Architectural Digest Germany - 11.2019

(coco) #1

Foto: Paris, Fondation Custodia, Collection Frits Lugt; Porträt: René Fietzek Oliver Jahn


AD
Editorial

M


anchmal ist ein Strich nicht nur ein Strich. Wie der römische Ge­
lehrte Plinius der Ältere (24–79 n. Chr. ) im 35. Buch s einer „Na­
turalis his toria“ berichtet, entscheidet die Feinheit eines Strichs
darüber, wer der größte Künstler sei. Die Anekdote über den
Künstlerwettstreit zwischen Apelles und Protogenes geht in etwa
so: A pelles setzt in der Werkstatt des abwesenden Protogenes ei­
nen S trich auf eine leere Tafel und verschwindet. Kaum zurück,
identifiziert Protogenes darin die Handschrift seines Kontrahen­
ten. U m nun seine Überlegenheit zu beweisen, zieht er in anderer
Farbe einen zweiten Strich in den ersten und verlässt den Ort.
Erneut betritt Apelles das Geschehen und ergänzt einen dritten
Strich, s o fein, dass er nicht mehr teilbar war. Der Kampf ist ent­
schieden. Wir wissen nicht, ob Rembrandt, der ja auch ein großer
Leser w ar, die Anekdote kannte. Aber sie ist eine schöne Illustra­
tion fü r das Verständnis des anhaltenden Erfolgs Rembrandts als
Künstler, d essen 350. Todestag wir dieses Jahr feiern.
Bekanntermaßen kommt man einem Künstler nirgends so nah
wie bei seinem Strich, der gezeichneten Linie, hier sehen wir

buchstäblich die Hand in seinem Werk. Wer hätte sich nicht schon
dabei e rtappt, mit der Fingerspitze einen solchen Schwung nach­
zufahren? Eine spontane Geste aus dem Impuls heraus, dem Ge­
nius d es Künstlers für einen Augenblick so nahezukommen wie
irgend m öglich, als legte man seine Hand ganz leicht auf dessen
Handrücken und ließe sich führen. Aktuell gibt es eine Fülle von
Ausstellungen und neuen Büchern, die uns herrliche Möglichkei­
ten b ieten, präzise hinzuschauen und mit dem eigenen Auge nach­
zuvollziehen, warum gerade sein Strich auf die Zeitgenossen wie
auch di e Nachgeborenen solch ungebrochene Wirkung hatte.
Werfen S ie einen Blick auf das um 1641 entstandene „Interieur
mit Sas kia im Bett und einer handarbeitenden Frau“(o.), mi t Feder
und Pin sel in brauner und grauer Tinte ausgeführt. In dem gerade
vom Taschen Verlag vorgelegten sumoschweren Katalog sämtlicher
Zeichnungen und Radierungen lässt sich wie kaum zuvor wirklich
in Großaufnahme und Zeitlupe jede Bewegungsspur des Nieder­
länders nachvollziehen (S. 114). W ie meisterhaft Hell und Dun­
kel miteinander verschwimmen, wie wenige Pinselschwünge es
braucht, die Szene wie ein Filmstill hinzustellen, atemberaubend.
Leider is t der Strich des Apelles nicht überliefert, so gern man ver­
gleichen würde. Ob Rembrandt ihn hätte teilen können?

„Mit der Fingerspitze dem Strich Rembrandts


zu f olgen, ist, als reiste man direkt in seine Werkstatt.“


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