Die Zeit - 17.10.2019

(Kiana) #1
Fahrer Ralf Stegner. Er wohnt in der Nähe
von Neumünster.
Stille. Handy-Zeit. Stegner retweetet
Manuela Schwesig, Klara Geywitz scrollt
durch ihre Facebook-Timeline, Hilde Mat-
theis starrt aus dem Fenster.
»So eine richtig lustige Klassenfahrt wird
aus uns auch nicht mehr«, sagt Klara Geywitz.
»Nä«, sagt Hilde Mattheis.
»Wir könnten ein Hörspiel hören«, sagt
Geywitz. »Benjamin Blümchen: Töröö!«
»Das habe ich auch jah-re-lang mit mei-
nen Kindern gehört!«, sagt Ralf Stegner.
Vor ihrer Kandidatur mit Olaf Scholz war
Klara Geywitz niemandem ein Begriff. Immer
wieder sprechen Leute auf der Bühne ihren
Nachnamen falsch aus. Sogar ein Mitarbeiter
von Olaf Scholz sagt zu mir, dass »Frau Gley-
witz« gleich Zeit hätte. »Ich stehe ja unter
Salatblatt-Verdacht«, sagt sie einmal, und
meint damit, dass alle denken, es gäbe sie in
diesem Rennen nur, weil es eine Frau für
Scholz brauchte, als Garnitur. Geywitz küm-
mert das nicht besonders. Aber sie kümmert
sich um Olaf: Schaut man sich alte Fotos von
ihr an, steht sie in dunklen Hosenanzügen im
Brandenburger Landtag. Auf den Konferen-
zen trägt sie oft eine grüne Lederjacke, bunte
Kleider. Viele der Outfits hat sie sich extra für
die Tour zugelegt, damit sie und Olaf nicht
grau in grau dastehen. Und wenn er mal auf
eine Publikumsfrage zu lange antwortet, legt
sie ihre Hand auf seinen Rücken und lächelt,
wie eine ältere Schwester, die sagen will: »Das
reicht jetzt, hast du gut gemacht.«
Kurz vor Neumünster, etwa um ein Uhr
nachts, weist Stegner dem Taxifahrer den
falschen Weg.
»Willst du uns nach Dänemark schleu-
sen?«, fragt Hirschel.
»Ist ganz schön dunkel bei dir, Ralf«,
sagt Geywitz, »hast du die Laternen abge-
stellt in deiner Amtszeit?«
»Die SPD leuchtet von sich selbst«, sagt
Stegner. Stimmt. Denke ich. Sie sind ja alle in
der gleichen Partei. Man vergisst das manch-
mal, wenn sie wieder grimmig werden, weil
jemand zu viel Applaus bekommt.
»Ihr kriegt mit uns zwei, die bewiesen ha-
ben, dass sie sich was trauen«, sagt Norbert
Walter-Borjans in Neumünster, fünfzehnter
Termin. »Und dass man mit Mut auch gewin-
nen kann.« Da lehnt sich Karl Lauterbach zu

