Süddeutsche Zeitung - 16.10.2019

(lily) #1
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Berlin – Die Bundesregierung hat sich
skeptisch zu den Chancen auf eine Brexit-
Lösung noch vor Beginn des EU-Gipfels
am Donnerstag geäußert. Es sei „unbe-
streitbar“, dass es in den Verhandlungen
zwischen der Europäischen Union und
Großbritannien Fortschritte gegeben ha-
be, hieß es am Dienstag aus Regierungs-
kreisen in Berlin. Ob die Zeit aber für die
FormulierungeinerrechtsfestenVereinba-
rung reiche, sehe man mit Skepsis. „Die
politische Bereitschaft ist das eine, die
konkreten Regelungen, wie man die
Quadratur des Kreises hinbekommt, sind
das andere. Dort sind die Fortschritte noch
nicht so, dass man sagt, man hätte jetzt
eine Lösung.“
Großbritannien willbis zum31. Oktober
die EU verlassen. Derzeit wird darüber
verhandelt, wieman einengeregeltenAus-
tritt hinbekommt. An diesem Mittwoch
will der EU-Unterhändler Michel Barnier
den Mitgliedstaaten die Ergebnisse dieser
Verhandlungen präsentieren. Falls bis
dann keine fertige Vereinbarung steht,
wird es darum gehen, ob nach dem Gipfel
biszum 31. Oktober weiterverhandelt wird
oder der Austritttermin sogar ein weiteres
Mal verschoben wird. Möglich ist damit
auch, dass es vor Ende Oktober einen EU-
Sondergipfel zum Brexit gibt. „Wenn das
erforderlich ist, wird man das machen“,
hieß es in den Regierungskreisen.
Michel Barnier bekräftigte, „noch diese
Woche“ könne ein Brexit-Abkommen ge-
funden werden. Allerdings sei es dafür
aufseiten Großbritanniens „höchste Zeit,
gute Absichten in einen Rechtstext zu
verwandeln“. Dass die Zeit knapp wird, ist
auch in London Konsens: „So schnell wie
möglich“ will Großbritannien daher ein
Brexit-Abkommen festmachen, wie die
britische Regierung mitteilte. „Wir arbei-
ten hart. Dem Premierminister sind die
Zeitvorgaben, unter denen wir stehen,
bewusst“, sagte der Sprecher von Boris
Johnson, James Slack, am Dienstag. Die
EU-Staats- und Regierungschefs planen
den Brexit als Topthema auf ihrem bevor-
stehenden Treffen. Im Mittelpunkt der
Diskussion steht der Erhalt einer offenen
Grenze zwischen dem EU-Mitglied Irland
unddemzumVereinigtenKönigreichgehö-
renden Nordirland.sz

Brüssel – Die Europaminister haben sich
bei ihrem Treffen in Luxemburg noch
nicht darauf einigen können, Gespräche
übereinenEU-Beitritt mitNordmazedoni-
en und Albanien aufzunehmen. Der größte
Widerstand gegen diese Entscheidung
kam in der Sitzung, die bei Redaktions-
schluss noch andauerte, aus Paris. Frank-
reich hält die Reformfortschritte in beiden
Ländern für unzureichend und verknüpft
zudemseineZustimmungmiteinergrund-
sätzliche Reform des Beitrittsprozesses.
Für eine Aufnahme ist Einstimmigkeit er-
forderlich. Paris kritisiert unter anderem,
dass der Beitrittsprozess zu technisch sei
und bei problematischen Entwicklungen
nur schwer gestoppt werden könne.
Bei seiner Ankunft in Luxemburg kriti-
sierte Europastaatsminister Michael Roth
Frankreichs Blockade scharf. „Wir sind
sehrenttäuschtdarüber,dasswirnichtdas
einzuhalteninderLagesind,waswirmehr-
fach versprochen haben“, sagte der SPD-
Politiker und spielte darauf an, dass die
Staats-undRegierungschefsbeimEU-Gip-
felimJunibereitseineentsprechendeEnt-
scheidung für Oktober angekündigt hat-
ten. Die Kommission hatte im Mai, kurz
nach der Europawahl, Albanien und Nord-
mazedonien bestätigt, die geforderten
Fortschritte gemacht zu haben. Sollte es
derEUnichtgelingen,diePräsenzimwest-
lichen Balkan zu erhöhen, droht aus Sicht
Roths und vieler Experten dort ein politi-
schesVakuum,dasvonStaatengefülltwer-
den könnte, die mit Demokratie und
Rechtsstaat „wenig im Schilde“ führen
würden. Damit dürfte Roth China, Russ-
landund die Türkei meinen,diein dergeo-
strategisch wichtigen Region aktiv sind.
Es wird nun erwartet, dass das Thema
Erweiterung von Bundeskanzlerin Angela
Merkelbeimdeutsch-französischenMinis-
terratinToulouseamMittwochebensoan-
gesprochen wird wie beim EU-Gipfel am
Donnerstag und Freitag. Hier dürften viele
Macrons Haltung kritisieren und ihn bit-
ten, grünes Licht zu geben. Anfang Okto-
ber hatten die Präsidenten des Europapar-
laments, des Europäischen Rats und der
EU-KommissionineinemBrieffürdieAuf-
nahme von Beitrittsgesprächen plädiert
und dies auch damit begründet, dass die

