Die Zeit - 17.10.2019

(Kiana) #1

A


ENTDECKEN


»Luther, Hitler, Ludwig Erhard: Jeder auf seine Art


brachte den deutschen Frauen bei,


dass Gelddinge nicht ihre Zuständigkeit sind«


chtung, liebe Leserinnen, dieser Text könn-
te ihr Selbstbild erschüttern. Zum Stand
der Emanzipation der deutschen Frau gibt
es eindeutige Zahlen:
90 Prozent aller Frauen zwischen 30
und 50 Jahren verdienen laut Bundesfami-
lienministerium weniger als 2000 Euro
netto im Monat.
Fast ein Drittel aller Frauen in Deutsch-
land zahlen null Cent in eine private Alters-
vorsorge ein.
Ökonomen haben ausgerechnet, dass
eine Frau – Akademikerin, zwei Kinder,
Teilzeit-Lösung – im Laufe ihres Lebens
auf bis zu 750.000 Euro verzichtet: erst in
der Babyphase, dann beim Wiedereinstieg
und schließlich bei der Rente.
Diese Zahlen müssten wütend machen,
tun sie aber nicht.
Reden wir über Gleichberechtigung, dann
reden wir über Frauen in Aufsichtsräten, über
#MeToo und gendergerechte Sprache. Wir
reden über veränderungsresistente Strukturen
und unwillige Männer. Aber viel zu selten
darüber, dass Frauen zuallererst einmal an-
fangen müssten zu rechnen.
Einer OECD-Studie zufolge tragen deut-
sche Frauen im internationalen Vergleich am
wenigstens zum Haushaltseinkommen bei.
Deutsche Mütter arbeiten in der Regel Teil-
zeit und verdienen wenig Geld.
Nicht ein bisschen wenig Geld, sondern
so wenig, dass sie oft allein nicht für die Mie-
te aufkommen könnten. So wenig, dass sie

im Alter ohne die Rente eines Mannes ihren
Lebensstandard nicht in Ansätzen halten
könnten. Westdeutsche Frauen beziehen
heute im Schnitt 600 Euro Rente. Ziehen Sie
davon mal Miete, Versicherungen, Gesund-
heitskosten ab. Und das eine Überraschungs-
ei, das der Enkel bekommt, dann sind die
600 Euro schon aufgebraucht.
Und, das ist die erschütternde Nach-
richt: Daran wird sich in der kommenden
Generation nichts ändern. Auch Frauen,
die heute jung sind und sich noch vor ein
paar Jahren geschworen haben, alles anders
zu machen als ihre Mütter, begeben sich
sehenden Auges in die Altersarmut.
Ich berate mit meinem Team seit acht
Jahren Mütter, die nach der Babypause einen
neuen Job wollen. Weil sie im alten Job nicht
Teilzeit arbeiten können. Weil sie nach zehn
Jahren Controlling lieber etwas mit Men-
schen machen wollen oder weil ihr Herz
schon immer für Medizin/Nachhaltigkeit/
Ästhetik/Porzellanpuppen schlug. Sie suchen
einen Job, der sie erfüllt und sich mit ihren
Aufgaben als Mutter vereinbaren lässt. So
weit, so verständlich.
Viele Frauen verströmen beim ersten
Treffen den Duft internationaler Konzerne:
dezent, aber elegant gekleidet, schlank, lustig
und schlagfertig, gebildet und vor allem: in
Top-Positionen – vor dem ersten Kind. Die-
ser Eindruck fällt souffléartig in sich zusam-
men, wenn ich frage: Was ist Ihnen zuletzt
mal so richtig gut gelungen?