Michael Roth hinüber und flüstert ihm etwas
ins Ohr.
Walter-Borjans, darüber machen sich
viele lustig, hat »noch nie eine Wahl gewon-
nen« – er war Regierungssprecher, Staatssekre-
tär, Finanzminister in NRW, aber er hatte nie
sein Gesicht auf Wahlplakaten, musste nie um
Stimmen werben. Dass der Juso-Vorsitzende
Kevin Kühnert sich für das Team Walter-
Borjans/Esken ausgesprochen hat, dass die
Juso-Verbände auf den Konferenzen Grup-
penfotos mit dem Team machen wollen und
ihnen nette Fragen stellen (»Saskia, wie findest
du Feminismus?«), macht die anderen Kandi-
daten wütend. Wahlempfehlungen, sagen sie,
lächerlich! Ein echter, tüchtiger Sozi muss wie
ein Bergmann sein: Er muss sich geschunden
haben, die Plackerei kennen, das ein oder
andere Körperteil in der Maschinerie verlieren.
Erst dann ist er ein »Leistungsträger«, erst
dann verdient er Respekt. »Da müsste mir
schon die Hand abfallen, dass ich die wähle«,
sagen die anderen Kandidaten über das Team.
»Das wäre untragbar, wenn die gewinnen.«
Und: »Wie sollen die denn die Partei führen?«
In Braunschweig malt der Mann, der ne-
ben mir sitzt, Plus-Zeichen auf den Flyer, der
die Köpfe der Kandidaten zeigt. Kampmann
und Roth: ++. Esken und Walter-Borjans: ++.
Pistorius und Köpping: ++. Über Ralf Stegner
und Gesine Schwan schreibt er groß das Wort
HINTERZIMMER. Minus vergibt er nicht.
Aufstieg muss Kampf sein. Sonst ist er
ungerecht. Das ist die Haltung, in der die
SPD verhaftet ist. Weil sie alle Geschichten
erzählen können, wie sie sich rauskämpfen
mussten, hocharbeiten, mit null Unterstüt-
zung – abgesehen vielleicht vom Schüler-
Bafög, erfunden von Willy Brandt, also
quasi gottgegeben. Dass es einen Aufstieg
ohne Hindernisse geben kann, einen Wahl-
sieg ohne Plakatekleben, zufälliges Glück –
das ist gegen alles. Quasi neoliberal.

Am Tag der Stimmenauszählung kön-
nen zwei Dinge passieren: das Vorherseh-
bare oder das genauso Vorhersehbare, das
aber keiner vorhersehen will. Es könnte
eine Stichwahl zwischen Olaf Scholz/Klara
Geywitz und Boris Pistorius/Petra Köpping
geben. Zwei Teams, auf die sich alle einigen
können, die aber den linken Teil der Partei
nicht repräsentieren, obwohl er so groß ist.
Oder eins der Teams, auf die sich in Berlin
niemand einigen kann, schafft es in die
Stichwahl: Norbert Walter-Borjans, der noch
nie eine Wahl gewonnen hat, oder Christina
Kampmann, die zu fröhlich ist. Oder etwas
völlig anderes passiert.
21 Konferenzen lang haben sie es geschafft:
nur mit- und übereinander zu reden. Dann
plötzlich übertönen zwei Dinge die SPD und
die Konferenz in der Event-Loge des Dresdner
Flughafens. Nämlich der Anschlag auf eine
Synagoge in Halle einerseits. Und der Ghetto-
blaster von 50 »Fridays for Future«-Demons-
tranten andererseits.
Einerseits tragen die meisten von ihnen
heute Schwarz in Dresden. Es gibt eine
Schweigeminute, und Petra Köpping zitiert
am Beginn ihrer Redezeit eine Stelle aus dem
Talmud: Erst waren es die schlechten Worte,
dann waren es die schlechten Taten.
Andererseits schallt »Es ist nicht deine
Schuld, dass die Welt ist, wie sie ist, es wär nur
deine Schuld, wenn sie so bleibt«, von der
Band Die Ärzte durch den gesamten Flug-
hafen, eine halbe Stunde bevor die Konferenz
beginnt. Boris Pistorius und Petra Köpping
stehen bei den Jugendlichen, reden gegen die
Musik an. Sie verteidigen das Klimapaket.
»Wir müssen handeln«, sagen die Ju-
gendlichen.
»Wir müssen den Menschen Zeit ge-
ben«, sagt Pistorius.
»Willy Brandt hätte sich im Grab um-
gedreht«, sagen die Jugendlichen.
Zwei Dinge werden sich an der Rede von
Boris Pistorius ändern an diesem Abend: Er
spart sich das Egon-Bahr-Zitat, das er sonst
jedes Mal bringt: »Wir müssen die Welt neh-
men, wie sie ist, aber wir müssen sie nicht so
lassen.« Vielleicht, weil es dem Ärzte-Song zu
ähnlich ist, der allen noch in den Ohren hallt.
Und er wird am Ende seiner Rede nicht die
Stimme von Willy Brandt nachmachen. Es ist
kein Tag für Scherze.

