Süddeutsche Zeitung - 16.10.2019

(lily) #1
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Dass Saša Stanišić wütend ist, wusste
man schon vor seiner Dankesrede am
Montagabend in Frankfurt. Der Hambur-
ger Schriftsteller, der in diesem Jahr mit
dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet
wurde,twittertseitDonnerstagseineFas-
sungslosigkeit wegen des Nobelpreises
an Peter Handke in die Welt, zitiert Sätze
aus Handkes Werk und kommentiert sie
ironisch oder auch völlig unironisch:
Handke sei ein Autor, der sich „hinter der
Freiheit, alles erzählen zu dürfen, weil al-
les Poesie und alles Ambivalenz und alles
Autor sein darf, feigst versteckt“; er blei-
be aber „ein kitschiger Möchtegern“.
So klingt Saša Stanišić, wenn er wü-
tend ist. Wobei man ihn sich eigentlich
nicht als wütenden Zeitgenossen vorstel-
len sollte. Im Gegenteil: Stanišić mag die
meistenMenschen,dasmerktmanimGe-
spräch mit ihm und auch, wenn man sei-
neBücherliest.„MichinteressierenBarm-
herzigkeit und Warmherzigkeit mehr als
ihre Gegenteile“, hat er einmal gesagt. Es
klang wie eine Verteidigung. Dabei
schreibt er über Krieg, Gewalt, Demüti-
gung – ohne jedoch zum Voyeur zu wer-
den. Stanišić ist als Mensch wie als Autor
überaus höflich. Sogar vor seiner Rede
beim Buchpreis hatte er sich erst einmal
entschuldigt: „Ich bitte Sie um Nachsicht,
wenn ich diese kurze Öffentlichkeit dafür
nutze, mich kurz zu echauffieren.“
Saša Stanišić ist vom Nobelpreis für
Handke doppelt getroffen: einmal als
Schriftsteller, der eine eitle, ästhetizisti-
sche Literatur ablehnt; und dann als Au-
tor, der sich in seinem Schreiben intensiv
mit seiner Herkunft auseinandergesetzt
hat.„Herkunft“,solautetauchderTitelsei-
nes aktuellen Romans, den die Jury in
Frankfurtzum besten Buchdes Jahresge-

wählt hat. Der 41-Jährige erzählt darin die
Geschichte seiner Familie, seiner bosni-
schen Mutter und seines serbischen Va-
ters, die 1992 mit ihrem 14 Jahre alten
Sohn aus Višegrad nach Heidelberg geflo-
hensind.„IchhattedasGlück,demzuent-
kommen,wasPeterHandkeinseinenTex-
ten nicht beschreibt“, sagt er in Frankfurt.
Zur Literatur kam Stanišić in Heidel-
berg, wo er Deutsch als Fremdsprache
und Slawistik studierte und dann einer
Sachbearbeiterin, die bereits die Papiere
fürseineAusweisungvorbereitete,klarzu-
machen versuchte, dass Schriftsteller ein
Beruf sei, der sich aus dieser Fächerkom-