EU zeigen müsse, dass sie „ihre Verspre-
chen“halte.AuchdiedesignierteEU-Kom-
missionspräsidentinUrsulavonderLeyen,
die ebenfalls am Gipfel teilnimmt, hat den
AppellunterschriebenunddenWunschge-
äußert, „die Westbalkanstaaten so eng wie
möglich an die EU“ zu binden.
Unterstützung für die Blockadehaltung
gegenüber Albanien erhält Frankreich von
DänemarkunddenNiederlanden;dasdor-
tigeParlamentlehntdieAufnahmevonBei-
trittsgesprächen mit Tirana bisher explizit
ab.FürdieIdee,Albanienvomreformfreu-
digeren Nordmazedonien zu trennen, fin-
det sich auch keine Mehrheit.

In Berliner Regierungskreisen verweist
man darauf, dass der Bundestag bei sei-
nem „Okay“ im September einen guten
Weggefunden habe. DieAbgeordnetenga-
ben das politisch wichtige Signal, machten
im Falle Albaniens deutlich, welche weite-
ren Auflagen zu erfüllen sind. Macrons Po-
sition, die in Brüssel mit wahltaktischen
GründenundausSorgevoreinerAuseinan-
dersetzung mit Marine Le Pen erklärt
wird, stößt in Berlin auf Unverständnis:
„Um eine Aufnahme dieser Länder wird es
doch ohnehin erst in vielen, vielen Jahren
gehen.“ Man sei bereit, mit Paris eine Re-
form des Verfahrens voranzutreiben, doch
zuvor sei das politische Signal nötig.
Kritik an Frankreichs Veto kommt auch
aus dem Europaparlament. „Die Justizre-
form der albanischen Regierung zeigt,
dass Reformen möglich sind, wenn die EU
eine Führungsrolle übernimmt. Die Augen
vor den unternommenen Anstrengungen
zuverschließen,befeuertnurdieFrustrati-
on der Menschen in Albanien gegenüber
der EU“, sagt die grüne Außenpolitikerin
Viola von Cramon. matthias kolb

von antonie rietzschel

Osthausen – Anja Siegesmund kämpft
gegen eine Wurzel. Sie hüpft auf einem
Spaten herum, der halb im Boden steckt,
hältsich amStielfest,fälltnachhinten um.
Die weißen Sohlen ihrer Sneaker sind
schwarz vom Matsch. Ein Forstarbeiter in
Latzhose schaut zu. Er hätte den Spaten
mit wenigen Hieben in den Boden ge-
rammt,verkneiftsichaber jedenKommen-
tar. Dann knackt es endlich.
Anja Siegesmund ist Umweltministerin
in Thüringen. Gemeinsam mit Minister-
präsident Bodo Ramelow und weiteren
Kabinettskollegen ist sie in einen Wald in
Osthausen gefahren, südlich von Erfurt.
Früher galt die Gegend als Fichtenhoch-
leistungsstandort. Dürre und Borkenkäfer
haben davon kaum etwas übrig gelassen.
Davon zeugen die grauen Baumstümpfe,
an deren Wurzelwerk sich die Politiker
schwitzend abarbeiten. Sie graben Löcher,
setzen kleine Bäumchen hinein. Vogelkir-
sche, Eiche, Douglasie. Es ist der Auftakt
der Aktion „Thüringen pflanzt“, bei der die
einfache Bevölkerung aufgerufen ist, beim
Aufforsten zu helfen.

