Süddeutsche Zeitung - 16.10.2019

(lily) #1
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DaheimbeiBurkhardundJuttaistdieWelt
noch in Ordnung. „In einer Ordnung, dass
kein Grashalm quer steht“, wie der Haus-
herr nach der morgendlichen Observie-
rung des Vorgartens zufrieden feststellt.
Der Himmel preußisch blau, Kaiserwetter
„von der Maas bis an die Memel“. Die
„Grenzen des Reichs“, sie sind gewahrt.
Auch drinnen: das pure Reihenhäus-
chenglück. Statt Computer, Handy und In-
ternet gibt es noch das gute alte Fax und
ein Tastentelefon. Jutta („sie ist eine gute
Frau“) macht den Haushalt, backt altdeut-
schen Apfelkuchen und lädt ihren Gatten
mit der arischen Ur-Kraft Vriil auf – sie tut
das über ihre langen Haare, mit denen sie
die kosmische Energie empfängt. Solcher-
art gestärkt kann sich Reichskanzler Fürst
Burkhard, so nennt er sich im Geiste Bis-
marcks, seinen Pflichten als Regent wid-
men: Beschwerdebriefe schreiben, den
„Reichsinnenminister“ empfangen, eine
NeujahrsansprachemitNapoleon-Fake-Zi-
taten formulieren. Burkhard ist nahe am
Burnout, aber hilft ja nichts. Das Deutsche
Reich in den Grenzen von 1871 muss wie-
derhergestellt, die Weltverschwörung un-
terbunden werden. „Heil und Sieg!“

EsistdasETA-Hoffmann-TheaterBam-
berg, das in seinem Studio ein derartiges
Paralleluniversum eingerichtet hat: in
dem Stück „Der Reichskanzler von Atlan-
tis“ von Björn SC Deigner. Der Autor, Jahr-
gang 1983, bereitet darin satirisch die
Wahnvorstellungen, Geschichtsklitterun-
gen und rechtsesoterischen Verschwö-
rungstheorien der Reichsbürgerbewegung
auf – als schwarze Farce, gespeist aus dem
Urschlamm deutschnationaler Lügen und
Mythen, dem fauligen Sumpf aus Faschis-
mus und Antisemitismus.
Lange Zeit hat man kaum Notiz von den
selbsternannten„Reichsbürgern“genom-
men, hat sie als rückwärtsgewandte Fan-
tastenbelächelt.Nach offiziellenSchätzun-
gen gibt es landesweit etwa 19000 von ih-

nen,Esoteriker,Waffennarren,Rechtsnati-
onale – vieles sammelt sich in diesem Be-
cken. Die Reichsbürger erkennen die Bun-
desrepublik nicht an, wähnen sich in der
Rechtsnachfolge des Deutschen Reiches,
rufen ihre eigenen Klein- und Scheinstaa-
ten aus und verteidigen diese schon mal
mit Gewalt, so wie der Nürnberger, der
2016 durch seine Wohnungstür einen Poli-
zisten erschoss. Als harmlose weltfremde
Spinner tut sie seither keiner mehr ab.
Auch nicht das Theater. Konstantin und
Annalena Küspert haben 2018 in ihrem
Stück „Der Reichsbürger“ die Psyche eines
solchen Menschen auszuleuchten ver-
sucht.UndauchinBjörnSCDeignersFarce
bleibt es nicht beim nur lachhaften Kaiser-
reich-Schmarrn, sondern es spitzt sich die
SituationdurchdenBesucheinerGerichts-
vollzieherin, Frau Semmerling, und die
Einflüsterungen eines untoten Antisemi-
ten, Rudolf von Sebottendorf, unheilvoll
zu. Gewalt bricht sich Bahn.
Starker Tobak ist es so oder so. Krude
und ziemlich verwirrend, vor allem der
Geisterkram. Wer arisch-germanisch-ver-
schwörungstheoretisch nicht eingelesen
ist, dürfte vieles, was da über die Bühne
spukt – an Gespenstern und Kulten –, für
alberne Erfindungen und bloßen Humbug
halten. Aber es gibt nichts, was es nicht
gibt. Das versunkene Atlantis der Arier.