binationergebe.NichtnurseinerÜberzeu-
gungskraft, sondern auch Beamten, die
einmalnichtDienstnachVorschriftmach-
ten,verdankter,dasserdanachamLeipzi-
ger Literaturinstitut studieren konnte.
2006 debütierte er mit dem Roman „Wie
der Soldat das Grammofon repariert“,
2014 erhielt er den Preis der Leipziger
Buchmesse für „Vor dem Fest“. In all sei-
nen Werken, am stärksten in „Herkunft“,
wirdklar,dassdasAbschweifenindieFan-
tasie für sein Schreiben zentral ist.
Stanišić, der mittlerweile fast 26000
Tweets abgesetzt hat, manche witzig,
manche wütend, weiß, wovon er spricht,
wenn er von Abschweifung spricht. Tat-
sächlich entstehen Teile seiner Texte oft
zuerstin280-Zeichen-Nachrichten.Twit-
teristihmZeitvertreib,vorallemaberMe-
dium der Zeitgenossenschaft. Dort
schreibt er über seine unerquickliche Lei-
denschaftfürdenHSV,überseineEichen-
dorff-Lektüren und über das, was er zu-
letzt in einer Kaskade von Tweets sarkas-
tisch als „mutige Entscheidungen“ be-
zeichnete: Jörg Meuthen ins „Morgenma-
gazin“ einzuladen, den Kurden die Unter-
stützung zu versagen, „einem provokan-
ten,zornigenNaturburschen undGenozi-
drelativierer den Nobelpreis zu geben“.
Der Krieg, in dem der Nobelpreisträger
Partei ergriff, indem er sich „exklusiv an
dieSeitederMörderundMilošević-Freun-
de“ stellte, nahm Saša Stanišić Familien-
mitglieder, Freunde und seine Heimat.
DieserVerlustistsoetwas wieeinLebens-
thema, dem er mit seinem Schreiben be-
gegnet: die schwierige Suche nach jenem
Ort, an dem man zufällig geboren wurde,
an dem man aber nicht mehr sein kann.
Saša Stanišić hat sich vorgenommen, die-
sen Ort zu erfinden. karin janker

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M


ietersindmächtigenImmobilien-
investoren hilflos ausgeliefert?
Die ins Absurde steigenden Prei-
se fürs Wohnen lassen sich nicht brem-
sen? Doch. Es geht. Das hat das Oberlan-
desgericht München eindrücklich ge-
zeigt. Die Richter haben ein wegweisen-
des Urteil gefällt bei einem existenziellen
Thema. Denn Wohnen muss jeder.
Sicher,derMünchnerFallisteinEinzel-
fall. Da wollte eine Immobilienfirma in ei-
ner Schwabinger Wohnanlage im Zuge ei-
ner Modernisierung die Mieten um bis zu
163Prozenterhöhen.WeilsolcheAufschlä-
ge seit Jahresbeginn nicht mehr zulässig
sind,kündigte derEigentümer dasVorha-
ben am 27. Dezember 2018 an – um noch

nach altem Recht abzukassieren. Dies sei
nicht zulässig, urteilte das Gericht.
Bedeutend ist das Urteil trotz seines
Einzelfallcharakters, denn es zeigt, dass
die Macht von Immobilieneignern Gren-
zen hat. Womöglich sind auch Richter
durch Proteste für bezahlbares Wohnen
und Bürgerbegehren sensibilisiert wor-
den; das wäre zu begrüßen. Zudem hat
das Oberlandesgericht bundesweit erst-
mals einer Musterfeststellungsklage im
Mietrecht stattgegeben. Hier hatte also
derMietervereinimNamenvon145Partei-
en geklagt. Das minimiert das Risiko für
Einzelne – und zeigt, dass man gemein-
sam etwas erreichen kann. Sogar auf dem
Wohnungsmarkt. nina bovensiepen