40000 Hektar Wald sind in Thüringen
bedroht. Im August hat die rot-rot-grüne
Landesregierung einen Aktionsplan bis
2030 beschlossen und 500 Millionen Euro
für Aufforstung, Technik und zusätzliches
Personal in den Forstrevieren bereitge-
stellt. Das grüne Herz Thüringens ist in
Gefahr, und am Geld soll es nicht schei-
tern, so die Botschaft, mit der SPD, Grüne
und Linke derzeit hausieren gehen. Am


  1. Oktober ist in Thüringen Landtags-
    wahl. Der Wald ist Thema Nummer eins.
    Doch der Kampf um den Wald ist nicht
    nureineSachedesGeldes.Es isteinKampf
    mit einer unberechenbar gewordenen Na-
    tur. Sein Revier sei da das „Epizentrum“,
    sagt Elger Kohlstedt. Der 58-Jährige ist
    Forstamtsleiter in Leinefelde im Nordwes-
    ten Thüringens. In seinen 16000 Hektar
    Wald habe die Katastrophe früher begon-
    nen als anderswo, erklärt er.
    Kohlstedt lenkt seinen Geländewagen
    über holprige Wege. Weiches Sonnenlicht
    fällt durch die Baumkronen und zaubert
    Herbstromantik. Kohlstedt hält an einer
    struppigen Wiese. Auch hier ragen graue
    Baumstümpfe aus dem Boden. Am Rand
    liegen vertrocknete Äste, zusammenge-
    schoben zu mannshohen Wällen. „Das war
    Friederike“, sagt der Chef des Forstamts.
    Im Januar 2018 zog das Orkantief mit
    Windstärke zwölf über Deutschland hin-
    weg. In Kohlstedts Revier wüteteFriederi-
    kebesondersschlimm,entwurzelte30 Me-
    ter hohe Fichten. 180000 Bäume wurden
    zerstört. Der Forstamtsleiter schätzt, dass
    fast dieselbe Menge Dürre und Borken-
    käfer zum Opfer fielen. In seinem Revier
    stapelt sich Holz, das niemand haben will.
    Früherbekamer für jedenFestmeter Fich-
    te 90 Euro. Jetzt sind es 30 Euro.
    Die Fichte ist längst nicht der einzige
    Problembaum in Kohlstedts Wäldern. Die
    Hitze hat in diesem Sommer auch der
    Buche zugesetzt. Im Leinefelder Forst
    macht sie zwei Drittel des Baumbestands
    aus. Es dauert nicht lange, bis Kohlstedt
    das erste silbrig-schimmernde Buchen-


skelett erspäht. Der mächtige Stamm ist
hohl, die Rinde bröselig. Er läuft weiter,
den Blick auf die Baumkronen gerichtet,
zeigt auf kahle Äste: „Die ist tot“, sagt er,
und: „Die auch.“ An einer Buche hängen
noch ein paar grüne Blätter an den Zwei-
gen.„Diewirdnächstes Jahr nochmalaus-
treiben – aber eher als lebenserhaltende
Maßnahme.“ Der Forstamtsmeister klingt
hoffend und traurig zugleich.
Er kennt diese Wälder seit der Kindheit.
Sein Vater arbeitete hier als Revierförster.
Kohlstedt ging mit ihm auf die Jagd, pfleg-
te junge Bäume. Nach dem Abitur studier-
te er Forstwirtschaft. Er war jahrelang
stellvertretender Forstamtsleiter in Leine-
felde, bevor er 2000 den Chefposten über-
nahm. Wenn Kohlstedt in den Urlaub
fährt, dann am liebsten nach Skandinavi-
en, in den Wald. Seine Faszination kann er
nur schwer mit eigenen Worten beschrei-
ben. Also probiert er es mit einem Gedicht:
„Er bringt uns immer wieder auf die Beine,
das Seelische ins Gleichgewicht, verhin-

dert Fettansatz und Gallensteine. Nur –
Hausbesuche macht er leider nicht.“ Der
Wald war für Kohlstedt Therapeut und
Arzt. Seit das OrkantiefFriederikewütete,
kämpft nun er, damit der Wald überlebt.