Der Frauenhaarkult der „Vriil-Gesell-
schaft“.Derstramme RudolfvonSebotten-
dorf, Gründer der geheimen Thule-Gesell-
schaft – lässt sich alles recherchieren.
Selbst der als jüdischer Widergänger und
Dibbuk bemühte Hennoch Kohn, von dem
esheißt,erhabe unter demNamen Helmut
Kohl Deutschland regiert und sei „Vater
von Angela Merkel“, selbst dieser „Bilder-
berger“ ist keine Kopfgeburt des Autors,
sondern geistert als Verschwörerfigur tat-
sächlich durch Internetforen.
Die Regisseurin Brit Bartkowiak lässt es
beiderUraufführungmitLustrumpeln,ne-
beln und raunen und fährt viel szenisches
Geschütz auf, um die Komödienmechanik
amLaufenzuhalten.Das buchstäblichein-
falls(türen)reiche Bühnenbild von Niko-
laus Frinke reduziert die heimischen vier
Wände auf eine einzige Symbolwand: mit
Schubladen, Klappen, Schranktürchen
und einem ausziehbaren Kanzlerschreib-
tisch. My Home is my Kästchen. Das hat
was. Reichkanzlergattin Jutta (Katharina
Brenner) strahlt hausfrauenemsig aus
sämtlichen Luken und mausert sich zur ei-
gentlichenChefin.WährendOliverNiemei-
er als überforderter Burkhard zunehmend
zu ihrem Patienten wird. Oder nennen wir
es: Untertan. Der Abend hat Schmiss, aber
Biss hat er nicht. Er verpufft – wenn auch
mit einem „Peng!“ christine dössel

Das letzte Werk des amerikanischen
Literaturwissenschaftlers Harold
Bloomerschien im vergangenen April,
unter dem Titel „Possessed by Memo-
ry“,was manwohlals„imBannderEr-
innerung“ übersetzen muss. Das Buch
ist ein Abschied von der Literatur, die
ihn ein Leben lang begleitete, und es
endet mit einer Verbeugung vor Mar-
cel Proust. Dieser spende Trost,
schreibt Bloom, er lehre Geduld und
führe, langsam und nachdenklich, in
ein Erweckungserlebnis in der Kunst.
Neunzig kleine Essays enthält das
Buch. Viele davon handeln von Shake-
speare, andere von John Keats, dem
Hohenlied oder May Swenson, wobei
stets deutlich ist, dass sich in diesen
kurzen Stücken die Autobiografie ei-
nes Lesers verbirgt.
HaroldBloomerzähltseinLebenan-
hand von Lektüren, wobei er, der viele
Debatten führte und Gegenstand vie-
lerDebattenwar,immerstillerzuwer-
den scheint. Würdiger kann ein Leser
nicht scheiden.
Von der Bedeutung, die Harold
Bloom für die angelsächsische Welt
undvorallemfürdieVereinigtenStaa-
ten hatte, kann man sich in Deutsch-
land,woMenschenwieBennovonWie-
se oder Fritz Martini schon lange da-
hingegangen sind, keinen rechten Be-
griff machen. Der akademische Ge-
lehrte, der nicht nur zugleich Kritiker
war, sondern auch repräsentativer Le-
ser,isteinerAufgabenteilungzumOp-
fer gefallen, die zuerst den Leser kas-
sierte.Dass–undwie–einSchriftstel-
ler in derLage war,ein poetisches Uni-
versum zu entwickeln, erschien Ha-
rold Bloom dabei stets als das stärkste
Indiz literarischer Qualität. Die engli-
schen Romantiker waren ihm deswe-
gen stets näher als moderne Autoren,
das Ergriffen-Werden von der Dich-
tung war ihm wichtiger als alle Theo-
rie, und immer wieder kehrte er zu
denselben Texten zurück, zu Shake-