Ein ehemaliger weiblicher Vorstand
eines Kosmetikkonzerns sagte: »Der glu-
tenfreie Zitronenkuchen, den ich neulich
gebacken habe.«
Eine ehemalige Verlagsentscheiderin
lobt sich für ihre 900 Instagram-Follower,
die ihre Halloween-Laterne nachbastelten.
Eine Teamleiterin (in Teilzeit) mit
einem Millionen-Etat flüsterte: Ich glaube,
meine Hochzeit.
Die meisten aber sagen gar nichts.
Nicht, weil sie einfallslos wären oder
ihnen tatsächlich nichts gelänge, sondern
weil mit Beginn der Mutterschaft auch
eine gigantische, von Glückshormonen
abgepufferte Entfremdung einsetzt.
Von einem auf den anderen Tag sind sie
24/7 für ein fremdes Wesen zuständig, für
seine Bedürfnisse, sein Glück. Sie sollen, so
der Anspruch moderner Mütter, nicht ihre
Wünsche befriedigen, sondern ausschließ-
lich die ihrer Kinder. Das Symbol für die-
sen Zustand gibt es für etwa zehn Euro in
hippen Kindermode-Läden zu kaufen:
chewable jewelry, also Schmuck, den die
Kinder ihren Müttern vom Hals beißen,
während die ihn tragen. Besser kann man
die Identitätsauflösung von Frauen, die
Mütter werden, kaum verkapitalisieren.
Die früher voll berufstätigen Mütter,
die zu mir kommen, kochen ihren Kin-
dern nicht irgendein Essen, sondern eine
biologisch einwandfreie Delikatesse, die
auch in den sozialen Netzwerken gut

Ihr habt mehr verdient

VON KATRIN WILKENS

kommt. Sie besorgen nicht einfach gut
gefütterte Regenklamotten, sondern eine
fotogene Outdoormontur, in der die Kids
ein Wochenende am Nordkap überleben
würden. Die Wandfarbe in ihrem Wohn-
zimmer ist perfekt auf die neue Sitzgarni-
tur abgestimmt und der Kühlschrank
selbstverständlich immer voll – mit fri-
schem vitaminreichem Gemüse.
Wiedereinstieg? Gar in Vollzeit? Wer
bringt denn dann Charlotte-Karl-Hein-
rich-Luise zum Fußball, zum Chinesisch,
zum Reitengeigenwasauchimmer?
Der Ökonom Ernst Friedrich Schu-
macher schrieb 1980 in seinem posthum
erschienen Buch Das Ende der Epoche:
»Ich möchte mich nicht an der täglichen
Jagd nach Geld unter Leistungsdruck be-
teiligen müssen. Ich lehne die Versklavung
durch Maschinen, Bürokratien, Lange-
weile und Hässlichkeit ab. Ich will nicht
das bloße Bruchstück einer Person sein.«
Dieser Satz könnte von den Frauen
stammen, die ich berate. Seit sie Kinder
haben, fürchten sie nichts so sehr wie die
Fremdbestimmung durch die Arbeitswelt.
Doch zu welchem Preis?
Schneller, als es ihnen bewusst wird,
führen sie das Leben einer Jane-Austen-
