Süddeutsche Zeitung - 16.10.2019

(lily) #1
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von johannes aumüller

D


iese Szenen aus Paris wirken wie
eine besonders krasse Provokati-
on: Seit Tagen herrscht Aufre-
gung wegen der Salut-Geste, mit der das
türkische Nationalteam nach dem 1:0 ge-
gen Albanien das kriegführende türki-
scheMilitärgrüßte.EuropasFußball-Ver-
band Uefa ermittelt wegen des Vorfalls.
Aber statt zurückhaltend zu agieren,
kommt es am Montag beim 1:1 der Türkei
in Frankreich zu ähnlichen Szenen. Nach
dem Ausgleichstreffer versammelt sich
rund einhalbes Dutzend türkischerSpie-
ler zum Salut, und nach dem Abpfiff er-
folgt der Gruß noch einmal – in nahezu
kompletter Mannschaftsstärke. Und das
in Frankreich, einem der Wortführer ge-
gen den Militäreinsatz; einem Land, zu
dem die Beziehungen aus türkischer
Sicht arg angespannt sind.

In der Türkei ist der öffentliche Jubel
über diese Aktion wieder groß, andern-
orts ist es dagegen das Unverständnis.
Und es ist in der Tat ein Verhalten, das
sportrechtlich nicht folgenlos bleiben
darf. Selbst ein EM-Ausschluss muss als
Drohung im Raum stehen, falls sich das
Verhalten bei den nächsten Pflichtspie-
len im November so fortsetzt.
Im Fußball wie im ganzen Sport gilt,
dass politische Statements auf dem Platz
untersagtsind.IneinerganzstriktenUm-
setzung wäre das zwar auch wieder ab-
surd; die Verbände selbst haben ja Kam-
pagnen für Vielfalt oder gegen Diskrimi-
nierung. Entsprechend dürfen sich auch
dieSportlerpositionieren:WolfsburgsJo-
suha Guilavogui trug einmal eine regen-
bogenfarbene Kapitänsbinde, Frank-
furts Gelson Fernandes eine mit Europa-
flagge. Amerikanische Profiteams knie-
ten sich vor dem Anpfiff nieder, um ge-
gen Diskriminierung zu protestieren.
Es gibt gewiss Konstellationen, bei de-
nen es schwierig zu bewerten ist, ob sich
eineÜberschreitungderstriktenRegelto-
lerieren lässt.Aberesgibtauchgenügend
Fälle, die eindeutig unangebracht und zu
sanktionieren sind – und dazu zählen
Statements zu Kriegen oder zwischen-
staatlichen Konflikten. So wie beim An-
greifer Mario Mandzukic, der zu seiner
Zeit beim FC Bayern mit einem Jubel-
gruß für kroatische Kriegsgeneräle auf-
fiel; sowiebei GranitXhaka und Xherdan
Shaqiri, den Schweizer Nationalspielern
mit kosovo-albanischen Wurzeln, die im
Vorjahr bei der WM beim Sieg gegen Ser-
bien den sogenannten Doppeladler zeig-
ten; und so wie aktuell bei der türkischen
Nationalmannschaft in ihren beiden
jüngsten Pflichtspielen.
DieUefa-Gremien müssennunnurdie
richtigeForm derSanktionierungfinden.
Immerhin geht es hier nicht darum, dass
ein einzelner Spieler auffiel, sondern na-
hezudiekompletteMannschaft. Unddes-
wegen kann eine Sanktion nicht nur in
Richtung der Spieler zielen, sondern
muss in Richtung des nationalen Verban-
des als solchem gehen. Sportrechtlich
wird für die Uefa-Zuständigen entschei-
dend sein, ob die Militärgesten aus ihrer
Sichtspontane,individuelleAktionenwa-
ren – oder ob es in irgendeiner Form eine
Anweisung gab. Es lässt sich leicht den-
ken, welche Argumentation die türkische
Seite vorbringen wird. Aber in Paris stell-
tensichdietürkischenSpielernochMinu-
ten nach dem Abpfiff zum Salut auf; und
im Spiel gegen Albanien hatte es ja nicht
nur auf dem Feld eine kollektive Geste
fürs türkische Militär gegeben, sondern
später auch noch eine in der Kabine. Wer
kann da noch von Spontaneität reden
und nicht von Strategie?

