Architectural Digest Germany - 11.2019

(coco) #1
Ausstellung
House of Crafts

meyr in Wien herzustellen nimmt Wochen
in Anspruch – selbst wenn jemand die
Lobmeyrs mit purem Gold bewerfen wür­
de, es würde den Fortgang der Dinge nicht
wesentlich beschleunigen. Bis ein bestell­
ter Teppich in Nepal fertig geknüpft ist,
muss man bei Jan Kath oder der Berliner
Manufaktur R euber Henning mehrere Mo­
nate schlicht u nd ergreifend: warten. In
einer Zeit, in d er die unverzüglicheBefrie­
digung selbst d er ungewöhnlichsten Wün­
sche allgemein Normalität ist,
kann dies nachhaltig bewusst­
seinserweiternde Kraft entfalten.
Das soll nicht heißen, dass
das moderne K unsthandwerk im
House of Crafts als Gegenbild zur
digitalen Gegenwart gedacht war.
Diese Art inhärente Kritik in das
Kunstschaffen von Woodworkern,
Feinmalern und Glasbläsern hi­
neinzuinterpretieren wäre zu kurz
und altmodisch gedacht. Aber es
ist sicher eine Ergänzung, ohne
die unser technologischer Alltag
unvollständig und schmerzhaft
wenig ausbalanciert bliebe. „Wir
haben die Ausstellung auch des­
halb initiiert“, so Oliver Jahn, „weil
wir alte Kulturtechniken mit neu­
er, ihr gebührender gesellschaft­
licher Relevanz aufladen wollen.“
Die Glasuren der Tischkeramiken
der dänischen Manufaktur K. H.
Würtz, in denen sich der Blick
verliert wi e in einem Geschmei­
de aus E delsteinen (bei Andreas
Murkudis), di e handbemalten Por­
zellane von Meissen, von denen
keines dem anderen hundertpro­
zentig gleicht, die schlichten Holz­
möbel von Buchholz Berlin oder
der grandiose, im Treppenhaus
der Heeresbäckerei über mehrere
Stockwerke reichende L üster aus
unregelmäßig großen Glastropfen
von Bocci aus Kanada – sie alle
sind Pièces de Résistance gegen
Vergänglichkeit und schnöden Ex­
und­hopp­Konsum.
So w arfen all diese Gegenstän­
de auch die Frage auf: Wie wollen
wir heute leben? Das House of
Crafts hatte da ein paar Antwor­
ten parat. Dass sich die Familie
auch nächstes Jahr wieder treffen
wird, gilt als ausgemacht.

E


in Familientreffen mit 4000 Teilnehmern?
Das klingt absurd, abwegig, geradezu inak­
zeptabel. Und doch war es genau das, was
viele, die dabei waren (einerlei, ob als Aus­
steller oder Besucher), im Rückblick her­
vorhoben: Im House of Crafts herrschte
eine Atmosphäre familiärer Vertrautheit
und animierten Austauschs. So ungefähr
muss sich ein Bienenvolk fühlen,
in dessen Korb von allen Seiten
Späher mit Kostproben der Herr­
lichkeiten da draußen landen. Ei­
ne derart gelöste Stimmung, auch
darin bestand Einigkeit, lässt sich
nicht vorausplanen oder allein mit
dem strahlenden Spätsommerwet­
ter erklären. „Das war das Beste,
das wir je gemacht haben“, laute­
te denn au ch der Superlativ von
AD­Chefredakteur Oliver Jahn,
dem Schirmherrn. ADs Head of
Style Sally Fuls hatte die Hand­
werksschau gewieft organisiert.
Drei Tage lang trafen sich am
zweiten Septemberwochenende in
der ehemaligen Heeresbäckerei
in Berlin­Kreuzberg 60 Manufak­
turen, Werkstätten und Gestal­
ter, vom F reiburger Woodworker
Fabian Fischer über die Silber­
schmiede Niessing bis zum Kos­
metikhersteller Dr. Hauschka, für
den Fashiondesigner William Fan
einen organisch gerundeten Fri­
siertisch entworfen hatte. Und sie
stellten dem Publikum nicht nur
ihre Arbeiten vor – eine Rei­
he von ih nen gab auch Einblicke
in ihre Werkprozesse, sodass auf der Eta­
ge auch g ehobelt und Porzellan bemalt, ein
Teppich geknüpft und vor allem: viel ge­
fragt, erklärt und diskutiert wurde.
Handwerksmessen gibt es einige, auch
Designausstellungen sind nicht selten.
Doch beides zu verbinden, das ist neu. Der
Architekt Hannes Peer (AD 9/2019) e nt­
warf das Gerüst der Schau und konnte da­
für auf spektakuläre Leihgaben der Galleria
Bellucci zurückgreifen, die Oliver Jahn im
Frühjahr bei einem Besuch in Mailand ent­
deckt hatte: rund zwei Dutzend Alumini­
umpaneele mit verstellbaren horizontalen
Lamellen von Jean Prouvé. Die skulptu­
ralen Objekte verliehen dem 640 Quadrat­


Hammerhartes Handwerk: Die Silberschmiede der
Schmuckmanufaktur

Niessing

trieben Silberblech vor

den Augen der Besucherinnen und Besucher in Form.

meter­Loft e ine offene Struktur, bildeten
15 Kompartimente und eröffneten immer
wieder verblüffende Sichtachsen.
Die 4000 Besucherinnen und Besucher
konnten mit eigenen Augen erleben, was
den Kern des Kunsthandwerks von heute
ausmacht. Jan Kath aus Bochum etwa hat
den handgeknüpften Teppich mit frischen,
überraschenden Designs im Alleingang
vom 1 9. ins 21. Jahrhundert katapultiert.
Seinen Sohn Sanchir dabei zu beobachten,

wie er, der eigentlich in Kassel Produkt­
design studiert, die Wollfäden zu Knoten
bindet, um so in einem fast schon irritie­
rend langsamen Prozess sein Werk irgend­
wann zu vollenden – das besitzt eine ganz
eigene Qualität. Der junge Mann zählt zu
den Könnern, die imstande sind, die Ge­
setze von Schnelllebigkeit und Effizienz,
Renditeerwartung und Gewinnmaximie­
rung mit wenigen eleganten Handbewe­
gungen außer Kraft zu setzen.
Weitere Beispiele gefällig? Die Glasma­
nufaktur der Freiherren von Poschinger
aus Frauenau im Bayerischen Wald befin­
det sich seit 450 Jahren im Besitz derselben
Familie. Und auch einen Lüster bei Lob­

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