Süddeutsche Zeitung - 16.10.2019

(lily) #1
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Es glitscht, muffelt, stört beim Baden –
und manchmal ist es sogar gefährlich:
Wenn Seen in strahlendem Grün erblühen,
steckt zumeist die explosionsartige Ver-
mehrung von Algen oder Cyanobakterien
dahinter. Vor allem die Photosynthese be-
treibenden Bakterien können in Badege-
wässern zu Reizungen der Schleimhaut
oder sogar zu Durchfall und Erbrechen füh-
ren. Und man wird dem grünen Schleim in
Zukunft wohl immer häufiger begegnen:
Wie ein Team von Landschaftsingenieuren
um Jeffrey Hoh von der kalifornischen
Stanford University jetzt im Wissenschafts-
journalNatureberichtet, nehmen Algen-
und Bakterienblüten in Binnengewässern
weltweit zu, und das nicht nur in ihrer
Zahl, sondern auch in ihrem Umfang. Die
Wissenschaftler werteten für ihre Studie
Tausende Fotos aus, die der Nasa-Satellit
Landsat 5zwischen 1984 und 2013 aufge-
nommen hatte. „Wir haben einen Algorith-
mus verwendet, der auf den Satellitenfo-
tos die intensiv grüne Algenblüte an der
Wasseroberfläche im nahen Infrarotbe-
reich erkennt“, erklärt Hoh. So konnten er
und seine Kollegen die Entwicklung der
Blüte in 71 Seen in Europa, Afrika, Asien,
Australien, Nord- und Südamerika nach-
zeichnen. Zwei Drittel der Seen zeigen dem-
nach immer größere Blüten. So zum Bei-
spiel das heftige Wachstum von Cyanobak-
terien im Lake St. Clair zwischen den USA
und Kanada im Jahr 2015, das auf dem Bild
links erkennbar ist. Welche Faktoren für
den starken Wuchs der Algen und Bakte-
rien verantwortlich sind, können die For-
scher noch nicht sicher sagen, im Verdacht
stehen vor allem Dünger sowie der globale
Temperaturanstieg. noed

Schleim


für die Welt


Ein schlechter Ruf – und trotzdem beliebt
in der Fachwelt? Das schaffen in der Medi-
zin neben Antibiotika wohl nur Kortison-
Präparate. Corticoide, wie die Medikamen-
te korrekt heißen, werden von Hautärzten
flächendeckend angewendet und auch In-
ternisten, Orthopäden und Rheumatolo-
gen verordnen die vielseitigen Arzneimit-
tel häufig. Radiologen aus Boston warnen
nun allerdings vor Spritzen ins Gelenk, wie
sie Patienten mit Arthrose gerne verab-
reicht werden. Im FachmagazinRadiology
zeigen die Wissenschaftler, dass Nebenwir-
kungen häufiger auftreten als bisher ange-
nommen. Besonders Schäden an Knorpel
und Knochen werden nach dieser Therapie
oft beobachtet.
Das Ärzteteam um Ali Guermazi hat so-
wohl aktuelle Daten erhoben als auch die
Fachliteratur in einer Metaanalyse ausge-
wertet. Die Mediziner untersuchten fast
500 Patienten, die eine Corticoid-Injektion
in das Knie- oder Hüftgelenk bekommen
hatten. Bei acht Prozent der Teilnehmer
kam es in der Folge zu Komplikationen,
darunter waren vier Prozent der Proban-
den mit Kniearthrose, zehn Prozent mit
Hüftarthrose. „Wir haben unseren Patien-
ten immer erzählt, dass ihnen diese Injekti-
onen nicht schaden“, sagt Guermazi. „Jetzt
müssen wir zugeben, dass sie nicht so si-
cher sind, wie wir dachten.“