Bis zu diesem Punkt, bis nach Dresden,
waren die Konferenzen wie ein Gate am Flug-
hafen: ein geschützten Raum, in den man nur
mit Sicherheitscheck gelangt, also mit SPD-
Mitgliedschaft, und in dem alle das gleiche
Reiseziel haben: die Welt, in der wir leben, ein
bisschen gerechter zu machen. Es war wahr-
scheinlich gut, dass sie eine Weile gemeinsam
am Gate saßen, auf unbequemen Stühlen, die
Welt hinter schalldichten Fenstern, immer
gleiche Stimmen, die durch Mikrofone schal-
len. Es war gut, um darüber zu reden, wo sie
eigentlich hinwollen. Aber der Abflug kommt
ja erst noch. Und wer auch immer dann im
Cockpit sitzt, wird das Draußen nicht mehr
ignorieren können. Den Wind, die Wolken,
die Nazis, die Klimakrise, die CSU. Und die,
die im Passagierraum sitzen, werden entweder
meckern, weil es nicht schnell genug losgeht


  • oder weil es zu viele Turbulenzen gibt.
    Nach der allerletzten Konferenz in Mün-
    chen sitzt Christina Kampmann auf einer
    Bank im Biergarten des Löwenbräukellers. Sie
    fährt von hier in den Urlaub, nach Südtirol,
    mit ihrem Freund und dessen Kindern. »Die
    Rettung der Partei hat erst mal Pause«, sagt sie.
    Boris Pistorius hingegen macht weiter und
    beklagt in der Welt am Sonntag, dass auf den
    Konferenzen zu wenig über die Migrations-
    frage gesprochen wurde.
    Ralf Stegner hat ein inoffizielles Wahlver-
    sprechen gegeben: eine 24. Konferenz, mit
    verteilten Rollen – jeder muss jemand anderen
    spielen. Nina Scheer würde zum Beispiel wie
    Klara Geywitz reden, Michael Roth wie Karl
    Lauterbach und so weiter. Natürlich ist das ein
    Scherz. Aber vielleicht wäre es gar nicht so
    blöd. Wenn die Großen mal mit den Kleinen
    tauschen. Die Leisen mit den Lauten. Die
    Roboterredner mit den Stotterern. Wenn sie
    sich gegenseitig wiederfinden, in diesem Zwi-
    schenzustand, in dem noch niemand verloren
    hat und niemand abheben muss.