Sofia/London – Etwa 50 bulgarische
Ultras eilten kurz vor der Halbzeitpause
aus dem Wassil-Lewski-Nationalstadion
von Sofia. Auf Drängen der bulgarischen
Polizei, und wohl aus Sorge, bei einem
Spielabbruch einzeln ausfindig gemacht
zu werden, suchten sie das Weite. Ver-
mummt bis aufs Gesicht, mit schwarzen
Kapuzenpullis, auf denen „Hooligans von
Sofia“ stand. Zuvor hatten sie – und auch
andere Zuschauer – mit Verunglimpfun-
gen der schwarzen Spieler der englischen
Nationalelf, Tyrone Mings, Raheem Ster-
ling und Marcus Rashford, für einen Eklat
gesorgt, den es so bei einem europäischen
Länderspiel noch nicht gegeben hat.
„WasfüreineenttäuschendeNacht,ver-
mutlicheinederentsetzlichsten,dieicher-
lebt hab“, sagte der englische Verbands-
chef Greg Clarke nach dem Spiel, das Eng-
land 6:0 gewonnen hatte, was die Teilnah-
me an der EM 2020 so gut wie garantiert.
ZumerstenMalwurdedervomeuropäi-
schenVerbandUefavorzehnJahrenausge-
arbeitete Dreistufenplan zum Umgang mit
Diskriminierung während eines Länder-
spielsindieTatumgesetzt.Trotzfremden-
feindlicher Rufe, die schon beim Aufwär-
menbegonnenhatten,vergingen26Minu-
ten, bis sich Tyrone Mings bei seinem Län-
derspieldebüt für England gegen die an-
dauernden Affenlaute zur Wehr setzte.
„Did you hear that?“, klagte er in Richtung
Schiedsrichterassistent,„habenSiedas ge-

hört?“ Dem Protokoll folgend wurde per
Durchsage dazu aufgerufen, die rassisti-
schenÄußerungenzuunterlassen.DerAp-
pell – teils bedacht mit Buhrufen und Hit-
lergrüßen – blieb allerdings wirkungslos.
Eine Viertelstunde später unterbrach
der kroatische Referee Ivan Bebek erneut
die Partie, um beim englischen Coach
GarethSouthgatenachzufragen,oberseine
Mannschaft als letzte Warnung für die Zu-
schauer für eine Weile vom Platz nehmen
möchte. England entschloss sich, den ers-
tenDurchgangbiszumEndederNachspiel-

zeit fortzusetzen. Obwohl es gerechtfertigt
gewesenwäre,zugehen.Stattdessen ergrif-
fen die Hauptübeltäter die Flucht. Sonst
hätte es nicht mehr lange gedauert, bis das
EM-Qualifikationsspiel abgebrochen wor-
den wäre.
„Niemand sollte erleben, was unsere
Spieler durchmachen mussten“, sagte
Southgate: „Wir haben uns ans Protokoll
gehalten.Einerseits haben wirden Fußball
für uns reden lassen, andererseits haben
wir zweimal das Spiel gestoppt. Das dürfte
für manche Leute nicht genug sein, aber

wir sind in der unmöglichen Situation,
dass wir es nicht jedem recht machen kön-
nen.“ Im Kabinentrakt stimmten die Uefa-
DelegierteninderPausemitEnglandsVer-
tretern das Vorgehen für die zweite Halb-
zeit ab. Draußen bekniete derweil Bulgari-
ens Kapitän Iwelin Popow seine Landsleu-
te,zur Besinnungzukommen.Letztlichge-
lang es, die Partie ohne weitere Unterbre-
chungüberdieBühnezukriegen–weilein-
zelne weitere rassistische Rufe behandelt
wurden, als wären sie gar nicht passiert.
„Wir haben mit unserem Verhalten ein
riesigesStatementgesetzt“,sagte Southga-
te.Jetztkümmert sich die Disziplinarkom-
mission des europäischen Verbandes um
denFall.AllesanderealsdrakonischeStra-
fen würden die über die Ränge gehängten
Uefa-Plakate mit der Aufschrift „Equal
Game“ ad absurdum führen. In einem
Schreiben von Uefa-Präsident Aleksander
Ceferin am Dienstag hieß es: „Die Uefa ist
bestrebt, alles Erdenkliche zu tun, um die-
se Krankheit aus dem Fußball zu verdrän-
gen. Wir dürfen niemals zufrieden sein
undmüssen unsere Entschlossenheit stär-
ken.“ Zugleich forderte er aber auch mehr
UnterstützungvonRegierungenundNicht-
regierungsorganisationen ein.
In Bulgarien manifestierte sich das Ras-
sismus-Problemam Montagabend ja nicht
zum ersten Mal. 2011 wurde bereits eine
EM-Qualifikationspartie gegen England
von Rassismus überschattet. Damals gab