Seit Jahren ist bekannt, dass Injektio-
nen in Knie, Hüfte oder Schulter mit dem
Risiko einer Gelenkinfektion einhergehen,
die im kaum durchbluteten Innenraum
der Kapsel schlecht behandelt werden
kann. Obendrein drohen Schäden durch
die Corticoide selbst, wie die Studie der Ra-
diologen nun zeigt. So kann es durch die
Spritzen zu einer rascher fortschreitenden
Arthrose kommen, woraufhin der Gelenk-
spalt kleiner wird. Zudem sind Frakturen
in der Nähe des Knorpels wahrscheinlicher
und sogar eine Osteonekrose, wie das Ab-
sterben von Knochengewebe genannt
wird. All dies trägt zur schnellen Zerstö-
rung des Gelenks bei – und ist meist mit
Schmerzen und eingeschränkten Bewe-
gungsmöglichkeiten verbunden.
Radiologe Ali Guermazi fordert, dass die
Argumente Pro und Contra Injektion
gründlich mit den Patienten diskutiert wer-
den. „Bisher ist das nicht der Fall und kriti-
sche Worte über die Komplikationen hört
man kaum.“ Ein unhaltbarer Zustand, fin-
det das Team aus Boston, denn Ärzte grei-
fen immer häufiger zur Spritze, um Gelenk-
schmerzen bei Arthrose zu behandeln. Wis-
senschaftler schätzen, dass weltweit täg-
lich 1000 solcher Injektionen ins malade
Gelenk vorgenommen werden.
„Bei Schmerzen sind Corticoid-Spritzen
ins Gelenk gar nicht indiziert“, sagt Marcus
Schiltenwolf, Leiter der Abteilung für kon-
servative Orthopädie am Uniklinikum Hei-
delberg. „Es gibt dafür keinen Wirksam-
keitsnachweis, aber trotzdem wird es im-
mer wieder gemacht.“ Einzig bei einem Er-
guss, der als Zeichen eines Reizes zu verste-
hen ist, seien die Spritzen bewährt und kön-
nen kurzfristig Linderung verschaffen.
„Für maximal sechs Wochen ist das hilf-
reich, dann bildet sich der Reiz zurück“,
sagt Schiltenwolf. „Mit schonender Bewe-
gung und Gewichtsabnahme würde er das
aber auch von alleine.“ Schließlich sei Ar-
throse ein episodisch entzündlicher Pro-
zess, der in Schüben verlaufe.
Bereits 2017 hatte eine Studie im Fach-
blattJAMAgezeigt, dass Patienten, die re-
gelmäßig Corticoid-Spritzen bekamen,
nach zwei Jahren deutlich an Gelenkknor-
pel verloren hatten, ihre Schmerzen aber
nicht weniger geworden waren. Die Medi-
kamentendosis in der Spritze lag oft über
den empfohlenen Werten. „Wenn schon in-
jiziert wird, sollte man sich auch an die rich-
tige Menge halten“, sagt Orthopäde Schil-
tenwolf. werner bartens

von max muth

A


lgorithmen sind seit einigen Jahren
schwer in Mode. Nicht ganz zu Un-
recht, sind sie doch für einen guten
Teil der digitalen Erfolgsstories mitverant-
wortlich. Der Google-Algorithmus sortiert
Suchergebnisse so, dass Suchende finden.
Facebooks Algorithmus platziert den Nut-
zenden passgenau die Inhalte, die sie wirk-
lich interessieren – und Online-Werbung
zeigt Surfenden Anzeigen von Produkten,
die sie mit hoher Wahrscheinlichkeit kau-
fen würden. Algorithmen sparen Zeit, sie
sind Optimierungswerkzeuge.
Insofern ist es wenig überraschend,
dass sich mittlerweile auch die Politik
stark für die Entscheidungshilfen per Com-
puter interessiert – mit ähnlichen Begrün-
dungen. Zusätzlich zum Argument der Effi-
zienz, das beim Umgang mit Steuergeld oh-
nehin immer gut ankommt, schwärmen
Politiker gern von der vermeintlichen Ob-
jektivität, die von Computern getroffene
Entscheidungen ausstrahlen. Dass diese
Objektivität in der Praxis jedoch häufig ein
Trugschluss ist, davon konnten sich Bür-
ger des US-Bundesstaats Indiana schon
2006 überzeugen.
Damals erteilte der Gouverneur India-
nas dem Computerriesen IBM den Auf-
trag, die Verwaltung seiner Sozialsysteme
zu modernisieren. Anstelle von Sozialarbei-
tern, die ihre Kunden oft über Jahre kann-
ten, sollten Computer eine größere Rolle
spielen, Maschinen statt Menschen sollten
künftig darüber entscheiden, ob Antrags-
steller tatsächlich ein Recht auf Beihilfe
für Krankenversicherungen, Essen oder