er die Erfahrung hat.« Sie wollen ihn größer
machen, weil er schon groß ist. Man kann ihn
sich als Bronze-Statue neben Willy vorstellen.
In Filderstadt, neunte Veranstaltung, steht
ein Sicherheitsmann von Scholz vor der Stadt-
halle, rauchend, und fragt: »Sieht das eigent-
lich blöd aus, wenn wir hier immer mit den
Panzern ankommen?« Er meint die schwarzen
Autos mit den verdunkelten Scheiben, die vor
den Stadthallen halten, um Olaf Scholz dort
abzusetzen, damit er dann, von Sicherheits-
leuten umringt, in die Halle läuft.
Gesine Schwan hat ja auch so ein Fernseh-
gesicht: eins, das alle kennen. Nach der Ver-
anstaltung in Nieder-Olm, sechster Termin,
lässt Schwan sich von einem Juso ihr Gepäck
die Treppe heruntertragen. Vor dem Ausgang
nimmt ihr Teampartner Ralf Stegner einen der
Koffer ab. Schwan und Stegner sind zwei, die
sagen, dass sie mit dieser Kandidatur nichts zu
verlieren haben. Schwan hat sich auch schon
für die Wahl zur Bundespräsidentin aufstellen
lassen – es hat ihr nicht geschadet, dass sie nicht
Bundespräsidentin wurde. Und Stegner kann
jederzeit zurück in sein Büro als Fraktions-
vorsitzender in Schleswig-Holstein.
An diesem Abend werden Schwan und
Stegner in Nieder-Olm in drei Restaurants
gehen. Im ersten riecht es angenehm nach
Kerzenwachs, aber die Küche hat schon zu.
Ein paar Genossen sitzen um einen großen
Tisch. »Gesine!«, ruft einer. »Wie schön,
dich noch zu sehen.« In einem Italiener ne-
benan schüttelt die Bedienung mit dem
Kopf, der Koch ist schon nach Hause ge-
gangen, es tue ihr leid. Das hier ist Nieder-
Olm, nicht New York. Nur ein Grieche am
Bahnhof hat noch länger geöffnet.
Die Geschichten und Pointen haben sich
wiederholt an diesem Abend, so weit ist es
jetzt, nach sechs Konferenzen. Jedes Mal sagt
Saskia Esken: »Der Norbert und ich, wir haben
zusammen sieben Kinder. Also: zusammen-
gezählt.« Jedes Mal sagt Hilde Mattheis: »Wir
brauchen eine sozialdemokratische Erzählung
von A bis Z.« Jedes Mal sagt Olaf Scholz: »Ich
bin von Beruf ja nicht Bundesminister der
Finanzen, sondern Arbeitsrechtsanwalt.« Jedes
Mal sagt Petra Köpping: »Der Boris und ich,
wir haben uns in Mechelen kennengelernt.«
Und jedes verdammte Mal sagt Michael Roth:
»Wir sind das jüngste Team – das liegt natür-
lich nur an Christina.«
»Wie wäre es denn«, sagt Schwan zu Steg-
ner, »wenn ich mal sage: Wir sind das älteste
Team – und das liegt natürlich nicht an Ralf?«
Der Witz ist gar nicht so besonders, aber an
diesem Abend, an dem alle nicht wissen, wie
das jetzt werden soll, noch 17 Mal das Gleiche
zu hören, hat er etwas Befreiendes. Sie wird
ihn wirklich bringen am nächsten Konferenz-
tag, es wird Lacher geben und Applaus, der
Spruch wird zum Schwan-Stegner-Standard-
repertoire. Und als Saskia Esken mal wieder
den Witz mit den sieben Kindern macht,
klatschen Hilde Mattheis und Ralf Stegner
sich über ihre Wassergläser hinweg ab. Sie
hatten eine Wette laufen.
So, wie die Kandidaten auf den Regional-
konferenzen sind, sollten ja eigentlich Parteien
sein: diskursiv. In einem andauernden Ge-
spräch, in dem jeder seine besten Sätze, Ideen,
Fähigkeiten auf den Tisch legt, damit sich je-
der davon nehmen kann und alle gemeinsam
alles besser machen. Nina Scheer könnte von
Dierk Hirschel lernen, wie man das eigene
Stimmvolumen voll ausnutzt, Dierk Hirschel
könnte von Saskia Esken lernen, wie man Auf-
regung nicht zu Anspannung macht, Saskia
Esken könnte von Klara Geywitz lernen, wie
man mit Ostdeutschen redet, Klara Geywitz
könnte von Petra Köpping lernen, wie man
Ruhe ausstrahlt, Petra Köpping könnte von


Ralf Stegner lernen, wie man einen Witz
erzählt, Ralf Stegner könnte von Boris Pisto-
rius lernen, wie man richtig gut die Stimme
von Willy Brandt nachmacht, Boris Pistorius
könnte von Hilde Mattheis lernen, dass man
auch mal dagegen sein darf, Hilde Mattheis
könnte von Michael Roth lernen, Emotionen
zu Pointen zu machen, Michael Roth könnte
von Gesine Schwan lernen, dass Altern nicht
so übel ist, Gesine Schwan könnte von Chris-
tina Kampmann lernen, wie man das Telefon-
buch vom alten aufs neue iPhone importiert,
Christina Kampmann könnte von Karl Lau-
terbach lernen, dass sich 23 Konferenzen auch
mit nur drei Outfits meistern lassen, Karl
Lauterbach könnte von Norbert Walter-Bor-
jans lernen, seiner Team-Partnerin nicht die
Redezeit wegzunehmen, Norbert Walter-
Borjans könnte von Olaf Scholz diese selbst-
verständliche Selbstsicherheit lernen, Olaf
Scholz könnte von Nina Scheer Idealismus
lernen. Und dann könnten sie alle darüber
sprechen, wer eigentlich diese Leute sind, für
die sie Politik machen. Wer die Verlierer unse-
rer Zeit sind – und was die Sozialdemokratie
für sie gewinnen könnte.
Blöd nur, dass sie hier gegeneinander an-
treten.