es eine Geldstrafe in Höhe von 40 000 Eu-
ro. Nach Beleidigungen gegen den däni-
schenSpieler PatrickMtiligamussteBulga-
rien zwei Jahre später eine weitere Strafe
zahlenundeinWM-Qualifikationsspielun-
ter Ausschluss der Öffentlichkeit austra-
gen. Kürzlich im Duell mit Kosovo zogen
rassistische Parolen einen Teilausschluss
derZuschauernachsich–fürdasAufeinan-
dertreffen mit England.
Die Überforderung des bulgarischen
Verbands repräsentierte am Montagabend
Nationaltrainer Krassimir Balakow, einst
Spielmacher beim VfB Stuttgart, indem er
nach dem Spiel allen Ernstes davon
sprach, die rassistischen Äußerungen
„nicht gehört“ haben zu wollen. Verbands-
präsident Boris Michajlow wiederum trat
am Tag nach dem Spiel zurück.
Zuvor hatte es heftigen politischen
Druck gegeben. „Es ist unzulässig, dass
Bulgarien,daseinerdertolerantestenStaa-
tenderWeltist,woMenschen unterschied-
licherEthnienundReligioneninFriedenle-
ben, mit Rassismusund Fremdenhass ver-
bundenwird“,schriebRegierungschefBoj-
ko Borissow. Und Sportminister Krassen
Kralew drohte mit einer Streichung von
Geldern, falls Michajlow im Amt bleibe.
Schon im Vorfeld der Partie hatte sich
die Stimmungslage hochgeschaukelt. Die
Engländertatenöffentlichkund,bei rassis-
tischen Vorfällen bereit zu sein, das Spiel-
feld zu verlassen. Erst jüngst bei der Partie

in Montenegro waren schwarze englische
Spieler mit Anfeindungen konfrontiert
worden. Michajlow hatte als Antwort an
die Uefa geschrieben,die lokalen Zuschau-
er seien zu Unrecht in einen Bezug zu Ras-
sismus gestellt worden. Noch einen Schritt
weiter ging Trainer Balakow, der in Eng-
land „ein größeres Problem mit Rassis-
mus“ sehen wollte als im eigenen Land.
Angesichts dieser Gemengelage war es
bemerkenswert, wie dieenglischen Spieler
reagierten und im Spiel stets die Ruhe be-
wahrten.„WirhabeneinegroßartigeReak-
tion und ein großes Miteinander gezeigt“,
schrieb Mings nach der Partie auf Twitter:
„Letztendlich haben wir den Fußball spre-
chen lassen.“ sven haist

