DIE SPD-TOUR
An diesen 23 Orten stellten
sich die Kandidaten für den
Parteivorsitz der Basis vor
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3 2
(^45)
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(^1213)
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- Neumünster, 2) Neubrandenburg,
- Hamburg, 4) Oldenburg, 5) Bremen,
- Berlin, 7) Potsdam, 8) Hannover,
- Braunschweig, 10) Bernburg,
- Kamen, 12) Duisburg,
- Baunatal, 14) Dresden, 15) Erfurt,
- Troisdorf, 17) Friedberg,
- Nieder-Olm, 19) Nürnberg,
- Saarbrücken, 21) Ettlingen,
- Filderstadt, 23) München
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DIE SPD-TOUR
An diesen 23 Orten stellten
sich die Kandidaten für den
Parteivorsitz der Basis vor
1
3 2
(^45)
8 76
9
11 10
(^1213)
15 14
16
17
18
20 19
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22 - Neumünster, 2) Neubrandenburg,
- Hamburg, 4) Oldenburg, 5) Bremen,
- Berlin, 7) Potsdam, 8) Hannover,
- Braunschweig, 10) Bernburg,
- Kamen, 12) Duisburg,
- Baunatal, 14) Dresden, 15) Erfurt,
- Troisdorf, 17) Friedberg,
- Nieder-Olm, 19) Nürnberg,
- Saarbrücken, 21) Ettlingen,
- Filderstadt, 23) München
23
E
s gibt zwei Typen von Sozial-
demokraten: die Enttäusch-
ten und die Ironischen. Die
Enttäuschten sind in der
SPD, weil sie durch die SPD
groß werden wollten: Teil
der größten Partei mit der
längsten Geschichte. Dass die SPD nun Ver-
trauen verliert, dass sie schrumpft, macht
die Enttäuschten wütend, weil sie mit der
SPD klein bleiben.
Die Ironischen sind in der SPD, weil sie
Ideale haben. Weil ihre Großeltern in der
SPD waren. Dass die SPD nun gar nicht
mehr so groß ist, macht die Ironischen lus-
tig: Sie drücken einem auf Parteiveranstal-
tungen ihre Visitenkarten in die Hand und
sagen: »Die können Sie meistbietend ver-
steigern, wenn es uns bald nicht mehr gibt.«
Das ist die Lage: Die SPD ist eine Partei
von wütenden Verlierern, die in den guten
Momenten über sich selbst lachen. Na ja.
In den schlechten Momenten, und von
denen gab es viele in letzter Zeit, lachen die
anderen. Zum Beispiel als die SPD ankündig-
te, dass es ab jetzt keine Hinterzimmer mehr
geben soll, sondern eine demokratische Wahl
des neuen Parteivorsitzes. Auch völlig unbe-
kannte Parteimitglieder sollen sich bewerben –
und vor der Abstimmung gibt es eine Tour,
bei der die Bewerber sich der Basis vorstellen:
23 Termine an 23 Orten innerhalb von fünf
Wochen mit insgesamt 20.000 Zuschauern.
Es gibt einen festen Ablauf und ein vor-
gegebenes Bühnendesign in Rot-Orange-
Pink-Weiß, Stehtische und zwei Aufstell-
wände mit der Aufschrift »Jetzt entschei-
den wir die Zukunft«. Es gibt drei Sets
dieser Requisiten, die auf drei Routen
durch Deutschland gefahren werden, von
einer Halle zur nächsten. Jeder Bewerber
bekommt 2500 Euro Budget, um Hotels
und Fahrten zu bezahlen. Die ehrenamt-
lichen Helfer aus den Ortsverbänden tragen
T-Shirts mit dem Hashtag #UNSERESPD.
»Ein Fest der innerparteilichen Demokra-
tie«, nennen sie es. Oder, wie Ralf Stegner es
sagen wird, an einem Bahnsteig in Sachsen-
Anhalt beim Warten auf den Regionalzug:
»Einen Schuss hat diese Partei noch frei.«
Die Idee, vom Anfang bis zum Ende dabei
zu sein, auf jeder einzelnen Regionalkonferenz
zuzuschauen, der SPD also hinterherzureisen
wie ein Groupie, entstand, weil klar war, dass
da etwas sehr Großes, nämlich die Sozial-
demokratie und die Bundespolitik, auf etwas
sehr Kleines treffen würde, nämlich Orte wie
Ettlingen. Es ist das erste Mal, dass eine Partei
auf diese Weise, mit diesem Aufwand und
diesem Risiko über ihren Vorsitz abstimmt.