B


ei vielen, die gekommen
sind, um sich für ein Team
zu entscheiden, führt das
dazu, dass sie sich jetzt nicht
mehr entscheiden wollen.
»Ihr solltet es alle zusammen
machen«, sagen sie. Aber das
wird weggelacht, von den Kandidaten wie
von der Moderation, denn es ist ja klar, wie
das hier läuft. Dass hier nur ein Team ge-
winnt. Und dass die Solidarität mit diesem
Team bedeuten wird, dass die Verlierer ver-
suchen, nur ganz leise zu lästern.
In Erfurt, siebter Termin, gibt es vor der
Halle Bratwurst im Brötchen für drei Euro.
In Filderstadt, neunter Termin, klaut Boris
Pistorius einen Witz von Ralf Stegner. »Politik
ist wie Fußball, man braucht Mittelstürmer,
Linksaußen, Rechtsaußen, wichtig ist nur, dass
alle aufs gleiche Tor schießen: das gegnerische.«
Stegner macht den Witz am Ende trotzdem
noch mal, er bekommt mehr Lacher dafür.
Dann explodiert nachts in Delmenhorst
eine Gartenlaube, mitten in Deutschland wird
eine Zugstrecke gesperrt, und Norbert Walter-
Borjans, so erzählt er es, hätte es fast nicht zur
nächsten Konferenz geschafft, elfter Termin,
Baunatal bei Kassel. Er schafft es aber doch,
wie sie es eben immer alle irgendwie schaffen,
sogar Olaf Scholz, und jetzt steigt Walter-
Borjans mit seiner Teampartnerin Saskia Esken
am Bahnhof Kassel-Wilhelmshöhe in einen
Linienbus: 3,80 Euro kostet das Ticket nach
Altenbauna-Stadtmitte. Die Haltestellen hei-
ßen »Druseltal«, »Hotel« und »Friedhof«.
Im Zug von Kassel zurück nach Berlin wird
es spät, Dierk Hirschel zeigt ein Foto von sei-
nen drei Kindern, die Kleinste trägt knallrote
Sandalen, grinst frech. Hirschel sagt, dass er
selbst nicht gut in der Schule war, dreimal
sitzen blieb und dann eine Tischlerlehre an-
fing. »Erzähl das doch mal auf der Bühne«,
sagt Klara Geywitz, »... und du brauchst auch
nicht immer so zu schreien.« Hirschel, der an
der rechten Schläfe eine Ader hat, die an-
schwillt, wenn er vor Publikum spricht, lä-
chelt. »Das Mikrofon ist immer zu laut ein-
gestellt«, sagt er dann.
Bei der Regionalkonferenz im Willy-
Brandt-Haus in Berlin, zwölfter Termin, unter
der Willy-Statue, fühlt sich alles plötzlich ganz
anders an. Nicht mehr nach Klassenfahrt,
nicht mehr nach Inhalte-Kur und Selbst-
vergewisserung. Denn in Berlin dröhnt eine