speare („The Invention oft he Human“,
1998) oder auch zu den Mythen und
Überlieferungen des Alten Testa-
ments („The Book of J“, 1990).
Dem Impuls, der Verehrung für die
Gestaltung poetischer Universen ver-
danktsichauchdasBuch,dasinderLi-
teraturwissenschaft sein wohl wich-
tigsteswurde:„TheAnxietyofInfluen-
ce“ („Einflussangst“, 1995), in dem es
um das Schriftstellertum geht und die
Folgen der Anstrengung, der Traditi-
on und allen Vorgängern ein eigenes
Werk entgegenzusetzen.
Dem großen Publikum dürfte Ha-
rold Bloom vor allem durch sein Werk
„The Western Canon“ (2006) im Ge-
dächtnis bleiben. Ähnliches hatte er
seit den Achtzigern schon mehrmals
versucht: einen literarischen Kanon
zuentwickeln,derfüreineabendländi-
sche Kultur tatsächlich elementar sei.
Selbstverständlich fand er für diesen
Entwurf vermeintliche Verbündete
auch hierzulande. Doch ist dieses Pro-
jekt eines Kanons im Kern amerika-
nisch: geschrieben für ein Publikum,
dasdurchdiePerspektivierungderLi-
teratur nach Geschlecht, Rasse und
Klassenzugehörigkeitzunehmenddis-
parater wurde und immer noch wird.
Dieser Zersplitterung wollte er, der bis
kurz vor seinem Tod Seminare an der
Universität Yale gab, etwas Starkes,
Verbindendes und Verbindliches ent-
gegensetzen. Am Montag dieser Wo-
che starb Harold Bloom im Alter von
89 Jahren. thomas steinfeld

von egbert tholl

G


anzseltenerlebtmanaufderOpern-
bühne, dass Gesang jede Anmu-
tungvonetwasHergestelltem,Arti-
fiziellen verliert. Dann findet er einfach
statt, mit allergrößter Selbstverständlich-
keit, braucht keine ausgestellten Gesten.
BrauchtauchkeinHeraustretenausderFi-
gur, etwa wenn es eine Arie um ihrer selbst
willen zu schmettern gilt und dabei jede
Wahrhaftigkeit der Symbiose zwischen
Spiel und Gesang verloren geht. Ein paar
Handvoll Sängerinnen und Sänger können
das, Asmik Grigorian ist eine davon.
Seit sie im Sommer 2018 die Salome bei
denSalzburgerFestspielensang,istGrigo-
rian weltberühmt. Dabei singt sie schon
seit einigen Jahren exponierte Rollen, zum
Beispiel an der Frankfurter Oper. Bernd
Loebe, der Intendant dort, hat einen guten
Instinkt für Stimmen – und verpflichtete
sie bereits vor vier Jahren. Unter anderem
für die Titelpartie in Puccinis „Manon Le-
scaut“. Was sie darin macht, ist ein Glücks-
fall für die Kunstform Oper, denn sie
nimmt dieser jede Künstlichkeit.

„Manon“ ist die Geschichte eines Mäd-
chens, dem die eigene Liebe, der Lebens-
hunger und die Gier der Männer zum Ver-
hängnis werden. Àlex Ollé von der Truppe
La Fura dels Baus erzählt diese Geschichte
schnörkellos, und so, wie er sie erzählt,
geht es nur mit Grigorian. Vor Beginn ein
kleiner Film, Manons Bruder liest auf dem
Handy eine Nachricht von der Mutter, wo
stecktseineSchwester,geschriebenaufAr-
menisch, der Sprache von Grigorians Va-
ter. Man sieht Flüchtlinge in der Nacht ei-
nen Grenzzaun durchbrechen.
Der erste Akt auf der Bühne spielt dann
an einem Busbahnhof, ist liebevoll mit Le-
bendurchwirkt,ManonundihrBruder(Iu-
riiSamoilov)kommenmitdemBus,deraa-
sige Geronte (Donato Di Stefano) wartet
schon, lauert auf neues Fleisch für seinen
Club, Des Grieux verknallt sich vom Fleck
weg.DiesenDesGrieuxsingtJoshuaGuer-
reromit vielKraft und lyrischer Schönheit,
aberhaltauch wieein echter,altmodischer
Tenor, ganz am Ende aber, wenn es ans
Sterben geht, ungeheuer ergreifend.
Zweiter Akt: Gerontes Striplokal, Ma-
non die Sensation, die am Ende die Kasse

des Etablissements ausräumt und verhaf-
tetwird.DritterAkt:Käfigeines Abschiebe-
lagers.VierterAkt:dieindieserOperseltsa-
me Leere einer Wüste, in der Manon ver-
durstet und Des Grieux verzweifelt.