Die Frage ist, ob das bescheuert ist oder genial.
»Bestimmt können Sie am Ende alles
mitsprechen«, hatte SPD-Generalsekretär
Lars Klingbeil gesagt, als ich ihm von dem
Plan erzählt habe, und ich hatte gesagt: »Ich
hoffe nicht.«
Jetzt ist alles vorbei, und vielleicht war es
doch nicht das Ende, sondern ein Anfang.
Mitsprechen kann ich alles.
Die Auftaktveranstaltung in Saarbrücken
fühlt sich zittrig an. Phoenix sendet live, bei
der Übertragung werden die Namen der
Kandidaten teils falsch geschrieben und ver-
wechselt. Damit man die Bewerber wenigs-
tens im Saal auseinanderhalten kann, liegt
auf jedem Stuhl ein Flyer mit Porträtfotos,
Namen und Website-Links.
Manche der 18 Köpfe kennt man, weil
jeder sie kennt: Olaf Scholz, Gesine Schwan.
Manche kennt man, weil sich die heute-show
ENTDECKEN
72 17. OKTOBER 2019 DIE ZEIT No 43
Man kommt mit viel Material nach Hause von so einer Polit-Rundreise
Die SPD sieht überall gleich aus: Anstecknadel, Krawatte, Sakko, Hemd
SPD total
An 23 Orten, auf 23 Konferenzen sind die Kandidaten für den Parteivorsitz
gegeneinander angetreten. Ist das eine bescheuerte Idee? Oder eine geniale?
ANNA MAYR war bei jeder einzelnen dabei
regelmäßig über sie lustig macht: Ralf Stegner,
Karl Lauterbach. Manche kennt man nur,
wenn man sich ein bisschen mehr für Politik
interessiert: Boris Pistorius, Norbert Walter-
Borjans, Christina Kampmann. Manche
könnte man kennen, weil sie schon lange im
Bundestag sitzen: Nina Scheer, Michael Roth,
Saskia Esken. Manche wird man erst nach
dieser Tour kennen: Klara Geywitz etwa, oder
Dierk Hirschel
Und jetzt treten all diese Namen auch noch
in Mann-Frau-Teams an, die nicht nach Be-
kanntheit gemischt sind, sondern nach poli-
tischen Positionen und Sympathie.
Als die Veranstaltung mit Applaus beginnt,
setze ich mich neben einen Mann mit Bauch.
Er ist hier, weil es so ja nicht weitergehen kann
mit der SPD. Einer von den Grimmigen mit
diesem Wird-ja-eh-nix-Blick.
Ein Parteivorsitz ist keine Kanzlerkandida-
tur. Wer einer Partei vorsitzt, die regiert, der
muss selbst nicht regieren. Die Macht eines
Parteivorsitzes ist eher eine diskursive, wa-
bernde Macht. Der Vorsitz schwebt zwischen
Zukunftsfragen und Organisations-Klein-
Klein, zwischen Bundestag und Basis. Bei der
SPD kommt hinzu: der Spagat zwischen er-
wünschter Bodenständigkeit und überhöhten
Erwartungen. Willy Brandt, Kanzler und
Sozi-Gott, war selbst zwei Jahrzehnte lang
Vorsitzender. In der Parteizentrale in Berlin
steht deshalb eine Statue von ihm, überlebens-
groß. So muss man also auf die Bühne in
Saarbrücken schauen und auf die Menschen,
die dort heute sprechen werden: Welche zwei
Bewerber, welches Team, könnte in 50, 60
Jahren neben Willy stehen, bronzegegossen?
Sie haben jetzt nacheinander jeweils
fünf Minuten Zeit zum Reden, dann noch
mal zwei Minuten zu einem vorgegebenen
Thema, dann gibt es Zeit für Fragen aus
dem Publikum und am Schluss noch mal
zwei Minuten pro Team für ein Fazit.
