Süddeutsche Zeitung - 16.10.2019

(lily) #1
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Vor zwanzig Jahren, also 1999, kam ein Hol-
lywood-Film in die Kinos, der sich um den
Profibetrieb im American Football drehte,
„Any Given Sunday“ hieß er, auf deutsch:
An jedem verdammten Sonntag.
Dazu muss man wissen, dass in den USA
der Sonntag traditionell für die Profi-Foot-
baller reserviert ist, so wie in Deutschland
dieser Tag den Amateurfußballern vorbe-
halten ist. Wenn man denen ein Bilder-
werk widmen will, liegt es nahe, auf diesen
Titel zurückzugreifen. Also hat der Werbe-
und Dokumentarfotograf Christian Wer-
ner sein Bilderbuch über „Deutschlands
Kreisliga-Helden“ genau so überschrie-
ben: An jedem verdammten Sonntag.
Über einen Zeitraum von sechs Jahren
hat Werner sonntags fotografiert, was sich
in den Niederungen des Fußballs abspielt,
und herausgekommen ist ein angeneh-
mer, ja sogar liebenswerter Kontrast zum
durchkommerzialisierten Profifußball mit
seinen hochbezahlten Akteuren und sei-
nem perfekt organisierten Spielbetrieb,
glänzend dargeboten auf einem millime-
tergenau getrimmtem Rasen.
Werners Bilder zeigen dagegen die stau-
bigen roten Erden, die matschigen brau-
nen Wiesen, auf denen Woche für Woche
Abertausende von Amateuren kicken, mit
Ehrgeiz und Herzblut und manchmal auch
mit einem dicken Bauch und einem noch
dickeren Kater. Frank Goosen hat ein Vor-

wort dazu geschrieben, der als ehemaliges
Aufsichtsratsmitglied des Zweitligisten
VfL Bochum den Profifußball kennt und
als Schriftsteller im Ruhrgebiet die einfa-
chen Menschen im Blick hat, mit all ihren
Unzulänglichkeiten, Eigenheiten und Ma-
rotten. Es ist weniger ein klassisches Vor-
wort, als vielmehr die liebevolle Beschrei-
bung eines typischen Sonntags auf einem
Fußballplatz. Eine Einstimmung auf die
Bilder und Sprüche, die folgen.

Christian Werner hat Mannschaften be-
obachtet, die nicht vor 80 000 Zuschauern
auflaufen wie Borussia Dortmund, son-
dern bloß vor acht wie der TSV 1895 Edig-
heim. Er zeigt schneebedeckte Plätze im
Winter, überflutete Felder im Sommer,
selbstgebackenen Kuchen und selbstge-
grillte Würstchen, Helfer, die den Ball aus
dem Bach fischen, aus dem Wald holen, im
hüfthohen Rapsfeld suchen – all das, was
man in einem großen Stadion nie erleben
wird und in der Kreisklasse alltäglich ist.
Szenen von großer Tristesse hat der in
Hannover lebende Fotograf eingefangen,
aber auch Momente großer Leidenschaft;
er hat Perlen der Kreativität und Improvi-

sation gefunden: Das Bild der Eckfahne in
einem ausgeleierten Loch, das im Grunde
keinen Halt mehr bietet, ist ein zudem ein
wunderbares Beispiel für die Dauerhaftig-
keit eines Provisoriums.
Was ein bisschen schade ist, ist allen-
falls das Format des Bilderbuches: Es ist et-
was klein geraten, wie ein herkömmlicher
Hardcover-Roman. Viele Details kommen
so nicht wirklich zur Geltung, nicht alle Fo-
tos laden dazu ein, darin spazieren zu ge-
hen auf Entdeckungsreise. Gerade in den
Umkleidekabinen und Vereinsheimen hät-
te man sich aber gern länger aufgehalten.
Das Format hätte zwar nicht gleich die
Größe eines sogenannten Coffee Table
Bookshaben müssen, also eines Buchs, un-
ter dem man mühelos ein Beistelltischlein
verschwinden lassen kann. Auch nicht die
Wucht der Muhammad-Ali-Hommage
„GREATEST OF ALL TIME“ aus dem Ver-
lag Taschen, das selbst in der Leichtge-
wichts-Edition noch sieben Kilo auf die
Waage bringt. Aber selbst, wenn es kein
Weltsport ist und kein großes Kino, was in
den Kreisligen und Kreisklassen veranstal-
tet wird, hätte man all die Lokalhelden nun
auch nicht kleiner machen müssen, als sie
sind. joachim mölter