von meike schreiber

S


logans großer Unternehmen sind
oft eher schlicht. Bei der Deutschen
Bank aber stand der Slogan „Leis-
tung aus Leidenschaft“ viele Jahre lang
immerhinglaubwürdigfürdasSelbstver-
ständnis dieser Bank, ein erzkapitalisti-
sches, aber eben auch meritokratisches
Unternehmen zu sein. Nur die Besten ih-
res Faches sollten sich dort durchsetzen.
Das war das Credo eines Instituts, das
sich von Ende der 80er-Jahre an dem an-
gelsächsischen Investmentbanking ver-
schrieben hatte, bei dem es angeblich auf
nichts mehr ankam als auf Leistung, um
so viel Geld wie möglich damit zu verdie-
nen.
Doch dieses Selbstverständnis hat die
Deutsche Bank dann jahrelang ad absur-
dum geführt: Sie hat vor allem in China
Dutzende Menschen eingestellt, deren
Leistungmeist nurdarinbestand, Kinder
von Parteifunktionären zu sein. Und weil
die Aussicht auf hohe Erträge in Fernost
so verlockend war, verabschiedete man
sich vom eigenen Credo, mit dem man
jahrelang um das Vertrauen von Kunden
warb. So gesehen wäre es in China ehrli-
cher gewesen, mit „Papa sei Dank“ zu
werben. Es brauchte keine Leistung, son-
dern nur die richtige Geburtsurkunde.
Nun ist seit Jahren bekannt, dass die
Deutsche Bank oft genug jenseits der
rechtlichen Vorgaben operiert hat. Trotz-
dem gibt es immer wieder dunkle Ecken,
die noch nicht ausgeleuchtet waren, ein
Beispiel ist das besagte Korruptionssys-
tem in China. Dabei wäre die Angelegen-
heit vielleicht nur halb so schlimm gewe-
sen, wenn die Bank früh den Warnungen
einiger Mitarbeiter nachgegangen wäre.
In der Ära von Ex-Deutsche-Bank-Chef
Josef Ackermann aber konnte davon kei-
nerlei Rede sein; und auch unter seinen
Nachfolgern Anshu Jain und Jürgen Fit-
schen wurden die Sachverhalte allenfalls

halbherzig aufgeklärt, weswegen die
meistenderpotenziellenStraftaten inzwi-
schen verjährt sein dürften.
Schlimmer noch: Bis heute unterlässt
es die Bank, ernsthaft personelle Konse-
quenzen zu ziehen. Ein leitender Mitar-
beiter, der 2005 mutmaßliche Schmier-
geldzahlungen leistete, um der Bank den
Einstieg bei der chinesischen Bank Hua-
xia zu organisieren, arbeitet noch an füh-
render Position, obwohl die Deutsche
Bank sein Fehlverhalten im Detail kennt.
Und nicht nur das, er war bis unlängst
weltweiterVerwaltungsleiterfürCompli-
ance, also die Einhaltung der Regeln und
die Bekämpfung von Finanzkriminalität.
Das ist schwer verdaulich.

Damit sendet die Deutsche Bank bis
heute–auchunterVorstandschefChristi-
an Sewing – das Signal an ihre Beleg-
schaftaus,dasssichzweifelhaftesVerhal-
ten lohnen könnte. Auch jenseits des Chi-
na-Falls gibt es dort Dutzende Manager,
die trotz Fehlverhaltens oder Missma-
nagements weiterhin Karriere machen
konnten. Bei vielen redlichen Mitarbei-
tern wiederum wirft dies immer wieder
die Frage auf: Welches Geheimwissen
über die Führungsriege hat er oder sie im
Giftschrank, dass er oder sie immer noch
für unser Haus arbeiten darf?
Der China-Fall zeigt zudem einmal
mehr, dass die Selbstheilungskräfte von
Konzernennichtausreichen,umFehlver-
haltenkonsequentaufzudecken. Einehr-
licherUmgangmitsichselbstsiehtdefini-
tivandersaus.Und weildieBankdazuof-
fenkundig nicht in der Lage oder willens
war, müssen staatliche Institutionen wie
dieFinanzaufsichtoderdieStaatsanwalt-
schaft harte Strafen aussprechen.