Der Mann mit Bauch klatscht sich in einen
Rausch. Er hat angefangen, als die Abgeord-
nete Saskia Esken und der ehemalige NRW-
Finanzminister Norbert Walter-Borjans sich
gegenseitig vorgestellt haben. Er hat noch
lauter geklatscht, als Karl Lauterbach sagte,
dass es ungerecht ist, dass die Armen früher
sterben. Er ist nickend vor und zurück ge-
wippt, als Michael Roth und Christina Kamp-
mann riefen, dass sie »die Türen und Fenster
der SPD weit öffnen« wollen, dass sie streiten
wollen, »aber lustvoll!«. Er hat sich ehrfürchtig
erschrocken, als der Gewerkschafter Dierk
Hirschel ins Mikro schrie: »Wir! Haben! So-
zialdumping! Betrieben!« Er hat nicht jeden
gleich gern gemocht, der da oben stand. Aber
geklatscht hat er immer.
An diesem Abend schafft es die SPD, sich
selbst zu begeistern. Weil die Entscheidung 22
Konferenzen weit weg ist, weil genug Zeit
bleibt, sich gegenseitig zu versichern, dass
diese Partei noch immer groß ist und große
Ideen hat.
Westdeutschland, da darf man sich
nichts vormachen, sieht überall gleich aus:
ein Bahnhof, zwei Ausgänge, einer Rich-
tung City, der andere Richtung nirgendwo,
Bürogebäude auf dem Bahnhofsvorplatz,
Galeria Kaufhof, ein Dönerladen.
Und auch die SPD, denkt man, sieht
überall gleich aus. Graue Haare, Ansteck-
nadel, Sakko, Hemd, rote Krawatte, Mett-
brötchen in der Hand.
Dass da eine Marktlücke ist, Raum für
etwas Neues, und dass jemand diese Lücke
entdeckt hat, merkt man in Hannover, zweiter
Termin, zum ersten Mal so richtig. Christina
Kampmann, die mal nordrhein-westfälische
Familienministerin war, 38 Jahre alt, und Mi-
chael Roth, der seit zwanzig Jahren im Bun-
destag sitzt, 49 Jahre alt, machen so was wie
sozialdemokratischen Populismus: jeder Satz
eine Pointe, »die einzige Sprache, die die
Trumps, Putins, Bolsonaros verstehen, ist ein
Europa, das zusammenhält!«, jede Pointe ein
Applaus-Trigger, die Betonung jedes Worts
knallt auf der ersten Silbe. »ES-pede.« Chris-
tina Kampmann ist groß und blond, trägt
enge Jeans und Sneakers, Michael Roth ist
klein und grauhaarig und trägt eine dieser
Brillen, mit der junge Männer in Berlin-Fried-
richshain ihre nachdenkliche Seite betonen
wollen. In Hannover bekommt niemand so
viel Applaus wie sie, niemand redet so zuge-
spitzt, niemand lacht so viel und bekommt so
viele Lacher aus dem Publikum. »Wenn ihr
uns wählt, dann traut ihr euch was«, sagt Mi-
chael Roth. »Wir sind nämlich das jüngste
Team hier auf der Bühne. Und das liegt na-
türlich nur an Christina.« Das Publikum sagt:
Wie frisch die sind! Das brauchen wir!
Auf jeder der Konferenzen gibt es ein Vor-
programm. Oft spricht Lars Klingbeil, mal ist
Hubertus Heil da, mal Natascha Kohnen,
Landesvorsitzende in Bayern. Was aber jedes
Mal gesagt werden wird, gesagt werden muss,
egal wer dort steht: Das Team, das am Ende
gewinnt, selbst wenn es nur mit 51 Prozent
der Stimmen sein sollte, hat die hundert-
prozentige Solidarität der Partei.
In Bremen, vierter Termin, tragen Michael
Roth und Christina Kampmann blaue Pullo-
ver mit buntem Europa-Logo, als müssten sie
von der Veranstaltung direkt auf eine »Pulse
of Europe«-Demonstration fahren. Kamp-
mann ruft, dass die SPD der Claudio Pizarro
der Parteienwelt ist, ein Stürmer von Werder
Bremen. Lachen, Jubel. Roth ruft, dass er ins
Gelingen verliebt ist, dass er Lust auf die Zu-
kunft hat. Jubel, Applaus. »WIR waren die
ERsten, die ein ENde der schwarzen Null ge-
fordert haben«, ruft Kampmann.