Christian Werner: An jedem verdammten Sonntag.
Deutschlands Kreisliga-Helden. Edel Books. 19,95
Euro.

von holger gertz

D


ie Frage, ob Maradona oder Pelé
der bessere Spieler war, wird end-
gültig und abschließend nie zu klä-
ren sein, die einen sagen so, die anderen
so. Auf jeden Fall war und ist Pelé der besse-
re Sänger, und wer noch nicht mitbekom-
men hat, wie schön Pelé singen konnte, der
höre im Internet nach. „Perdão Não Tem“
ein Lied aus den Sechzigern, Pelé ist da
sanftmäuliger Duettpartner der großen
Elis Regina.45football.comheißt die Web-
site, auf der man Perlen wie diese finden
kann, der Schweizer Musiker und Lehrer
Pascal Claude stellt seine enorme Samm-
lung von Fußball-Liedern vor. Aus Frank-
furt: „Im Wald, da spielt die Eintracht.“ Aus
Hammarby: „Just idag är jag stark.“ Aus
Niš: „Kude ja taj Nis.“ Man kann alles anhö-
ren, man kann sich auch die Plattencover
nur ansehen, was im Zweifel das ungetrüb-
tere Vergnügen ist. Deshalb gibt es die Co-
ver der Vinyl-Platten jetzt auch gedruckt,
in einem 420 Seiten dicken und kiloschwe-
ren quadratischen Standardwerk, „Foot-
ball Disco“ heißt es. Wer sich in die Website
und in das Buch vertieft, weiß alles, alles
über das Zusammenspiel zwischen Fuß-
ball und Gesang.
Warum singt ein Fußballer? Weil er’s
kann natürlich. Und wenn er’s nicht konn-
te, fand sich immer irgendwo ein Ge-
schäftsmann, der ihm einredete, es zu kön-
nen. Also, was Pelé kann, konnte der fran-
zösische Abwehrmann Marius Trésor
schon mal nicht halb so gut, seine Aufnah-
me „Sacré Marius“ war trotzdem geeignet
als Hintergrundmusik für das Treiben in
den sagenumwobenen Partykellern der
Siebziger.

Im Käseigel-Deutschland hörte man zu
der Zeit Tony Holiday, da waren die Franzo-
sen mit Trésor eindeutig besser bedient,
zumal er auf der Plattenhülle aussieht, als
wäre er mit Bill Withers enger verwandt.
Der Österreicher Hans Pirkner („Tuat’s net
schimpfn über mi“) wanzt sich in einer erst-
klassigen Swingnummer an die Fans ran,
Ruud Gullit nimmt auf dem Cover seines
Reggae-Verschnitts „Not the dancing kid“
gerade eine Dusche. Der herrliche Brasilia-
ner Junior ist dagegen mit dem kanarien-
gelben Brasilien-Trikot bekleidet, wäh-
rend er die passende Hymne „Voa Canarin-
ho, voa!“ singt: Flieg, Kanarienvogel, flieg!
Die im Buch abgebildete Plattenhülle sieht
aus, als wäre sie zu gleichen Teilen er-
schöpft und entspannt, vom Strandsand
abgerieben und von der Sonne aufgehellt.
Der Plattensammler Pascal Claude hat
in Bergen von Hinterlassenschaften gegra-
ben und im Netz und auf Flohmärkten ge-
stöbert, aus Ossetien brachte ihm ein
Freund eine Spartak-Moskau-Hymne mit,
eingespielt vom „Ansambel Bim-Bom“.
Denn die Sammlung besteht nicht nur aus
Liedern von Fußballspielern, es krächzen
und tschilpen und schmettern auch Chöre,
Einzelinterpreten oder Fangruppen, sie
singen zu Ehren der Fußballer, des Fuß-
balls und der Vereine. Sie singen, um einen
Helden vom Wechsel abzubringen („Johan
Cryuff, ga niet weg!“), sie singen aus Trotz
und aus Liebe und aus trotziger Liebe wie
der Darmstadt-98-Fan und Schallplatten-
händler Gerald Wrede: „Ich glaube nicht
an Gott, und ich glaube nicht an dich. Ich
glaube an den SVD.“
Wenn viele versammelt sind, wird ge-
sungen, das ist im Bierzelt so wie in der Kir-
che und im Stadion, denn wenn viele sin-
gen, dringen sie leichter durch zu Gott