von oliver meiler

M


anchmal wäre ein 0:0 gescheiter,
ein tor- und vor allem jubelloses
Unentschieden. Ein 0:0 für den
Weltfrieden, sozusagen.
InSaint-Denis,beimgeopolitischaufge-
ladenen Spiel zwischen Frankreich und
derTürkeiinderGruppeHderQualifikati-
on für die Europameisterschaft im kom-
menden Jahr, lief lange alles recht harmo-
nisch. Trotz der Sorgen, die es vorher gab,
derDebattenübermilitärisch salutierende
Fußballer und Boykottforderungen. Die
Marseillaise? Natürlich gab es Pfiffe, im-
merhin waren 30 000 Türken ins Stade de
France gekommen, sie tauchten die Arena
infeurigesRot.DochderfranzösischeFuß-
ballverband stellte die Nationalhymne
einfach so donnernd laut ein, dass die paar
Pfiffe im „Allons enfants de la patrie, le
jour de gloire est arrivé“ untergingen. Es
gab auch missfallendes Geheule, als die
BleusfürsAufwärmen denRasenbetraten,
aber das gehört nun mal dazu.
Das Spiel wogte also nett dahin, ziem-
lich animiert sogar. Die Franzosen taten
viel für die Offensive, um die schmähliche
NiederlagebeimHinspielvergessenzuma-
chen, scheiterten aber regelmäßig an den
massierten Abwehrreihen der Türken,
gleichzweidavonhattendieGästedamon-
tiert, und an Mert Günok, dem auffällig
gut aufgelegten Torwart.
Bis zur 76. Minute war alles gut, 0:0.
DanntrafOlivierGiroudmitdemKopf,aus-
gerechnet Giroud, 33 Jahre alt, der viel Ge-
schmähte und oft Unterschätzte. In sei-
nem Verein, dem FC Chelsea, spielt er nur
noch sehr selten, im Nationalteam aber
schießt er Tor um Tor. Er war diesmal nur
Ersatz, obwohl ihm einige Tage zuvor
schon das Siegtor gegen Island gelungen
war. Nationalcoach Didier Deschamps zog
ihm Wissam Ben Yedder vor, den Stürmer
von AS Monaco. Von dem hieß es, er sei in
viel besserer Form. Nun ja, ging so. Giroud
brauchte nach seiner Einwechslung nur

vierMinutenfürseinTor,breitetedanndie
Arme zum Albatros, führte die Hände hin-
terdieOhren. Noch Fragen,nochDiskussi-
onen? „Zorro“ nannte ihn der Kommenta-
tor auf dem TV-Sender M6, „Held“, sogar
„Retter“, alles in einem Atemzug.
Das0:0,dahin.NunfühltensichdieTür-
kenbemüßigt,ihreextremeTiefenlageauf-
zugebenundauchvornemalwaszuprobie-
ren. Und so passierte in der 82. Minute,
was aus sportlicher Sicht ja durchaus und
immerimBereichdesMöglichenliegt,poli-
tisch aber gerade nicht so unproblema-
tisch ist: Tor für die Türkei.
Eine lange Freistoßflanke von Hakan
Calhanoglu zum entfernten Pfosten, hin-
ter die Rücken der französischen Verteidi-
ger. Und da flog der Düsseldorfer Kaan Ay-
han heran, Kopf voran, 1:1. Ayhan und sei-
neMitspielerstürmtenjubelndvordieGäs-
tekurve, wo die 3800 härter gesottenen
Fans aus der Türkei untergebracht waren.
Schließlich legtenmehreretürkische Spie-
ler die rechte Hand flach an die Stirn,
streckten sich durch zur Achtungsstel-
lung, in Formation. Ayhan jedoch nicht,
der Torschütze, der weigerte sich diesmal,

obschon man ihn offenbar dazu drängte.
Die Kurve salutierte zurück.
Auch Ayhans Düsseldorfer Teamkollege
Kenan Karaman soll sich dem Militärgruß
diesmal verweigert haben. Gegen Albani-
en hatten beide Spieler diesen noch ge-
zeigt.SpäterließdieFortunawissen,esha-
besich um eine Solidaritätsbekundung für
Soldaten und ihre Angehörigen gehandelt,
nicht aber um ein politisches Statement.
NachdemSiegtorinebenjenemSpielge-
genAlbanienkonntemanmitvielWohlwol-
len noch von einer einigermaßen sponta-
nen Aktion reden, so streitbar und deplat-
ziert sie auch war. Da zeigten sich türki-
sche Nationalspieler im Moment patrioti-
scher Ergriffenheit solidarisch mit türki-
schen Soldaten, die in Nordsyrien gegen
die Kurden kämpfen.
Diesmal war gar nichts mehr spontan,
und wer noch immer daran zweifelte, wie
angeblich zufällig sich alles vermischt, Na-
tionalstolzundKriegspropaganda,brauch-
te nur noch mal ein paar Minuten warten:
Nach dem Schlusspfiff führten die Spieler
ihre militärische Show noch einmal auf,
ausgeruht,mancheschoninihreTrainings-