Ein paar Minuten später sagt Norbert
Walter-Borjans, dass Selbstbegeisterung nicht
alles ist. Hilde Mattheis sagt, dass man sehr
wohl in den Rückspiegel schauen muss, um
sicher in die Zukunft zu kommen. Und Dierk
Hirschel sagt, dass er schon immer gegen die
schwarze Null gestimmt hat – aber schön, dass
andere es sich jetzt auch überlegen.
Die Welt, wie wir sie kennen, funktioniert,
weil in ihr manche gewinnen und manche ver-
lieren. Wer in der SPD ist, der ist dort, weil er
den Gewinnern nicht traut und den Verlierern
helfen will. »Die Leistungsträger sind nicht
die Manager, die die Firma in den Ruin treiben
und dann mit einer Abfindung gehen«, so
wird Ralf Stegner es auf fast jeder der 23 Kon-
ferenzen sagen. »Die Leistungsträger sind die,
die hart arbeiten und dafür nicht anständig
bezahlt werden.« Das ist so ein Standard-SPD-
Satz, für den es zuverlässig Applaus gibt.
Die SPD ist die Partei der Kleinen, die
Partei der vielen. Nur ist heute nicht mehr
ganz klar, wer die vielen Kleinen sind: die
Bergmänner, die es noch gibt? Die selbst-
ständigen Werbetexter, die aus ihrer Ein-
zimmerwohnung arbeiten? Die Erzieher?
Also richtet sich der Helfer-Reflex nach in-
nen, auf die eigenen Leute: Man misstraut
denen, die gewinnen, selbst wenn es nur ein
bisschen Applaus in einer Stadthalle ist.
In Friedberg, fünfter Termin, sagt eine
21-jährige Altenpflegerin mir, dass sie sich
wünschen würde, dass Christina Kamp-
mann die Partei führt. Aber nicht gemein-
sam mit Michael Roth, sondern mit der
Kolumnistin Sophie Passmann, die eben-
falls SPD-Mitglied ist.
In Nieder-Olm, sechster Termin, hat der
Lokalredakteur am Tisch neben mir seinen
Bericht schon fertig geschrieben, bevor es los-
geht. »Auch die sechste Veranstaltung der
SPD-Regionalkonferenzen stieß wieder auf
großes Interesse«, steht da, ein paar Platzhalter
gibt es noch, für Zitate, die er später einfügen
wird. Er notiert auch, dass Vizekanzler Olaf
Scholz etwas später kommt. »Er musste noch
den Haushalt machen«, sagt seine Teampart-
nerin Klara Geywitz, und alle lachen.
Das Team Scholz/Geywitz wird am Ende
die meisten Stimmen bekommen, da sind sich
viele sicher. Und wenn man fragt, warum,
dann nennen sie zwei Gründe: erstens Olaf
Scholz und zweitens das Gesicht von Olaf
Scholz. Man kennt ihn. 430.000 SPD-Mit-
glieder kennen ihn, weil er heute bei Anne
Will sitzt und morgen im Bundestag neben
Angela Merkel. Sie kennen seine ruhige Stim-
me. Er lächelt bei diesen Veranstaltungen die
anderen Kandidaten an, während sie reden,
als wären sie Kinder im Sandkasten, denen er
heute Abend noch den Schlamm aus den
Haaren waschen muss. »Spielt mal schön«,
sagt dieses Lächeln. Scholz legt es nur ab, wenn
er selbst spricht.
Keine Hinterzimmer mehr. So hat Lars
Klingbeil es hundertmal gesagt während der
letzten Wochen. Aber die Hinterzimmer gibt
es nicht nur in Berlin. Sie sind auch in die
Köpfe der Mitglieder eingebaut. In Bernburg,
dritter Termin, sagen Männer, die Friedel
heißen oder Hans-Peter: »Ich wähle Olaf, weil
Fotos: Daniel Delang für Die Zeit