Ohne viel Umstände sieht man die Ge-
schichte eines Menschen, der nie eine
Chance hatte und gerne ein wenig Glück,
ein wenig Geld gehabt hätte. Manon wird
zermalmt von den Verhältnissen wie heute
MillionenandererjungerFrauen.Dasfunk-
tioniert, wenn man nicht zu sehr an klei-
nenNuancen desTextes hängt –Manon ist
zum Beispiel im ersten Akt eigentlich auf
dem Weg ins Kloster –, bemerkenswert
gut. Solche Aspekte pflügt Ollé einfach un-
ter, was nie stört. Das Ergebnis ist stim-
mig, geht auf. Auch weil Lorenzo Viotti mit
demFrankfurterOpernorchesterdieParti-
tur in allen Möglichkeiten auslotet. Das
Leitmotiv der Liebe zwischen Manon und

Des Grieux kostet betörend Sehnsucht
aus,danebenstehtharte,trockeneBrutali-
tät, alles ist sehr akkurat musiziert und
glüht vor Inbrunst.
Asmik Grigorian, geboren 1981 in Vilni-
us, spielt vollkommen überzeugend ein
16-jähriges Mädchen, gekleidet im üblen
Osteuropa-Chic. Diese Manon weiß über
das Leben Bescheid, im Nachtclub genau-
so wie im Arrest, wo sie die Wächter und
denrasendenGeliebtenmitblitzendenAu-
gen zu beschwichtigen sucht. Ihre natürli-
chePräsenz rücktsievonganzalleininden
Fokus, sie muss gar nicht mehr viel ma-
chen,nurdaseinundsingen.MitpurerMü-
helosigkeit und dramatischer Wucht.
In allen Akten steht „Love“ als skulptu-
raler Schriftzug herum, leuchtet verhei-
ßungsvoll. Im finalen Wüstenakt, dem
25-minütigen Sterben, dreht sich langsam
dieSchrift,währendGrigoriansManonver-
zweifelt nach einem letzten Tropfen Leben
giert.IhrFlehen,ganzfürsichallein,hatei-
ne Wahrheit, die über ein individuelles
Schicksal weit hinausgeht. Man ist fas-
sungslos.„Love“leuchtetnichtmehr.Wird
zu grauem Beton. Zum Monument.

Harold Bloom
wurde 1930 in
New York City
geboren, er starb
am 12. Oktober
2019 in New Ha-
ven, Connecticut.
FOTO: THE NEWYORKTI-
MES/REDUX/LAIF

Kann man mit Umweltsündern gegen den
Klimawandel kämpfen? Mit dieser Frage
siehtsichderzeitdieIstanbul-Biennalekon-
frontiert. Unter dem Titel „The Seventh
Continent“ thematisiert der französische
KuratorNicolasBourriaudinder16. Ausga-
be der im Jahr 1987 gegründeten Schau das
ProblemderweltweitenUmweltverschmut-
zung und des Klimawandels. (SZ vom
17.9.2019). In einer Erklärung auf der Web-
site der Umweltinitiative „350 Ankara –
Der Klimawandel ist eine Sache von uns al-
len“ haben nun 32 türkische Künstlerhäu-
ser und Umweltinitiativen Anstoß an der
Sponsorenliste der Schau genommen.
Dazu zählen sie den Getränkekonzern
Efes, Teil der Anadolu-Gruppe, die gegen
den Widerstand der Bewohner an der
Schwarzmeerküstenstadt GerzeeinKohle-
kraftwerk bauen wollte. Oder den Brenn-
stoffkonzernOpet,dieStahl-undKohlefir-
ma İçdaş Energy, die an den Dardanellen
ein Windkraftwerk plant, das Energieun-
ternehmen Aygaz, den Autokonzern Ford
und den Flughafenbetreiber TAV.