Kohlstedt sieht darin aber auch eine
Chance, die Architektur der Wälder zu ver-
ändern, sie mithilfe bestimmter Baumsor-
ten besser zu wappnen gegen Stürme und
Dürreperioden. So sieht es auch Thürin-
gensLandesregierung.SiehatdasZielaus-
gegeben, jedes Jahr 20 Millionen Bäume
neu pflanzen zu lassen. Unrealistisch,
findetKohlstedt. DafürbrauchtesArbeits-
kräfteundvielPlatzfürdiePflegederSetz-
linge, doch nach der Wende wurden viele
Mitarbeiter in der Forstwirtschaft entlas-
sen, staatliche Baumschulen geschlossen.

Die Förster kaufen ihre Pflanzen nun vor
allem bei privaten Anbietern.
In Kohlstedts Revier steht die einzige
noch staatliche Forstbaumschule in ganz
Thüringen. Hier, nahe Breitenworbis,
wächst der Baum der Stunde: die Eiche.
Ihre Wurzeln reichen tief in die Erde. Bei
anhaltender Trockenheit bekommt sie
noch Wasser. Direkte Sonneneinstrahlung
macht ihr nichts aus. Im Herbst 2018
wurden in ganz Thüringen zwei Tonnen
Eicheln gesammelt und in Breitenworbis
ausgesät. Kohlstedt hockt neben den zar-
ten Pflanzen. In einem Jahr, so sein Plan,
sollen die Bäume in Forstrevieren in ganz
Thüringeneingepflanzt werden.ZweiMilli-
onen Stück. Was, wenn bis dahin ein
weiteres Orkantief in den Wäldern wütet,
die Hitze noch die letzten Buchen abster-
ben lässt? Darüber wolle er gerade nicht
nachdenken. „Ich bin Optimist“, sagt er
und streicht über die Blätter der Eichen.
Sie sind fest und saftig grün. Sie sind seine
Hoffnung.

Berlin – Die SPD-geführten Ministerien
drückenbeiderUmsetzungdes großenKli-
mapakets aufs Tempo. Das Bundesum-
welt- und das Bundesfinanzministerium
haben bereits weitere Vorhaben aus dem
Paket in Gesetzestexte gegossen, die das
Bundeskabinett an diesem Mittwoch be-
schließen soll. Darunter sind steuerliche
MaßnahmenwiedieErhöhungderLuftver-
kehrsteuer oder die Mobilitätsprämie für
Geringverdiener sowie ein Eckpunktepa-
pierzumgeplantenHandelmitEmissions-
rechten im Verkehr, für Gebäude und klei-
nere Industriebetriebe.
Aus beiden Ministerien verlautete am
Dienstag, Eile sei geboten, um die verein-
barten Termine halten zu können. Einige
der steuerlichen Maßnahmen, mit denen
derUmstiegineinklimafreundlicheresLe-
ben und Arbeiten befördert werden soll,
sollen zum 1. Januar 2020 greifen. Zudem
seies„nichttrivial“,denHandelmitEmissi-
onsrechten für die zusätzlichen Branchen
so zu planen, dass er im Januar 2021 star-
ten könne.
Vor allem aber haben die Ministerien
den 6. Dezember im Blick. Niemand kann
voraussagen, ob die große Koalition durch
den Winter kommen wird. Am 6. Dezem-
ber beginnt ein SPD-Parteitag, auf dem ei-
ne neue Parteispitze gewählt und über den
VerbleibinderRegierungentschiedenwer-
den soll. Entscheidet sich die SPD gegen
die Koalition, würden alle noch nicht be-
schlossenen Klimagesetze im parlamenta-
rischen Prozess stecken bleiben; darunter
auch die mühevoll beschlossene CO2-Be-
preisung. Es wäre offen, ob sich eine neue
Regierungskoalition, etwa Jamaika, wie
die große Koalition erneut dafür entschei-
den würde. Die Grünen dürften sich dafür
starkmachen; ebenso klar wäre auch, dass
weite Teile von FDP und Union lieber ohne
CO2-Preis weitermachen würden.