von hubert wetzel

V


ielleicht sollte Donald Trump ein-
mal nach Greeley, Colorado, reisen.
Er könnte dort etwas lernen. In der
Kleinstadt steht in einem hübschen Park
ein Denkmal für die Soldaten, die in Ame-
rikas Kriegen gefallen sind. Die meisten
sind sehr weit weg von zu Hause gestor-
ben – in den Argonnen oder im Hürtgen-
wald, auf Iwojima, in Korea und Vietnam,
in Afghanistan und im Irak. Man könnte
es so sagen: Das Denkmal zeigt, in Bronze
gegossen und Granit gemeißelt, was der
Preis dafür ist, eine Weltmacht zu sein. Es
warnt vor Hybris, aber es erinnert auch an
die globale Verantwortung, die Amerika
trägt; genauer: getragen hat.
Trump gefällt die Vorstellung, dass die
Vereinigten Staaten eine Weltmacht sind.
Der Präsident redet gerne davon, wie
starkdieWirtschaftderUSAist,wieunbe-
zwingbar ihr Militär und wie groß der Re-
spekt, den angeblich die ganze Welt vor
ihm und Amerika hat. Aber eigentlich ist
Trump nicht bereit, den politischen oder
militärischen Preis für Amerikas Status
alsWeltmachtzubezahlen.ErpflegtAme-
rikas alte Bündnisse nicht, weder in Euro-
pa noch in Asien, und er schmiedet auch
keine neuen. Er jammert darüber, dass al-
le die USA immer nur ausnutzen. Er will
Amerika raushalten aus fernen, fremden
Streitigkeiten, den „dummen, endlosen
Kriegen“, wie er es nennt. Aber dann ist er
wütend, wenn andere Mächte sich einmi-
schen und das Vakuum füllen, das bleibt,
wenn der Weltpolizist geht.
Diese Kluft zwischen Anspruch und
WirklichkeitisteinerderzentralenWider-
sprüche in Trumps Außenpolitik. Und er
wurde kaum jemals so offensichtlich wie
jetzt an der syrisch-türkischen Grenze.
Trumps Bedürfnis, ein paar Dutzend US-
Soldaten heimzuholen, hat dort zu einem
veritablen Desaster geführt. Aus einer
Laune heraus hat der Präsident Amerikas

Ruf als treuer Verbündeter zerstört. Er hat
gleich vier US-Widersachern ein strategi-
sches Geschenk gemacht: dem syrischen
Giftgasmörder Baschar al-Assad, dessen
Schutzmächten Russland und Iran sowie
der Terrororganisation Islamischer Staat.
UnderhatdieNatoineineextremgefährli-
cheLagegebracht:TürkischeSoldatenha-
ben auf amerikanische GIs geschossen,
die Gefahr, dass russische Truppen in Ge-
fechte verwickelt werden, ist real.

DassTrumpnuneinigeschwacheSank-
tionen gegen die Türkei verhängt hat, ist
nur Kosmetik. Der Präsident ist gekränkt,
weilAnkaraseineWarnungenvordemAn-
griff auf die syrischen Kurden ignoriert
hat. Doch warum hätte die Türkei den
Schwätzer in Washington ernst nehmen
sollen? Und Trump weiß, dass der Kon-
gress,dereinenklarerenBlickaufdasgan-
zeDramahat, im Ernstfallauch gegensei-
nen Willen Strafmaßnahmen beschließen
wird.AlsobeugteereinerabsehbarenNie-
derlage lieber vor.
Wie Trump tatsächlich über das Chaos
denkt, das er angerichtet hat, kann man
wie immer sehr klar in seinen Tweets
nachlesen: Es kümmert ihn nicht, weil ihn
die Welt nichtkümmert, geschweigedenn
das Schicksal von ein paar Kurden, die,
wie er fachmännisch festgestellt hat, den
Amerikanern damals in der Normandie ja
auch nicht geholfen haben. „Mir ist egal,
wer Syrien hilft, die Kurden zu beschüt-
zen,obRussland,ChinaoderNapoleonBo-
naparte“, twitterte Trump am Montag.
„Hoffentlich machen sie es gut, wir sind
7000Meilenweitweg!“IndiesenzweiSät-
zen steckt die gesamte strategische Dok-
trin des Präsidenten der (ehemaligen)
Weltmacht USA.