Natürlich fehlen in der Liste auch die
Istanbuler Koç-Holding und der Pharma-
konzern Eczacıbaşı nicht. Dem milliarden-
schweren, kunstvernarrten Koç-Clan, der
sichfürinsgesamt20 JahrealsHauptspon-
sorderBiennaleverpflichtethat,gehörtin-
zwischen die einst staatliche Erdölraffine-
rie Tüpraş. Der Konzern mischt genauso in
demKonsortiumumdiekanadischeFirma
Alamosmit,dieeineGoldmineimNaturre-
servat des Ida-Gebirges im Nordwesten
der Türkei vorantreibt, wie die Unterneh-
mensgruppe Eczacıbaşı. Deren Chef Bü-
lent Eczacıbaşı steht auch der privaten Is-
tanbulerStiftung KunstundKultur (IKSV),
vor, die die Biennale veranstaltet.
BeidenHoldingsgehörenjeweilsdiepri-
vaten Kunstmuseen „Arter“ und „Istanbul
Modern“.EsseieinegroßeHeuchelei,argu-
mentieren die Protestierenden, wenn Un-
ternehmen, die mit fossilen Brennstoffen
und der Zerstörung der Natur Geld verdie-
nen,via BiennalefürdasProblemderPlas-
tikverschmutzung sensibilisieren. „Das
Kapital“ heißt es in der Erklärung, „sollte
den Kampf nicht als PR-Arbeit sehen, son-
dern seiner Verantwortung gerecht wer-
den und seine Produktion aufgeben“.
Während Aktivistinnen mit bunten
Transparenten als Mahnwache vor den
Eingängen zu den Spielorten der Biennale
aufmarschieren, hat bislang noch kein
KünstlerWerkeausderBiennalezurückge-
zogen, wie es die Protestierenden fordern.
Doch haben Proteste gegen Sponsoren in-
zwischen Erfolge zu verbuchen – erst in
diesemJahr wurden Museen zurZielschei-
be, die Unterstützung der amerikanischen
FamilieSacklererhalten,dieihrGeldunter
anderem mit Schmerzmitteln verdient.
In ihrer Reaktion verwies die Biennale
darauf,dasskeinerder insgesamtmehr als
200 Biennale-Unterstützer Einfluss auf
das Programm gehabt habe. Auf den Vor-
wurf, dass die Unternehmen die Biennale
zum Imagegewinn nutzten, reagierte sie
nicht. ingo arend

Daheim, wo die Urkraft ist


Eine schwarze Komödie über die Reichsbürger am Theater Bamberg


Mit blitzenden Augen

Àlex Ollé von der Truppe La Fura dels Baus inszeniert an der Oper Frankfurt Puccinis „Manon Lescaut“


als aktuell anmutendes Flüchtlingsdrama mit der umwerfenden Asmik Grigorian als Manon


Als Laetitia Tamko alias Vagabon im
Jahr 2017 ihr Debütalbum „Infinite
Worlds“ veröffentlichte, dauerte es
nicht lange, bis begeisterte Kritikerin-
nen ihr eine gewaltige Bürde aufluden.
Tamko, so der Tenor, sei die Frau, die
die Welt des Indierock verändern wür-
de. Die Geschichte hinter Vagabon war
einfach zu gut. Eine junge Schwarze
Frau, geboren und aufgewachsen in
Kamerun, mit 13 Jahren nach New York
übergesiedelt, studierte Informatikerin,
hämmert der sehr weißen, sehr männli-
chen Gitarrenmusik ein paar frische
Perspektiven ein. Die um Diversität und
Gerechtigkeit bemühten (und sehr wei-
ßen und sehr männlichen) Popkritiker
jubelten. Also alle happy? Nein. DerNew
York Timessagte Tamko damals, wie
beengend es sei, so einen Titel angehef-
tet zu bekommen, „nur weil bislang
sehr wenig Raum geschaffen wurde, in
dem sich Menschen wie ich entfalten
können“. Soll heißen: Weil ihr selbst es
nicht hinbekommt, eure sexistischen
und rassistischen Strukturen anzuge-
hen, muss ich als schwarze Frau jetzt
den Karren aus dem Dreck ziehen? Es
sind diese Sätze von damals, die einem
wieder einfallen, wenn man Tamkos
selbstbetiteltes zweites Album „Vaga-
bon“ (Nonesuch) hört. Denn es ist ein
Befreiungsschlag. Die Gitarren sind
beinahe ganz verschwunden, herunter-
gedimmt auf ein warm wummerndes
Picking. Stattdessen ziehen Formatio-
nen aus Synthie- und Streicherwolken
durch die Songs, die hier und da ganz
sanft von einer Drummachine ange-
schubst werden. Vor allem aber ist da
Tamkos Stimme, die sich Raum nimmt.
Nach all den Jahren, in denen man sie
gleichermaßen mit Erwartungen über-
häuft und mit rassistischen Stereoty-
pen klein gehalten hat. „All the women I
meet are tired“,
singt Vagabon im
verschleppten „Eve-
ry Woman“. Es
wäre ein großer
Fehler, diese Zeilen
als Resignation zu
lesen.