oder Micoud, zu Maradona oder Eilts oder
Kipiani. Oder man schüchtert die Gegner
ein, wenn man laut singt; man singt sich
selbst ein bisschen größer. Eine archaische
Angelegenheit. Das Buch enthält Essays,
der Argentinier Luciano Caldarelli, Fan der
Boca Juniors Buenos Aires, schreibt über
die unzähligen Lieder, die diesem Verein
gewidmet sind, es sind so viele, dass er pro-
blemlos eine „cancionero popular boquen-
se“ erstellen konnte, eine Liedersamm-
lung. Und der Brite Graham Waite erinnert

daran, dass im Sommer 1982 zeitgleich die
englische Nationalmannschaft und die
schottische Nationalmannschaft und auch
Tottenham Hotspur mit je einem Song in
den Charts waren, bei „Top of the Pops“
ging die entsprechende Sendung als „Foot-
ball episode“ in die Geschichte ein.
Größter britischer Sänger: Kevin Kee-
gan natürlich, Mighty Mouse, vorüberge-
hend assoziiertes Mitglied der Hamburger
Musikszene durch seinen Reißer „Head
over heels in love“, aufgenommen 1979 im

Rüssl-Studio von Otto Waalkes. Das Cover
ist im Buch auf Seite 195, ganz nah bei Jim-
my Hartwigs „Mama Calypso“.
Good old days? „Ich war ein Belgier,
aber jetzt bin ich ein Bayer“, behauptete zu
jener Zeit der Torwart Jean-Marie Pfaff,
„ich trinke Bier und esse Leberkäs mit
Eier.“ Ein schauderhaftes Lied in faden-
scheinigem Deutsch und mit dem entspre-
chend einfallslosen Cover: ein Torwart auf
dem Sprung. Dicht gefolgt von Norbert Nig-
burs „Wenn Schalke 04 nicht wär, wär das

Parkstadion immer leer“ – die philosophi-
sche Tiefe dieser Zeile erschließt sich eher,
wenn man die englische Übersetzung liest.
„If there was no Schalke 04, the Parkstadi-
um would always be empty.“
„Football Disco“ – ein schöner Wälzer
über zwei Königreiche, die manchmal bes-
ser nicht zueinandergefunden hätten.

Pascal Claude (Hg.): Football Disco! The Unbelieva-
ble World of Football Record Covers. Verlag der
Buchhandlung Walther König. 19,80 Euro.

Dieses Buch sei konzipiert wie die Leit-
planken an einer Rennstrecke, schreibt
der Autor. Es begrenze die Piste, aber
die Ideallinie müsse der Leser selber
finden. 1000 Rennen hat es gegeben in
der Formel 1, sie erzählten Zehntausen-
de von Geschichten. Elmar Brümmer
war nur aus biologischen Gründen
nicht bei allen dabei. Aber weltweit gibt
es nur wenige Journalisten, die noch
mehr Grands Prix erlebt haben. Auf
Grundlage dieses immensen Erfah-
rungsschatzes trifft er eine Auswahl,
berichtet über Menschen, Autos, Stre-
cken und Ereignisse. Zu leuchten be-
ginnt das Buch in den anekdotischen
Berichten und dank einer Schreibe, die
der Teamchef Peter Sauber als „zupfig“
bezeichnete. Wer wissen will, warum
Brümmer auf dem Beifahrersitz von
Michael Schumacher saß, der Rekord-
weltmeister das Fenster hinunterließ
und ihn fragte, ob er den Außenspiegel
des Fahrzeugs neben ihnen verstellen
möge, dem sei die Lektüre empfohlen.

Elmar Brümmer, Ferdi Kräling: 1000 x For-
mel 1, Tausend Formel-1-Rennen. Delius Kla-
sing Verlag. 19,90 Euro.

Flieg, Kanarienvogel, flieg!