D


ie Jugend zeigt sich politischer als
früher – eine Entwicklung, die seit
Längerem anhält. Die „Fridays for
Future“-BewegunghatdemTrendnochei-
nen Schub gegeben. „Selbstwirksamkeit“
nennen das die Experten. Die Jungen ha-
ben gelernt, dass sie etwas bewirken kön-
nen, und machen weiter.
Doch es gibt daneben auch jene, die
frustriert sind, auch weil ihnen die Mög-
lichkeiten fehlen, sich in Gesellschaft und
Politik einzubringen. Sie sind für populis-
tisches Gedankengut nach dem Motto
„Die da oben machen eh, was sie wollen“
unter Umständen leichter empfänglich,
als viele denken. Auch das zeigt die nun
vorgestellte Shell-Jugendstudie.

Daher ist es wichtig, Jugendliche nicht
alsunpolitischzubelächeln,wennsieSka-
terbahnen oder Graffitimauern fordern.
JugendgehtohneVorbehalteundmitgro-
ßerKreativitätanDingeheran.IhreBereit-
schaft, sich für ihre Belange einzusetzen,
war schon immer groß, und sie richtet
sich eben bei vielen auf die Freizeit. Ihren
Elan zu kanalisieren und zu erhalten, tut
der Gesellschaft gut. Eine Senkung des
Wahlalters auf 16 Jahre würde motivie-
rendwirken.MehrJugendstadträte könn-
ten ebenfalls helfen. Aber wie erreicht
man die, die sich nicht rühren? Durch Bil-
dung, Bildung, Bildung. Und notfalls auch
mit einer App. Denn Handys haben sie
alle. edeltraud rattenhuber

E


s ist viel Zeit vergangen seit dem
großen Versprechen. Und es hat zu
viele Opfer gegeben. Als die Morde
der rechtsextremen Terrorzelle NSU im
Herbst 2011 bekannt wurden, versprach
dieBundesregierung,alleVerbrechenauf-
zuklären. Und sie sagte zu, alles zu unter-
nehmen, um solche Taten für die Zukunft
zu verhindern. Acht Jahre später ist klar,
dass dieses Versprechen nicht eingehal-
ten werden konnte. Zuletzt hat die Tat in
Halle gezeigt, dass die Gefahr durch
gewaltbereiteRechtsextremistennichtge-
bannt, sondern größer geworden ist.
Umso wichtiger ist es, dass die Sicher-
heitsbehördenendlichdenEindruckerwe-
cken, sie hätten das verstanden. Die Deut-

lichkeit, mit der Verfassungsschutzpräsi-
dentThomasHaldenwangundBKA-Präsi-
dentHolgerMünchjetztüberrechtsextre-
me Gefährder und die Bedrohung der De-
mokratie sprechen, wäre viel früher nötig
gewesen. Gleichwohl kann man hoffen,
dass ihre Behörden diese Szene endlich
umfassend in den Blick nehmen.
Dabei ist die Benennung von mehr als
40 Gefährdern nicht nur ein Wort. Sie
nimmtdenStaatindiePflicht, diesePerso-
nen nicht mehr aus den Augen zu lassen.
Allerdings ist das nur ein Anfang. Die
Struktur vieler Täter wird die Behörden
zwingen,auchnachpotenziellenEinzeltä-
tern zu suchen. Das ist noch schwerer und
zugleich unverzichtbar. stefan braun

W


enn die Kabinette diesen
Mittwoch in Toulouse zu
den deutsch-französi-
schen Regierungskonsul-
tationen aufmarschieren,
kann das nicht darüber hinwegtäuschen,
dass die Staatenbeziehung von Proble-
men geplagt ist. Der neue Élysée-Vertrag,
unterzeichnetimJanuar,hatunterschied-
liche Erwartungen geweckt, die bisher
nichterfülltwurden.UndweilAngelaMer-
kelundEmmanuelMacronalsUnterzeich-
ner immer stärker ihre unterschiedlichen
Charaktere zeigen, entwickelten sich die
vergangenen Monate so enttäuschend.
Macron hat – in seiner Wahrnehmung


  • seit der programmatischen Europarede
    vom September 2017 an der Sorbonne ei-
    nen Tiefschlag erlebt. Die Ablehnung der
    französischen EU-Kommissionskandida-
    tin Sylvie Goulard, betrieben auch von
    deutschen Europaabgeordneten, sieht er
    als frustrierenden Höhepunkt einer deut-
    schen Lähmungskampagne an.