Eine kleine Empfehlung zur Linderung
der Herbstmüdigkeit: Der amerikani-
sche Produzent Morris Harper alias DJ
Spinn veröffentlicht dieser Tage eine
neue EP mit dem Namen „Da Life“ (Hy-
perdub). Fünf Tracks, die in klassischer
Footwork-Manier Pop-Melodiösität
und Dauerfeuer-Claps, Hirn und Füße
miteinander verschmelzen. Wer den
Namen dieser House-Evolutionsstufe
aus Chicago verstehen will, muss sich
einfach nur ein paar Live-Mitschnitte
und Dance-Battles
auf Youtube an-
schauen. Ein Ener-
gy-Drink für die
Seele, der einen
locker bis zum
nächsten Sommer-
Rave trägt.

Matana Roberts ist Jazz-Saxophonis-
tin, Visual-Arts-Künstlerin, Aktivistin
und Experimentalmusikerin, vor allem
aber ist sie eine Geschichtenerzählerin.
Nun veröffentlicht sie mit „Coin Coin
Chapter Four: Memphis“ (Constellation)
den vierten Teil eines auf zwölf Teile
angelegten Großprojekts, in dem sie
ihre Identität als afroamerikanische
Frau ebenso aufarbeitet wie die Ge-
schichte der Sklaverei. Auf ihrer Reise
in die Vergangenheit entlang des Missis-
sippi River ist sie nun in Memphis, Ten-
nessee, angekommen. Wobei eine allzu
konkrete Verortung hier nur irrefüh-
rend ist. Roberts’ Musik bewegt sich
zwischen geschriebener Geschichte und
kollektiver Überlieferung. Immer wie-
der durchbrechen persönliche Erzählun-
gen in Form von Spoken-Word-Passa-
gen ihre hektisch in alle Richtung davon-
stiebenden Kompositionen. Immer
wieder tauchen in ihren Songs bekann-
te Versatzstücke auf, hier eine Bluesgi-
tarre, da eine Folkfidel, wie eine Erinne-
rung, die sich kurz manifestiert, um
dann sofort wieder im Chaos der rau-
schenden Gedenken zu versinken. Und
dann ist da noch dieser eine Satz, der
sich immer wieder aus der vermeintli-
chen Strukturlosigkeit schält: „Memory
is the most unusual thing“. Was bedeu-
tet die Vergangenheit? Wer erinnert sie?
Und wer erzählt
sie? Ein unüber-
sichtliches, komple-
xes, überfordern-
des Album, für eine
Gegenwart, die
bisweilen genau
das ist.

Dass die Welt mitunter komplexer ist,
als sie aus dem eigenen privilegierten
Blickwinkel erscheint, hat nun auch
Pharrell Williams gelernt. Zumindest
ein bisschen. In einem Interview mit
dem Männermagazin GQ distanzierte
sich der Musiker von seinem Song
„Blurred Lines“, einer Kollaboration mit
Robin Thicke aus dem Jahr 2013. Er
hätte lange nicht verstanden, warum
Lyrics wie „I know you want it“ proble-
matisch seien: „Frauen singen so was
doch die ganze Zeit. Warum ist es etwas
anderes, wenn ich das mache?“ Nun
habe er eingesehen, dass es dabei nicht
um ihn gehe, sondern um die Gesell-
schaft: „Ich habe verstanden, dass wir
in diesem Land in einer chauvinisti-
schen Kultur leben. Das hab ich vorher
nicht verstanden. Auch nicht, dass eini-
ge meiner Songs dem in die Hände spie-
len.“ Weiter so, Mr. Williams, einen
Schulterklopfer gibt’s dafür aber trotz-
dem nicht. julian dörr

Ihr Heuchler!


Umweltaktivisten protestieren
gegen Istanbul-Biennale

Ergriffen-Sein


Harold Bloom ist gestorben


Diese Manon weiß über das
Leben Bescheid, im Nachtclub
genauso wie im Arrest

„Das Kapital“ soll sich nicht
symbolisch engagieren, „sondern
seine Produktion aufgeben“

Als harmlose Spinner tut die
Reichsbürger keiner mehr ab –
auch das Theater nicht

(^10) FEUILLETON Mittwoch, 16. Oktober 2019, Nr. 239 DEFGH
Viel zu tun: Oliver Niemeier als „Reichskanzler von Atlantis“. FOTO: MARTIN KAUFHOLD
Immer im Fokus des Geschehens: Asmik Grigorian dominiert in der Titelpartie mit großer Selbstverständlichkeit den gesamten Abend. FOTO: BARBARA AUMÜLLER
POPKOLUMNE
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