Pelé singt im Duett, Ruud Gullit unter der Dusche, das „Ansambel Bim-Bom“ huldigt Spartak und Fangruppen schmettern aus Trotz und Liebe.
Der großartige Band „Football Disco“ trägt die Cover von Fußball-Vinylplatten aus aller Welt und ihre Geschichten zusammen

Christian Bartlau: Ballverlust.
Gegen den marktkonformen Fußball.
PapyRossa Verlag. 14,90 Euro.
Tobias Escher, Daniel Jovanov: Der
Abstieg. Wie Funktionäre einen Verein
ruinieren. Rowohlt Taschenbuch Verlag.
12,99 Euro.
Reimar Paul: Pizarro. Die Biografie.
Verlag Die Werkstatt. 19,90 Euro.
Ronald Reng: Miro. Die offizielle
Biografie von Miroslav Klose. Piper.
22,00 Euro.
Christoph Ruf: Bundesliga anders.
Der SC Freiburg und die Ära Streich.
Verlag Die Werkstatt. 18,00 Euro.
Dietrich Schulze-Marmeling: Reds.
Die Geschichte des FC Liverpool. Verlag
Die Werkstatt. 19,90 Euro.
Thomas Pletzinger: The Great Nowitz-
ki. Kiepenheuer & Witsch. 26,00 Euro.
Jürgen Kalwa: Dirk Nowitzki. So weit,
so gut. Arete-Verlag. 18,00 Euro.
Hajo Seppelt: Feinde des Sports.
Undercover in der Unterwelt des Spit-
zensports. Econ. 20,00 Euro.

Eine kleine Notiz hatte Max Gablonsky,
Leichtathlet und Fußballspieler, hinter-
lassen: „6. Tor von mir.“ Es war nicht
die Zeit der großen Gesten, Selbstdar-
stellung und Eigenwerbung im Sport.
Dass Gablonsky am 26. März 1911 beim
6:2 der deutschen Fußballnational-
mannschaft gegen die Schweiz getrof-
fen hatte, geriet in Vergessenheit, das
Tor wurde fälschlicherweise Gottfried
Fuchs zugeschrieben. Erst auf Initiative
seines Sohnes und der Archivare des
FC Bayern München hat der Deutsche
Fußball-Bund Gablonskys Treffer post-
hum anerkannt und die Almanache
offiziell berichtigt, 100 Jahre nachdem
der Ball in die Maschen flog. Gablonsky
ist der erste Länderspieltorschütze des
FC Bayern: Seine späte Würdigung ist in
Episode Nummer 91 der Vereinsge-
schichte nachzulesen, die Johannes
Kirchmeier anhand von 101 Fakten
erzählt. Um Interessantes und Wissens-
wertes zu finden, ist es nicht einmal
nötig, Anhänger des Klubs zu sein.

Johannes Kirchmeier: 101 Dinge, die ein echter
FC-Bayern-Fan wissen muss. Verlag GeraMond.
14,99 Euro.

Christian Werner zeigt den
liebenswerten Kontrast zum
kommerzialisierten Profifußball

Sportbücher Auf der Suche nach der Fußballseele. Bildbände über die Amateurliga und über das Zusammenspiel von Kicken und Gesang


Schabernack mit Schumacher


Aus dem 420 Seiten dicken Standardwerk „Football Disco“: der vielseitig begabte Brasilianer Junior (oben links), eine Hymne auf Johan Cruyff (unten links),
ein Marsch zur WM 1966 – und der Beweis, dass man bei Boca Juniors mit Stollenschuhen Tango tanzen kann.FOTOS: FOOTBALL DISCO

Rote Erde, braune Wiesen


Ballsuche im Rapsfeld und andere Abenteuer, die man in großen Stadien nie erlebt: Eine Bilderreise mit Christian Werner durch die Niederungen des Amateurfußballs


Kevin Keegan nahm seinen
Hit im Rüssl-Tonsstudio
von Otto Waalkes auf

Nachspielzeit


DEFGH Nr. 239, Mittwoch, 16. Oktober 2019 (^) SPORT 25
EBENFALLS ERSCHIENEN
Improvisation ist eine Kunst, die in dieser Form nur in der Kreisklasse zu finden ist: Der Fotograf Christian Werner dokumen-
tiert auf seinen Bildern das Ballfischen im Bach und originelle Werkarbeiten mit der Eckfahne. FOTOS: CHRISTIAN WERNER
VON SZ-AUTOREN
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