Merkel nimmt hingegen nur noch ei-
nen sprunghaften, aktionistischen Präsi-
denten wahr, der Grundsatzreden in im-
mer kürzerer Frequenz, aber dafür wach-
sender Länge hält. Einen Höhepunkt
muss Macron demnach auf der Botschaf-
terkonferenz seines Landes Ende August
geliefert haben, als er in knapp zwei Stun-
den das Bild von Frankreich als Balance-
Macht in der Welt entwarf. Was er darun-
ter versteht, hatte er im Spiel mit Russ-
lands Präsidenten und mit Iran gezeigt.
Die Iran-Krise wollte er mit einem 15-Mil-
liarden-Kredit für Teheran entschärfen,
ehe ihm offenbar klar wurde, dass es da-
fürkeineSicherheiten undVerfahrenswe-
ge gab. Der Plan starb schnell wieder.
Wladimir Putin stellte er die G-7-Mit-
gliedschaft in Aussicht und später eine
neue Sicherheitsarchitektur in Europa –
getragen von dem Gedanken, dass man
Russland nicht „an China“ verlieren dür-
fe. Das Argument teilt Merkel zwar, aber
niemals würde sie in große Gesten verfal-
len, ohne das Kleingedruckte zu kennen:
Wie, bitteschön, steht es dann um die Ost-
ukraineoderdieKrim?Wobitteistderers-
te Schritt Putins in Richtung Befriedung?
Der von Macron versprochene Ukraine-
GipfelderNormandie-Gruppekamjeden-
falls nicht zustande.
Macron sagt, er glaube nur an eine Sa-
che: „eine Strategie der Kühnheit und der
Risikobereitschaft“. Merkel würden sol-
che Sätze kaum über die Lippen kommen,
geschweige denn würde sie danach han-

deln, weil sie vor allem die Kleinteiligkeit
und Mühsal der Außenpolitik sieht.
Macrons außenpolitische Vision
nimmtimmer mehrgaullistische Zügean.
Die Schaukelpolitik des Generals hat die
alte Bundesrepublik umso stärker an die
Seite der USA und Großbritanniens ge-
drückt.Dasistgut50Jahreher.Heutever-
schiebensichdieWeltgewichteinatembe-
raubendem Tempo, was den Nachfahren
de Gaulles offensichtlich zu neuen Kühn-
heiten anstachelt. Diese Verwegenheit ist
der deutschen Außenpolitik nicht gege-
ben, zumal sie aus der Erfahrung lebt,
dass Europa in Schieflage gerät, wenn der
Riese in der Mitte sein Gewicht verlagert.
So haben sich in Deutschland und
Frankreich unterschiedliche Strategien
herausgebildet, wie umzugehen ist mit
dieser neuen Welt. Macron sagt, Frank-
reich habe Verbündete, folge aber nur sei-
ner eigenen Linie. Merkel sagt, Deutsch-
land habe Verbündete und stimme seine
Linie mit ihnen ab. Das ist der Unter-
schied, der im Rest der EU zu Verwirrung
führt.Werhatrecht?Wemfolgen?Als Ma-
cron Russland umgarnte, waren in Berlin
die irritierten Anrufer aus dem Baltikum
in der Leitung. Als Macron eine eigene
Westbalkan-Initiative ankündigte, fragte
man sich in Brüssel, warum er seine Ener-
gie nicht in die EU-Maschinerie steckt.
Macrons Stil ist typisch für diese Zeit,
in der Männer am Gaspedal die großen
Maschinen aufheulen lassen, ohne sich
um den Motor zu scheren. Alles oder
nichts: Das ist Donald Trumps Idee vom
Weltgetriebe, heute vor, morgen zurück,
ein großer Gipfel, jede Menge Druck, und
am Ende löst sich das Problem – oder
auch nicht. Wer Macron studiert, sieht die
Verachtung für die Plumpheit Trumps,
aber gleichzeitig die Bewunderung für die
große Geste. Merkel ist beides fremd, ihr
politischer Stil kennt vor allem die Lang-
strecke und den Wunsch nach Stabilität.
Die Kollision von Inhalten, Stil und In-
teressenistnichtsNeuesimdeutsch-fran-
zösischen Verhältnis. Damit kann man le-
ben und arbeiten, solange beide Seiten
pfleglich miteinander umgehen. In den
vergangenenMonatenaberwardieFassa-
de nur noch schwerlich aufrecht zu erhal-
ten. Zu offensichtlich war der Missmut.
Mag sein, dass Macron seinen Moment
als Großstratege erst noch kommen sieht,
weil er für die Zeit nach Merkels Abschied
aus der Politik ein Führungsvakuum er-
wartet. Mag sein, dass Macron auch bei
den Deutschen einen Wunsch nach mehr
audace, nach mehr Kühnheit erwartet.
Aber wie lassen sich seine große Worte
auch in große Taten verwandeln, ohne die
RegelnzuverletzenunddiePartnerzuver-
prellen? Macron hat darauf noch keine
Antwort geliefert.