Wohnungen haben. Das erklärte Ziel der
Regierung: Sozialmissbrauch verhindern
und die Entscheidungen fairer gestalten.
Kern dieser computergestützten Lösung
von IBM sollte ein Algorithmus sein: In ei-
nem Computersystem werden alle verfüg-
baren Daten der Antragsteller gesammelt,
dort werden sie verarbeitet, am Ende steht
das Ergebnis.
Im ersten Jahr nach Einführung des neu-
en Systems wurde über eine Million Anträ-
ge abgelehnt, ein Anstieg von 54 Prozent.
Zehntausende Menschen verloren ihre
Krankenversicherung, Essensmarken
oder andere Beihilfen. Viele von ihnen hat-
ten neue Online-Formulare nicht korrekt
ausgefüllt oder jahrealte Belege nicht
mehr gefunden. In zumindest einem Fall

starb eine Frau, weil ihr das Computersys-
tem die notwendige Krebsbehandlung ver-
weigerte. Recherchiert hat ihn die US-Auto-
rin Virginia Eubanks, die seit Jahren zu
den Folgen automatisierter Entschei-
dungsmechanismen forscht und an der
State University of New York (SUNY) lehrt.
Ihre Erkenntnisse hat Eubanks 2018 in ih-
rem Buch „Automating Inequality. How
High-Tech Tools Profile, Police, and Pu-
nish the Poor“ zusammengefasst. Eu-
banks Botschaft: Algorithmen sind nicht
neutral, egal wie sehr Politiker von Effizi-
enz und Objektivität der neuen Entschei-
dungshelfer schwärmen.

Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt
jetzt eine Studie des Instituts für Technik-
folgenabschätzung und Systemanalyse
des Karlsruher Instituts für Technologie
(KIT), in Auftrag gegeben von der Antidis-
kriminierungsstelle des Bundes. Die For-
scher sollten herausfinden, inwiefern algo-
rithmenbasierte Systeme zu Diskriminie-
rung einzelner Menschen oder ganzer Be-
völkerungsgruppen beitragen können. Ein
zentrales Ergebnis: Im Vergleich zu Ent-
scheidungen durch Sachbearbeiter steigt
die Diskriminierungsgefahr sogar noch,
wenn Computer die Entscheidungen tref-
fen. Denn Menschen urteilen von Fall zu
Fall. Steckt ein Fehler im Algorithmus, hat
er automatisch Auswirkungen auf alle Ent-
scheidungen.
Aus den fast 50 Fallbeispielen der Stu-
die wird deutlich, dass nahezu jedes Sys-
tem, das auf Algorithmen beruht, anfällig
ist für Diskriminierung. Das fängt schon
damit an, dass die automatisch generier-
ten Untertitel auf der Video-Plattform You-
tube offenbar Probleme haben, die Stim-
men von Frauen und Schotten zu transkri-
bieren. Politisch problematischer ist
schon, dass Gefühlsanalysen, wie sie zum
Beispiel auf Twitter zu politischen Einstel-
lungen stattfinden, die Schriftsprache der
afroamerikanischen Bevölkerung weniger
gut analysieren können als die weißer US-
Amerikaner. So wird die Meinung der
schwarzen Bürger im öffentlichen Diskurs
womöglich weniger berücksichtigt.
Studienleiter Carsten Orwat kann dabei
auf eine Reihe Vorarbeiten aufbauen. So de-
monstrierte die amerikanische Bürger-
rechtsorganisation ACLU 2018, dass die Ge-

sichtserkennung von Amazon 28 Mitglie-
der des US-Kongresses als gesuchte Straf-
täter einstufte. Überproportional von den
falsch-positiven Treffern betroffen waren
nicht-weiße Politiker. Die stiftungsfinan-
zierte Nachrichtenplattform ProPublica