LautKalenderstehenbiszum6.Dezem-
ber noch insgesamt fünf Sitzungswochen
zur Verfügung, um alle Gesetze durch den
Bundestag zu bringen. Einiges davon soll
dasBundeskabinettamMittwochbeschlie-
ßen. Ab Januar 2020 soll der ermäßigte
Mehrwertsteuersatz für Bahntickets gel-
ten.DieKoalitionhofft,dassdadurchBahn-
tickets billiger werden; eine Verpflichtung
der Bahn dazu gibt es allerdings nicht. Das
Kabinett wird die Erhöhung der Luftver-
kehrsteuer beschließen; aber auch hier
gilt:EineVerpflichtungderAirlines,diehö-
here Steuer weiterzugeben, besteht nicht.
Biszu250000geringverdienendePend-
lersollenkünftigeineÜberweisungvomFi-
nanzamt bekommen, wenn sie mehr als 20
Kilometer zur Arbeit pendeln und das zu
versteuernde Einkommen unterhalb der
steuerlichenFreigrenze liegt.Siesollenda-
durch mit Pendlern gleichgestellt werden,
die die komplette Pendlerpauschale gel-
tend machen können. Beschlossen werden
soll die steuerliche Förderung der Gebäu-
desanierung sowie die Erlaubnis für Kom-
munen, bei der Ausweisung von Flächen
für Windräder einen höheren Hebesatz bei
der Grundsteuer ansetzen zu dürfen. Das
soll als Anreiz für den Windkraftausbau
dienen. cerstin gammelin

Die Quadratur


des Kreises


München – Bauern, denen man nicht zu-
hört,verschaffen sichGehör.Sogeschahes
am Montagabend in Groningen, Haupt-
stadt der gleichnamigen Provinz im Nor-
denderNiederlande.MiteinemTreckerzo-
genaufgebrachte Landwirte das Portal des
Verwaltungsgebäudes der Provinz aus den
Angeln, drangen ein, und nur mit Mühe
konnten Polizisten sie zurück vor die Tür
prügeln.ÄhnlichgewalttätigeSzenenspiel-
ten sich in sieben anderen niederländi-
schen Provinzen ab. So wird es weiterge-
hen, überall im Land, die ganze Woche: An
diesem Mittwoch marschieren die „boze
boeren“, die wütenden Bauern, wieder
nach Den Haag. Beim ersten Mal, Anfang
Oktober, lösten sie mit Tausenden Trakto-
ren das größte Verkehrschaos in der Ge-
schichte der Niederlande aus.
Bauern protestieren oft und laut, meist
wollen sie mehr Subventionen oder Schutz
gegen Importe. Die neuen Proteste, getra-
gen von der Sympathie der Bevölkerung,
sind anders, sie richten sich gegen angeb-
lichungerechteUmweltauflagen.DieLand-
wirtesehensichalsSündenböckeeinerPo-
litik, die eine intakte Umwelt offensicht-
lich nicht mehr garantieren kann, als
Hauptleidtragende der „Stickstoffkrise“,
die das Land seit Monaten umtreibt und
nun vollends ausgebrochen ist.
Ausgelöst wurde sie, für viele überra-
schend, im Mai durch ein Urteil desRaad
van State, des höchsten Verwaltungsge-
richts.EserklärtedasnationaleProgramm
zur Begrenzung des klimaschädlichen
Stickstoffausstoßes für untauglich, weil es
dieEmissionennichtindemMaßebegren-
ze, wie es das europäische Naturschutzge-
setz vorschreibt. Das Programm besteht
im Kern darin, Lizenzen zu vergeben für
Aktivitäten, die Stickstoff freisetzen: in
derLandwirtschaft,dievielmitDünger ar-
beitet, aber auch beim Wohnungs- oder
Straßenbau. Bei der Lizenzvergabe wur-
den künftige Reduktionen bisher einge-
rechnet. Das sei unzulässig, so das Gericht.
Die Folgen des Urteils wurden erst nach
und nach deutlich. Nicht nur weil 18000
Bauvorhaben im ganzen Land vorläufig
auf Eis gelegt werden mussten. Sondern
wegen der umstrittenen Lösungsvorschlä-
geausderPolitik,dievorallemaufdieBau-