Heldin: Abhängig vom Portemonnaie des
Ehemanns, investieren sie den Großteil
ihrer Energie in die unbezahlte Arbeit des
Sichkümmerns. Und das Einzige, was mo-
netär dabei rauskommt, sind 12 bis 36
Monate Erziehungszeit, die ihnen bei der
Rente angerechnet werden. Denn all die
vielen kleinen Jodel-Diplome, die Mutti-
Blogs und Yogalehrer-Fortbildungen, die
Frauen heute machen, um auf dem Spiel-
platz nicht sagen zu müssen: »Ich bin
Hausfrau mit all you can eat-Service für
die ganze Familie«, bringen im Alter in
den allermeisten Fällen: nichts.
Ich verurteile Frauen nicht, die nicht
oder nur Teilzeit arbeiten, ich habe es
auch nicht anders hinbekommen, als mei-
ne drei Kinder klein waren. Aber ich wer-
de ungehalten, wenn ich merke, dass die
Frau, die vor mir sitzt und einen Job sucht,
für den sie brennt (»Hätten Sie nicht
irgendetwas mit Inneneinrichtung?«),
noch nie an ihre Rente gedacht hat.
Dabei habe ich es durchweg mit Frau-
en zu tun, die rechnen können. Die in
vielen Lebensentscheidungen das letzte
Wort haben, vom Hauskauf bis zur
Urlaubsreise. Doch sie schaffen es nicht,
sich die eigene Abhängigkeit vom Good-
will ihrer Männer vor Augen zu führen.
Sie profitieren wie ihre Mütter vom Ehe-
gattensplitting, das immer noch die Ver-
sorger-Ehe fördert – nur leider eben nicht
die Versorger-Scheidung.
In deutschen Großstädten wird inzwi-
schen jede zweite Ehe geschieden, seit der
Unterhaltsreform von 2008 hat die Frau
keinen Anspruch mehr auf Unterhalt, so-
bald das jüngste Kind drei Jahre alt ist.
Der Gesetzgeber geht davon aus, dass sie
dann acht Stunden am Tag voll berufstätig
sein kann. Und wenn Sie dann keinen
Beruf hat, der sie ernährt? Und auch sonst
keine Absicherung?
Es gehört immer noch zum Habitus
selbst von gebildeten Frauen, die Geldfragen
dem Schicksal zu überlassen.
»Wenn ich mich ums Geld kümmern
würde, wäre ich für meinen Mann nicht
fuckable«, sagte mal eine Kundin, eine Lus-
tige aus Berlin. Und jetzt raten Sie mal, was
sie in ihrem ersten Leben studiert hat: BWL!
Von den über 1000 Frauen, die mein
Team und ich in den vergangenen acht Jah-
ren beraten haben, sagte nicht eine: Ich will
Geld. Sie träumen von Sinn, Spaß, Kreativi-
tät, Nachhaltigkeit. Manchmal auch von
Macht. Von Geld aber: nie.
Die Gründe für diese Unfähigkeit, den
eigenen Wert zu kennen und einzufordern,
sind älter als die Aufklärung. Luther, Hitler,
Ludwig Erhard: Jeder auf seine Art brachte