fand heraus, dass ein von der US-Justiz ein-
gesetztes System zur Beurteilung der Rück-
fallgefahr von Straftätern bei Afroamerika-
nern ein höheres Risiko berechnete. Auch
das Microtargeting auf Facebook, bei dem
Nutzer personalisierte Werbung ausge-
spielt bekommen, ist anfällig für Ungleich-
behandlung. So nutzen Arbeitgeber die
Plattform teilweise, um Job-Anzeigen ge-
zielt nur Männern oder Bewerbern unter ei-
ner gewissen Altersgrenze anzuzeigen.
Wohnungsvermieter verhinderten nach
Recherchen von ProPublica mithilfe der
Technik, dass afroamerikanische Mieter
ihre Anzeigen zu sehen bekamen.
Um solche Diskriminierungen auszu-
schließen, empfiehlt die Studie des KIT vor
allem Transparenz. Unternehmen wie
Facebook weigern sich seit Jahren, Ein-
blick in ihre Algorithmen zu geben. Algo-
rithmen, die für Behörden entwickelt wür-
den, sollten dagegen im Vorfeld umfas-
send auf mögliche Diskriminierungsrisi-
ken geprüft werden, empfehlen die Studi-
enautoren. Das Ziel sei es, dass Algorith-
men in Zukunft schon diskriminierungs-
frei designt werden.

Gemeinsame Mahlzeiten gelten als Sym-
bol für ein gutes Miteinander – insbesonde-
re in Familien. Man kommt zusammen,
hat Zeit zum Reden, nimmt eine gemeinsa-
me Auszeit vom Alltag und schenkt dem Es-
sen Aufmerksamkeit. Das tut offenbar
auch der Gesundheit gut. So ist bekannt,
dass die Kinder, die gemeinsam mit Eltern
und Geschwistern essen, seltener überge-
wichtig sind. Doch wovon genau hängt es
ab, ob gemeinsame Mahlzeite positiv auf
die Gesundheit wirken?
Um das herauszufinden, haben Psycho-
logen vom Max-Planck-Institut für Bil-
dungsforschung und der Universität Mann-
heim 50 Studien mit insgesamt mehr als
29 000 Probanden ausgewertet. Wie sie
nun in der FachzeitschriftHealth Psycholo-
gyberichten, sind sechs Faktoren für den
positiven Effekt gemeinsamer Mahlzeiten
ausschlaggebend: Sich Zeit lassen, eine po-
sitive Atmosphäre bei Tisch schaffen, El-
tern, die gesunderes Essen vorleben, quali-
tativ hochwertiges Essen, ein ausgeschalte-
ter Fernseher und eine gemeinsame Vorbe-
reitung tragen demnach tragen am meis-
ten bei.
Kinder, die unter diesen Bedingungen
aufwuchsen, hatten einen niedrigen Body-
Mass-Index (BMI), unabhängig davon, wie
alt sie waren und wie der sozio-ökonomi-
sche Hintergrund der Familie war. Ob die
sechs Faktoren ursächlich zum gesunden
Gewicht der Kinder beitragen, können die
Forscher allerdings nicht sagen – dafür hät-
te man das Essverhalten experimentell be-
einflussen müssen. Es ist also möglich,
dass sorgfältige Mahlzeiten ohne laufen-
den Fernseher im Hintergrund typisch für
Familien sind, die ohnehin gut funktionie-
ren und gesund essen. Was es aber nicht
entwertet, einfach mal Flimmerkiste und
Smartphones abzuschalten und sich El-
tern oder Kindern zuzuwenden. vfs

Ein System der US-Justiz schreibt
afroamerikanischen Straftätern
ein höheres Rückfall-Risiko zu

Vorsicht vor


der Spritze


Corticoid-Injektion ins Gelenk
kann Knochen schaden

Helfen würde Transparenz.
Doch Internetfirmen verweigern
Einblicke in ihre Algorithmen

Diskriminiert von der Black Box

Immer häufiger sollen Algorithmen Behörden helfen, schwierige Entscheidungen zu fällen.


Eine neue Studie zeigt jedoch: Auch Computer sind anfällig für Diskriminierung


Du bist,


mit wem du isst


Gegen die Schmerzen von
Arthrose-Patienten helfen die
Präparate sowieso nicht

(^14) WISSEN Mittwoch, 16. Oktober 2019, Nr. 239 DEFGH
FOTO: IMAGO / ZUMA PRESS
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