Heringe, genauer gesagt He-
ringsfische (Clupeidae), sind
eine Familie im Tierreich, zu
der auch Sardinen, Sprotten
undSardellengehören. Doch
meist ist eine ganz bestimmte Art ge-
meint,wennvomHeringdieRedeist:Clu-
pea harengus, der Atlantische Hering.
Die Tiere kommen im ganzen Nordatlan-
tik vor, außerdem in der Nord- und Ost-
see. Insgesamt ist die Art nicht bedroht,
dochden Heringen in der westlichen Ost-
see geht es derart schlecht, dass die EU
die erlaubte Fangmenge gerade um
65Prozentgesenkthat.Heringesindsilb-
rig glänzende Fische, die im Schnitt 20
bis 25 Zentimeter lang werden. Sie leben
im offenen Meer, wo sie riesige Schwär-
mebilden.IndiesenSchulenistjedesein-
zelne Tier besser vor seinen Feinden,
etwaDelfinen,SeehundenundMeeresvö-
geln geschützt. Die Heringe selbst ernäh-
rensichhauptsächlich vonkleinenRuder-
fußkrebsen. Die in der Ostsee lebenden
Tiere überwintern im Öresund und wan-
dernzumLaicheninflacheKüstengewäs-
ser, etwa in den Greifswalder Bodden.
Dass ihre Zahl extrem zurückgegangen
ist, hängt nicht nur mit der Fischerei zu-
sammen,sondernauchmitderKlimakri-
se: Unter anderem bewirkt die Erwär-
mung des Wassers, dass sich die Eier
schneller entwickeln. Deshalb schlüpfen
die Heringslarven zu früh, finden noch
nichts zu fressen und verhungern. tiba

(^4) MEINUNG Mittwoch, 16. Oktober 2019, Nr. 239 DEFGH
MIETEN


Musterhaft


FOTO: DPA

DEUTSCHE BANK

Papa sei Dank


USA

Weltpolizist a.D.


JUGEND

Elan statt Tran


RECHTSEXTREMISMUS

Endlich im Blick


Widerstand formiert sich sz-zeichnung: pepsch gottscheber

DEUTSCHLAND UND FRANKREICH


Duett der Gegensätze


von stefan kornelius


AKTUELLES LEXIKON


Hering


PROFIL


Saša


Stanišić


Buchpreisträger,
der seiner Wut
Luft macht

Das Unternehmen reagiert
auch in der China-Affäre
unzureichend auf Fehlverhalten

Trumps strategische Doktrin
ist mit wenigen Worten gesagt:
Wir sind 7000 Meilen weit weg!

Inhalte, Stil, Interessen – warum
Merkel und Macron
so schlecht zusammenpassen

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