jacken gehüllt. Der Salut ist jetzt Trotz und
Provokation.
Vielleicht blieb Jean-Yves Le Drian auch
deshalbzuHause.Ursprünglichwarvorge-
sehen gewesen, dass der französische
Außenminister auf der Ehrentribüne Platz
nimmt. In letzter Minute sagte er ab: „für
unsere kurdischen Alliierten“. Aus der Re-
gierung war nur Roxana Maracineanu, die
Sportministerin, im Stade de France. Sie
dankte nach dem Spiel dem französischen
Verband und den Sicherheitskräften, dass
die für einen gesitteten Verlauf der Begeg-
nung gesorgt hatten, und fügte dann an:
„Mit ihrem militärischen Gruß haben die
türkischen Spieler aber alle Mühen zer-
stört, die Geste widerspricht dem Sports-
geist.“ Maracineanu forderte die Uefa auf,
eine „exemplarische Strafe“ auszuspre-
chen. Der Verband will zunächst die Spiel-
berichte analysieren, bevor über etwaige
Maßnahmen entschieden wird. Der türki-
sche Nationaltrainer Senol Günes sagte,
die Mannschaft habe nur„unsere Soldaten
unterstützen“wollen:„Beidiesemmilitäri-
schenGrußgehtesnichtdarum,einenega-
tive Haltung zu demonstrieren.“
Es gibt inzwischen eine internationale
Kampagnemit demZiel,den Austragungs-
ort für das Finale der Champions League
zu verlegen: Vorgesehen ist dafür das Ata-
türk-Stadion in Istanbul, am 30. Mai 2020.
In Frankreich hatte es vor dem Spiel gegen
dieTürkeiIntellektuelleund Politikergege-
ben, die zu einem Boykott der Begegnung
aufriefen, sie verlangten gar, es abzusa-
gen. In den sozialen Netzwerken lief die
Petition unter #AnnulationFranceTur-
quie. DieVerantwortlichenaberfanden,ei-
ne Absage würde die politisch gespannte
Lage zwischen beiden Ländern nur weiter
verschärfen. Am Endesei es doch nur Fuß-
ball, man vertraue auf den gesunden Men-
schenverstand.
Nun, der Menschenverstand war auch
bemerkenswert stabil, bei fast allen auf
den Rängen. Wenigstens, solange es 0:0
stand.

Dass der FC St. Pauli gerne der ganz
andere Fußballklub sein will, ist nichts
Neues. Die Hamburger Stadtteil-Piraten
sindbekennend links,bekennendqueer,
bekennend öko. Am kommenden Sams-
tag werden die Kiez-Kicker nicht im
Mannschaftsbus,sondernmiteinemkli-
maneutralenBrennstoffzellenbusdesöf-
fentlichenNahverkehrszumStadionfah-
ren. Es ist das jüngste Statement eines
Vereins, der neben Weltpokalsiegerbe-
sieger auch Weltverbesserer sein möch-
te. Ewald Lienen, Technischer Direktor
und das Gewissen des Klubs, hat mal für
eine linke Friedensliste Wahlkampf ge-
macht, mit lauter Kommunisten.
Es kann daher kaum überraschen,
dass der Spieler Cenk Sahin, 25, die
FahrtimBrennstoffzellenbuszumHeim-
spiel gegen Darmstadt nicht mitmachen
wird.Sehrwahrscheinlichwirddertürki-
sche Profi nie mehr im St.Pauli-Trikot
auflaufen, nachdem er in der vergange-
nen Woche seine Unterstützung für die
türkischenAngriffeaufdieKurdeninSy-
rien mitgeteilt hat. Via Instagram
schrieber:„WirsindanderSeiteunseres
heldenhaften Militärs und der Armeen.
Unsere Gebete sind mit euch.“
Sahins patriotischer Gruß an die
Front zog heftige Reaktionen im Umfeld
des FC St. Pauli nach sich: Den Krieg des
türkischen Präsidenten Recep Tayyip
Erdoğan wollen sie in Hamburg nicht
haben.DieUltras,als Hardcore-Fans mit
Leib und Seele dem Verein verschrieben,
teilten mit, ihnen sei es „schleierhaft“,
wie man sich mit diesem „ekelhaften
Wahnsinn“ solidarisieren könne. Sahin
müsse umgehend entlassen werden.
Auch dasGremiumderFanklubssahdas
so: Man verurteile jeden Angriffskrieg
und verachte die Inkaufnahme ziviler
Opfer aufs Schärfste: „Ein Mitarbeiter,
der dem Angreifenden moralisch bei-
steht, ist nicht akzeptabel.“
Noch am Freitag wurde der Mitarbei-
ter Sahin – erst mal nur bis zum nächs-
ten Training – frei gestellt, er flog umge-
hend in die Türkei. Dort äußerte er sich
in einem Radiointerview über seinen
Instagram-Beitrag: „Wegen der Veröf-
fentlichung gab es Probleme mit Klub
undFans“, zitierten Medien aus dem Ge-
sprächdesSendersRadyospor,„diewoll-
ten, dass ich das lösche – ich habe es
aber nicht gemacht.“ Vermutlich auch
wegen dieser Reaktion hat sich St.Pauli
nach einer internen Aufarbeitung und
angeblich einem weiteren Gespräch mit
Sahin vom Spieler getrennt – nicht zu-
letzt, um ihn vor den eigenen Fans zu
schützen, die ihm ein „verpiss’ dich, Sa-
hin“, nachgerufen hatten.