Frage noch viel lauter als in den Stadthallen
der Kleinstädte: Wer gewinnt? Alle stellen sich
diese Frage gegenseitig, Journalisten, Kandi-
daten, Mitarbeiter. Die Leute, die für die SPD
arbeiten, fürchten sich davor, was am Ende
entschieden werden könnte. Sie suchen Schutz
in Prognosen, wie bei einem Fußballtippspiel.
Nur, dass es hier nichts zu gewinnen gibt,
wenn man richtig rät.
In Hamburg, dreizehnter Termin, begrüßt
Olaf Scholz das Publikum mit »Moin, Moin«.
Das Publikum antwortet: »Moin, Moin.«
Und an dem Freitag, an dem die Kandida-
ten sich abends in Neubrandenburg vorstellen
müssen, vierzehnter Termin, drängelt sich
Hilde Mattheis nachmittags an Gleis 6 des
Berliner Hauptbahnhofs durch »Fridays for
Fu ture«-Demonstranten, die alle auf den Re-
gionalexpress warten.
Eigentlich müssen die Kandidaten ihre An-
und Abreisen selbst organisieren – sie wohnen
ja alle an unterschiedlichen Orten, Pistorius in
Osnabrück, Geywitz in Potsdam, Walter-Bor-
jans in Köln. Aber weil der Weg von Neubran-
denburg nach Neumünster mit dem Zug ewig
dauert und die Veranstaltung früh am nächsten
Morgen beginnt, dürfen sie sich heute auf
Partei kosten fahren lassen. So hatten sich das
ja alle vorgestellt, als die Tour angekündigt
wurde: ein roter Bus mit SPD-Logo, leicht al-
bern, leicht entwürdigend für die Kandidaten.
Wiederholungen bedeuten Sicherheit. Es
reicht zum Beispiel nicht, nur einmal im Leben
»Ich liebe dich« zu sagen, man muss es immer
wieder sagen können, damit es zählt. Aber
Wiederholungen können auch dazu führen,
dass sich die Worte irgendwann leer anfühlen.
Und bei 23 Konferenzen mit immer denselben
Kandidaten mit den ungefähr gleichen State-
ments vor den gleichen Kulissen gibt es Teams,
die toll wirken, wenn man sie einmal, zweimal
sieht, und dann roboterhaft, wenn man sie
mehrmals sieht. Christina Kampmann und
Michael Roth sind so – man glaubt ihnen
weniger, je häufiger man sie erlebt. Weil ihre
Sätze so glatt sind, ihre Pointen so dicht. Da-
gegen sind manche Teams die ersten paar Male
unmöglich. Sie kommen nicht zum Punkt, sie
sind zu kompliziert. Aber nach acht, neun,
zehn Konferenzen wirkt es, als würden sie
mehr fühlen als die anderen: So ist Hilde Mat-
theis, von der ich am Anfang denke, dass sie
steif ist, irgendwie pikiert, wie sie da auf der
Bühne steht und über die letzten Jahrzehnte
ihrer Parteimitgliedschaft meckert. Die aber,
wenn man sie dort sitzen sieht, während die
anderen Kandidaten reden, ganz oft nickt und
zu sich selbst »ja, genau«, sagt, als würde end-
lich Hoffnung nahen. Oder Nina Scheer, von
der alle sagen, dass sie »immer fast weint« auf
der Bühne und die viel zu viele Umwelt-
Fremdworte benutzt, EEG-Umlage, enorme
Investitionsprogramme, Fotovoltaikdeckel –
weil sie fühlbare Panik davor hat, an der Ret-
tung dieser Welt zu scheitern.
Am Abend in Neubrandenburg, vierzehn-
ter Termin, liegt Genervtheit in der Luft. Sie
haben sich zu oft gesehen in den letzten Wo-
chen. Michael Roth läuft über die Bühne, sagt:
»Es braucht nicht nur Haltung und Ernst-
haftigkeit ...«, zeigt dabei auf Ralf Stegner, ruft:
»... sondern auch Fröhlichkeit!«, dreht sich
zum Publikum. Stegner hebt die Hände ent-
schuldigend in die Luft. Während Boris Pis-
torius für die Regierungskoalition wirbt, fä-
chert sich Hilde Mattheis Luft zu, Nina Scheer
schüttelt den Kopf, fast angewidert.
Dann müssen sie noch einmal etwas
enger zusammenrücken, in einem Groß-
raumtaxi Richtung Neumünster, der Tour-
bus für heute Nacht. Auf der Rückbank
sitzen Klara Geywitz und ich, davor Hilde
Mattheis und Dierk Hirschel, neben dem

ENTDECKEN


Viele, die gekommen sind, um sich für ein Team zu entscheiden, wollen sich jetzt nicht mehr entscheiden

Im März 2020 wählen die Bayern, über den Parteivorsitz wird Ende Oktober abgestimmt

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