch
knappen Notizen.
Mehr als durch den Text er-
fährt der Leser durch die aus-
drucksstarken, atmosphärischen
Bilder, die Kims Innensicht um
die Perspektive einer allwissenden
Erzählerin ergänzen. Die komplett
in Schwarz, Weiß und Grau ge-
haltenen Panels und Seiten sind

aber nicht bloß Kommentar zu Kims fragmentari-
schen Einträgen, sie schaffen vielschichtige Deutungs-
möglichkeiten. Eines Tages zum Beispiel schreibt Kim
lapidar: »Liebes Tage buch, es schneit.« Die weiße
Fläche ist zugleich die Tage buch seite und eine ver-
schneite Wiese, in die Kim die Worte »ICH HASSE
DICH ALLES« hineintrampelt. Text und Bild spielen
mit ein an der, ergänzen sich, driften aber auch mal aus-
ein an der, sodass der Leser ent-
scheiden muss, wem er Glauben
schenkt: Kims Worten oder den
Bildern der vermeintlich auktoria-
len Er zähl instanz?
Dieses Zusammenspiel ist
überaus gekonnt, besonders weil
es das erste gemeinsame Werk der
Kanadierinnen Mariko Tamaki
(Text) und Jillian Tamaki (Illus-
tration) ist – die übrigens Cousi-
nen sind, daher der gleiche Nach-
name. Ihr Debüt erschien in Ka-
nada bereits 2008, in Deutschland
konnte man vor vier Jahren zuerst
ihren zweiten Comicroman Ein
Sommer am See lesen. Die beiden
Bücher ähneln sich in ihrer sub-
tilen Erzählweise, beide schauen
auf die Fragilität und die Stärke,
auf das überwältigende Dazwi-
schen-Sein der Adoleszenz.
Ist man nun etwas Besonderes
oder das Gegenteil davon? Diese
Frage ist für Kim irrelevant. Kim
will nicht selbst das Besondere ver-
körpern, sie sucht es woanders,
um es in ihr Leben einzulassen.
Das tritt schließlich in Person ihrer

extravaganten Englischlehrerin Miss Archer ein.
Schülerin und Lehrerin treffen sich immer wieder zum
Rauchen und Reden, Kim verliebt sich in die charis-
matische junge Frau: »Und plötzlich sprudelte es nur
so aus mir heraus, was komisch ist, denn eigentlich
bin ich nicht besonders gesprächig«, notiert sie. Eine
märchenhaft-verwunschene Doppelseite – die einzige,
die völlig frei von Text ist – zeigt die beiden vereint in
einem Kuss. Der bemerkenswerterweise in Kims Tage-
buch komplett unerwähnt bleibt.
Ein gutes Ende nimmt die Beziehung nicht. Miss
Archer distanziert sich von Kim und verlässt schließ-
lich die Schule, ohne sich zu verabschieden. Wir sehen
Kim aus dem Schulgebäude eilen und dann etwas
kleiner mit hängendem Kopf über den Parkplatz
schleichen. »Sechzehn zu sein ist das absolut
Schlimmste, was ich bisher erlebt habe«, notiert sie
dazu. Und kurz darauf: »Ich glaube, dass alles, was wir
machen und was andere mit uns machen, eine Spur
hinterlässt und uns zeichnet. Zumindest macht es
etwas mit unserer Persönlichkeit.«
Alles ist offen an dieser Stelle – Kim entscheidet
sich dafür, selbst Spuren zu hinterlassen, sich zu ver-
ändern, sich zu öffnen, sichtbar zu werden. Diese
Souveränität spiegelt sich vielleicht am deutlichsten
in der Pose, die Kim auf dem farbigen Cover ein-
nimmt: Die linke Hand beschattet die Augen, die
konzentriert nach oben blicken, der Mund wirkt ent-
schlossen. Oder lehnt sie sich nur zurück, um kurz
von den Höhen und Tiefen ihres Lebens zu verschnau-
fen? An einer Stelle schreibt sie: »Dinge, die mich
traurig machen: Liebe.« Und direkt danach: »Dinge,
die mich glücklich machen: Liebe.«