Sahins Vertrag bleibt gültig, im Win-
ter kann er wechseln. Dem Verein sei
zwar bewusst, dass „wir differenzierte
Wahrnehmungen undHaltungenausan-
deren Kulturkreisen nicht bis ins Detail
beurteilen können und sollten“, schrieb
St. Pauli: „Ohne jegliche Diskussion und
ohne jeglichen Zweifel lehnen wir dage-
gen kriegerische Handlungen ab.“
Angeblich hat Sahin schon eine neue
Heimat gefunden, er darf beim türki-
schen Erstligisten Istanbul Basaksehir
FK trainieren. Gründungsmitglied dort
ist Präsident Erdoğan. ralf wiegand

DEFGH Nr. 239, Mittwoch, 16. Oktober 2019 23


TÜRKEI

Krieg gehört nicht


auf den Rasen


„Was für eine enttäuschende Nacht“


Affenlaute und Hitlergrüße im Stadion von Sofia: Weil bulgarische Zuschauer englische Spieler rassistisch beleidigen, steht die Qualifikationspartie mehrmals kurz vor dem Abbruch


Militärshow auf dem Fußballplatz


Die Spieler der türkischen Nationalmannschaft salutieren erneut, diesmal beim 1:1 im Stade de France. Zwei Profis
von Fortuna Düsseldorf verweigern sich dem Gruß. Frankreichs Sportministerin fordert eine „exemplarische Strafe“

Torschütze Kaan Ayhan (re.) und sein Düsseldorfer Mitspieler Kenan Karaman
(li.) salutierten nicht, Merih Demiral (Mitte) schon. FOTO: CHARLES PLATIAU / REUTERS

American Football
Eine Verletzung wirft den Stuttgarter
Jakob Johnson auf seinem
Weg in die NFL zurück 24

Sportbücher
Bildbände über die Amateurliga
und über das Zusammenspiel
von Kicken und Gesang 25

Falsche Gebete


St. Pauli stellt Cenk Sahin frei


War der Salut an die Truppe
bloß eine spontane Aktion der
Spieler? Vieles spricht dagegen

SPORT


Die rechte Hand flach an die Stirn: Sieben türkische Spieler nach dem Ausgleichstor gegen Frankreich im Stade de France. FOTO: BENOIT TESSIER / REUTERS

„Niemand sollte erleben, was unsere Spieler durchmachen mussten“: Englands
Nationaltrainer Gareth Southgate tröstet Marcus Rashford. FOTO: DAVID KLEIN / IMAGO

HEUTE


„Die wollten, dass ich das lösche“: Cenk
Sahin im Trikot von St. Pauli. FOTO: DPA

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