den deutschen Frauen bei, dass Gelddinge
nicht in ihre Zuständigkeit fallen. Noch im
westdeutschen Nachkriegsdeutschland hieß
es: »Samstags gehört Vati mir.« Und: »Meine
Frau hat es zum Glück nicht nötig zu
arbeiten.« Eine meiner Klientinnen über-
setzte den Satz neulich ins Berlin-Mitte der
Gegenwart: »Unsere Heidi ist ja auch hoch-
sensibel und hat noch oft den Nachtschreck.
Und da dachten mein Mann und ich, es sei
besser, wenn ich ihr noch ein wenig emo-
tionalen Rückhalt gebe.« Ihr Mann kam
hierfür natürlich nicht infrage.
Rückhalt ist super, denke ich oft, aber
gibt ihn dir die Heidi auch zurück, wenn
du im Alter allein bist und dringend einen
Treppenlift benötigst? Der fällt nicht vom
Himmel. Es ist eben nicht wie im Mär-
chen, wo Frauen vor allem dann mit
Reichtum belohnt werden, wenn sie ihn
gar nicht haben wollen. Holde, klassische
Opferpersönlichkeiten, die altruistisch das
Brot fertig backen (Frau Holle) oder das
letzte Linnen geben (Sterntaler).
»Die Frau muss ökonomisch unabhän-
gig sein, um es körperlich und geistig zu
sein, damit sie nicht mehr von der Gnade
und dem Wohlwollen des anderen Ge-
schlechts abhängig ist.« Das schrieb Au-
gust Bebel vor 140 Jahren. Damals durften
Frauen noch nicht wählen, allein kein
Bankkonto eröffnen, ohne Erlaubnis ihres
Mannes keinen Beruf ergreifen. Heute ist
seine Forderung keine Utopie mehr, sie
lässt sich umsetzen. Man muss nur beizei-
ten dran denken.
Mein Vorschlag: Paare, die ein Kind
erwarten, treffen eine Vereinbarung.
Wenn das Baby da ist, kümmern wir uns
beide darum – und zwar 50:50. Diese Ver-
einbarung schreiben wir auf und unter-
zeichnen sie gemeinsam. Tut man bei ei-
nem Mietvertrag ja auch.
Wenn das nicht geht oder nicht ge-
wünscht ist, sieht der Vertrag vielleicht so aus:
Wenn Ihr Gatte mehr arbeitet als Sie,
lassen Sie sich zumindest 200 Euro mo-
natlich auszahlen, um sie anzulegen. Nach
30 Jahren kommt immerhin eine kleine
Zusatzrente bei heraus.
Wenn Ihr Mann arbeitet und Sie zu
Hause bleiben, werden alle Einnahmen ge-
teilt. Alle. Und davon wird von beiden die
Rentenvorsorge anteilsmäßig gleich bezahlt.
Selbst wenn Sie zeitweise ganz zu Hau-
se bleiben, muss ein Tag in der Woche
Ihnen und Ihrer Karriere gehören. An
diesem Tag verabreden Sie strategische
Mittagessen oder recherchieren Ihre
Möglichkeiten. Die Kinder holt Ihr
Mann aus der Kita. Und nein: Er kann
sich nicht freikaufen, indem diesen Job
seine Mutter übernimmt.
Und ganz wichtig: Lassen Sie sich nicht
von Ihrem Mann einreden, dass er ja mehr
verdient und es doch blöd wäre, auf das
Geld zu verzichten. Dass Ihr kleines Gehalt
die Arbeit nicht lohnt, weil das Finanzamt
den größten Teil ohnehin abkassiert.
Vor drei Jahren diagnostizierten Ärzte
bei meinem Mann Morbus Alzheimer.
Von einem Tag auf den anderen fiel er als
Hauptverdiener aus. Und ich musste eine
Partituraufforderung von Paul Hinde-
mith neu interpretieren lernen: Ton-
schönheit ist Nebensache. Unser Flur ist
oft nicht gesaugt, der Hund ist auch nicht
so gut erzogen, und neulich fuhr meine
Tochter auf Klassenfahrt, ohne dass ich
wusste, wohin. Ich dachte, wenn was ist,
reicht es immer noch, nach der genauen
Adresse zu fragen.
Zu den vielen Problemen, um die ich
mich seitdem zu kümmern habe, kommt
das eine große nicht dazu: Ich kann mich
und meine Familie ernähren. Diese Auto-
nomie verleiht mir Sicherheit und Hand-
lungsmacht.
Beides steht Frauen zu.

A http://www.zeit.de/audio

Fotos: Billie Segal (Plakat), privat

70 17. OKTOBER 2019 DIE ZEIT No 43


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zu bringen. EineVera nstaltunginKooperation mit der Biomedical Allianceaus Brüssel.

TICKETSUND INFORMATIONEN:WWW.SCIENCE-MATCH.INFO


Dr.BerndStowasser
EFPIA, Brüssel;
Sanofi,Frankfurt

Referentinnen undReferenten „Biomedical AllianceinEurope“:
Prof.GeorgN.Duda
Charité–
Universitätsmedizin
Berlin,
Berlin

Prof.Veronika
vonMessling
BMBF,Leiterin
der Abteilung
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Prof.AxelR.Pries
Berliner Institut für
Gesundheitsforschung
(BIH)/ Charité–
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Berlin, Berlin

Prof.Ulrich Dirnagl
QuestCenter,
Berlin Instituteof
Health (BIH),
Berlin

Dr.Martin Seychell
Europäische
Kommission,
Brüssel


  1. NOVEMBER•BERLIN

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