Mariko Tamaki/Jillian Tamaki (Ill.): Skim.
Deutsch von Sven Scheer;
Reprodukt 2019; 144 S., 20,– €; ab 14 Jahren

Jeden Monat vergeben die
ZEIT und Radio Bremen
den LUCHS-Preis für
Kinder- und Jugendliteratur.
Aus den zwölf
Monatspreisträgern wird der
Jahres-LUCHS gekürt.
Das Gewinnerbuch des
Monats stellt Radio Bremen
in den Programmen von
Bremen Zwei und Cosmo
vor, nachzuhören unter
http://www.radiobremen.de/luchs

LUCHS Nº 393

66


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  1. OKTOBER 2019 DIE ZEIT No 43


17.DEUTSCHER


CO RPORATEM&A-KONGRESS


12.UND 13.NOVEMBER2019, MÜNCHEN
REFERENTEN(AUSZUG)

SoerenScheel
HeadofMergers&
Acquisitions,
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ThomasGroß
HeadofMergers&
Acquisitions,MCM
KKKlllooosssttteeerrrfffrrraaauuuVVVeeerrrtttrrriiieeebbbsss-
gesellschaftmbH

AngelikaKapfer
Partnerin,BEITEN
BURKHARDTRechtsan-
wwwaaallltttsssgggeeessseeellllllsssccchhhaaaffftttmmmbbbHHH

Prof.Dr.KaiLucks
VorsitzenderdesVor-
stands,Bundesverband
MMMeeerrrgggeeerrrsss&&&AAAcccqqquuuiiisssiiitttiiiooonnnssseeee...VVV...

Dr.EikeHouben
PMILeadershipTeam,
BASFSE

INZUSAMMENARBEITMIT

INZUSAMMENARBEIT
MITDEMZEITVERLAG MITVERAAANSTALTER

PARTNER

DOFRUFICZKIEPLALRERTNER

InformationenundAnmeldung:

Kontakt:MichaaaelGassmann
[email protected]·Tel. 069 / 794095 - 65

LIEBLINGSBÜCHER


Kinder - und Jugendbücher


SILBERDRACHE
Angie Sage, arsEdition, 320 Seiten
Hardcover mit Silberfolie
€ 15 (D) / € 15,50 (A)
ISBN 978-3-8458-3397-2
Der erste Band einer fantastischen
Reihe um Drachen, Freundschaft und
Magie, bei dem ein geheimnisvolles
Drachenei erst der Anfang ist! Kurze
Kapitel, verblüffende Wendungen,
atemlose Spannung – Fantasy-Fans
werden dieses Buch verschlingen.

ab 11 Jahren


IMMER KOMMT MIR DAS LEBEN^
DAZWISCHEN
Kathrin Schrocke, Mixtvision, 192 Seiten,
gebundene Ausgabe, € 14 (D)
ISBN 978-3-95854-142-9
Seit Karl im Traum sein toter Opa
erschienen ist, will er unbedingt
Youtube-Star werden. Aber immer
kommt ihm etwas dazwischen:
Seine Oma will in eine WG ziehen,
seine Cousins lüften ein Familiengeheimnis
und dann heftet sich auch noch die Polizei
an Karls Fersen ...

ab 12 Jahren


ab 6 Jahren
VOM FUCHS, DER EIN REH SEIN WOLLTE
Kirsten Boie, Oetinger Verlag, 192 Seiten,
Hardcover, € 16 (D)
ISBN 978-3-7891-0953-9
Hinreißende Fabel über Familie, Freund-
schaft und Vertrauen. Nach einem
Waldbrand nimmt Mama Reh den kleinen
Fuchs Blau-Auge bei sich auf. Er hat im
Durcheinander seine Familie verloren.
Blau-Auge gibt sich große Mühe, ein gutes
Reh zu sein. Aber kann man einem Fuchs
wirklich trauen?
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