Architectural Digest Germany - 11.2019

(coco) #1

önnte man Mailands Stil-DNA in einem einzigen Apartment zu-
sammenbringen, es wäre das von Alessia Garibaldi. Kaum eine
Minute von der Kirche Santa Maria delle Grazie entfernt, in deren
Refektorium Leonardo da Vincis „Abendmahl“ in dunkles Licht
getaucht ist, atmet der sandfarbene Palazzo aus den Anfängen
des 20. Jahrhunderts die Eleganz der Mailänder Bourgeoisie: Or-
namentik, aber ohne Übertreibung; Einfachheit, aber ohne Bana-
lität. Also hinauf in den ersten Stock, vorbei an wunderschönen
Wandleuchten aus Gusseisen, dann tritt man ein in ein minima-
listisch-modernes Ambiente, das mit einem Blick nach links von
einem luftigen, stuckverzierten Salon abgelöst wird.
Ein Kontrast, der diese Stadt auf spielerische Weise spiegelt.
„Mein Apartment hat zwei Seelen: eine alte und eine junge“, erklärt
die Architektin. „Als ich es kaufte, war in den historischen Zim-
mern zur Straße hin ein Büro untergebracht. Der Bereich zur Ein-
gangstür hingegen war offen und hatte überhaupt keine dekorati-
ven Elemente.“ Garibaldi griff diesen Charakter auf: Der alte Teil
mit geschwungenen Holzrahmen, Vitrinen und Stuck wurde als
Wohnzimmer und Essbereich restauriert und versammelt nun Bil-
der, Bücher und Möbel verschiedener Epochen, die so anregend
miteinander parlieren wie Leonardos Apostel am Abendmahltisch.
Der andere Teil ist nun Küche, Schlafzimmer
und Bad und steht in seiner klar konturier-
ten Schlichtheit für eine minimalismushul-
digende Ge genwart. Dazu passt das Zement-
grau, das sich durch fast alle Räume zieht.
Was man im ersten Moment als hart emp-
finden könnte, basiert auf einem erstaunlich
sanft an mutenden Stein: iranischem Traver-
tin. Im Gegensatz zum üblichen Marmor-
Beige, wie man es in Italien kennt, wirkt diese Variante b esonders
gravitätisch. Garibaldi hat daraus die Arbeitsplatte der Küche an-
gefertigt. „Der Stein in der Küche vermittelt etwas Voluminöses“,
sagt sie. Durch eine Art Fenster wird die Arbeitsplatte zum Tre-
sen für je den schon beim Eintreten sichtbar. Weil auch die Türen
im H aus nicht der Abschottung dienen, sondern sich offen nach
oben bis zur Decke ziehen, entstehen Sichtachsen, die alle Räume
miteinander verbinden und den 200 Quadratmetern Wohnfläche
Kontinuität verleihen – und das gelingt trotz der „zwei Seelen“ er-
staunlich gut. „Ich habe die Wohnung im November letzten Jahres
gekauft. Ausschlaggebend war der rosa Kamin, der mir besonders
gut gefiel. Binnen drei Monaten war alles fertig“, erzählt Garibaldi.
Man sieht ihren Stolz, ihre Leidenschaft.
Im Eiltempo ließ sie das Eichenparkett dunkel färben, Verzie-
rungen in Handarbeit reinigen und manche mit goldenen Linien
nacharbeiten – und wo kein Travertin eingesetzt wurde, beka-
men die W ände das berühmte Grau. Es hat etwas Verbindliches:
Wo W eiß die Reinheit der Moderne heraufbeschwört, ist Grau die
sanfte Brücke zwischen den Jahrhunderten. Dem Bad verleiht der
Travertin etwas Klassisches, das Schlafzimmer wirkt kontemplativ


und klar, die Küche gleicht einer Minimal-Skulptur – und dem
Wohnzimmer s teht die Farbe genauso gut wie das Schlammgrün
dem Es sbereich: der intimste Ort im Haus, mit Bibliothek und Ni-
schen für Vasen, Silber und fragile Deko-Objekte, die das Ganze in
eine Art Mini-Museum verwandeln. Auch das Wohnzimmer bietet
Platz für optische Spielereien: Der von Wandreliefs gerahmte Spie-
gel über dem Kamin ist der Ausgangspunkt für eine Reise zu
dezent gebogenen Fünfzigerjahre-Stühlen, einem Ohrensessel von
Thonet und den Eigenentwürfen des Studio DC10, deren Mitbe-
gründerin Garibaldi ist. Gemeinsam mit Marco Vigo und Giorgio
Piliego hat sie kurz nach dem Studium ein Architekturstudio auf-
gebaut, das heute unter anderem die Verkaufsräume für Leica de-
signt. „Ich komme aus der Kunstgeschichte“, erklärt Alessia Gari-
baldi. „Wenn ich Räume sehe, denke ich die Historie immer mit.
Aber ich könnte alte Elemente niemals fälschen. Mir ist es wichtig,
Geschichte zu restaurieren und ihr unsere gelebte Gegenwart zur
Seite zu stellen. Schließlich bewegen wir uns im Hier und Jetzt.“
Diese Haltung spürt man auch in den Möbelentwürfen des Stu-
dios. Die Sitzbank mit quadratischen, leuchtend gelben Kissen
etwa atmet den Minimalismus der Sechzigerjahre. Der Beistell-
tisch am Sofa erinnert an Eileen Gray. Dazu passt der retrofutu-
ristische M urano-Kristallleuchter am Boden, der aus einem Hotel
stammt. Und die schmucken Wandvitrinen zwischen Wohn- und
Essbereich, durch die man von einem Raum in den anderen blickt,
haben in ihrer Transparenz fast schon etwas Zeitgenössisches.
Möbelelemente aus Messing, Marmor und Glas mischen sich aufs
Feinste mit Rosa, Tiefblau und immer wieder mit dem Grau, das
alles verbindet. Am Ende fügen sich sämtliche Elemente der Re-

sidenz so zusammen, dass man die Zeichen der Zeiten beinahe
vergisst. „Ich liebe es, den Eigenwert und die Erinnerung der Din-
ge herauszuarbeiten. Vergangenheit dort zu evozieren, wo sie tat-
sächlich vorhanden war, ist etwas Wunderbares“, sagt die Haus-
herrin. „Und ich würde nie synthetische Materialien benutzen, die
anders aussehen als das, was sie sind. Schließlich bin ich Archi-
tektin, keine Dekorateurin.“
Tatsächlich fühlt es sich wie eine Zeitreise an, zwischen bei-
den Bereichen der Wohnung hin und her zu wandeln: Ein einzi-
ger Schritt r eicht aus, um es entweder feudal-opulent oder mo-
dern-reduziert zu haben. Dass beides so gut ineinanderfließt, liegt
vor allem an Alessia Garibaldi selbst, deren Handschrift in allen
Elementen steckt. Sie zeigt, dass Kontinuität keine Frage der Epo-
chen ist – sondern des eigenen Charakters. „Wir tragen alle eine
Geschichte in uns. Unsere Herkunft, unsere Reisen – alles, was wir
gesehen haben, prägt uns. Auch jeder Raum hat seine Geschichte.
Wir dürfen seine Natur nicht unterwandern, indem wir ihm unse-
re Handschrift aufzwingen. Es gilt, ihn mit unserer eigenen Spra-
che neu zu interpretieren. Und er wird immer auf seine originalen
Eigenschaften pochen.“

K

Alessia Garibaldi

„Wir tragen alle eine Geschichte


in uns. Unsere Herkunft, unsere


Reisen – das alles prägt uns.“


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