ern zielen. Eine Kommission erklärte, es
müssten „drastische Maßnahmen“ ergrif-
fen werden, um die 118Schutzgebiete „Na-
tura-2000“ des Landes zu erhalten. Dort
gibt es laut einer Studie durchschnittlich
einDrittel zu viel Stickstoff, was Brombee-
ren, Gräser und Brennnesseln gedeihen
lässt auf Kosten gefährdeter Pflanzenar-
ten. Der größte Teil, 46Prozent, der Stick-
stoff-Vorkommen in den Schutzgebieten

stamme nun einmal aus der umliegenden
Landwirtschaft,voralleminFormvonAm-
moniakaus derViehhaltung. Mansolleda-
her in großem Stil Agrarflächen aufkau-
fen.Warumnichteinfachden–vergleichs-
weise sehr hohen – Viehbestand des Lan-
desumdieHälftesenken?,fragteeinPoliti-
ker der linksliberalen Regierungspartei
D66 und löste einen Aufschrei der Bauern
aus. Sie zweifeln die Zahlen der Wissen-
schaftler an und klagen über Heuchelei

und mangelnden Respekt. Man möge sich
bitte auch an die Touristen wenden, die für
ein paar Euro durch Europa flögen, sagen
sie,oderandieAutofahreroderdieumwelt-
verschmutzenden Betriebe. Ohne Bauern
könne ein Land nicht leben.
UmweltministerinCarolaSchoutenver-
suchtedieLandwirtezuberuhigen,siewer-
de ihnen nicht das halbe Vieh konfiszieren.
Stattdessen plant die Regierung, Bauern
überschüssige „Kuhrechte“ wegzuneh-
men, so dass sie den Bestand zumindest
nicht ausweiten können. Umgesetzt wer-
den muss diese Politik seit einiger Zeit
aber auf regionaler Ebene, wo inzwischen
Chaosherrscht.DiezwölfProvinzregierun-
genhattensichursprünglichaufeinenhär-
teren Kurs verständigt als Schouten, doch
Friesland, Drenthe, Overijssel und Gelder-
landsind unterdemDruckderProtesteein-
gebrochen und haben die vorgesehenen
Einschnitte vorerst ausgesetzt. Sie wollen
sichmitdenLandwirtenaneinenTischset-
zen. Für deren Sorgen äußerte Ministerin
Schouten am Montag „volles Verständnis“.
Die Aktion in Groningen sei allerdings „in-
akzeptabel“. thomas kirchner

Pariser Bremsmanöver


Macron blockiert EU-Beitrittsgespräche mit Tirana und Skopje


Wahlkampf im Wald


Die hohen Fichten fällt der Sturm, und auch den Buchen geht es schlecht.
Thüringens Landesregierung will nun die Bäume retten – und Stimmen gewinnen

SPD drängt zur Eile


bei Klimagesetzen


EU-Partner kritisie-
ren ihn, weil sie es
riskant finden, mit
Albanien und Nord-
mazedonien nicht
zumindest über den
EU-Beitritt zu reden:
Frankreichs Präsi-
dent Emmanuel Ma-
cron FOTO: AP

Stuttgart – Es gäbe durchaus Anlass für
Kritik an den Initiatoren des Volksbegeh-
rensfürmehrArtenschutzinBaden-Würt-
temberg: Sie nennen ihren Vorstoß „Rettet
die Bienen“ und beziehen sich ausdrück-
lich auf das erfolgreiche Vorbild in Bayern,
wo Anfang des Jahres mehr als 1,7 Millio-
nen Bürger für mehr Artenschutz unter-
schrieben haben. Doch unter diesem Eti-
kett verkaufen sie einen anderen Inhalt.
EingravierenderUnterschiedistdasvonih-
nen geforderte weitgehende Pestizidver-
bot in Schutzgebieten, das viele Landwirte
als höchstproblematisch ansehen und das
ohneÜbergangsfrist inKraft tretenwürde,
wenn sich der Gesetzentwurf der Bienen-
freundedurchsetzte.SeitdreiWochenwer-
den dafür Unterschriften gesammelt.
Ministerpräsident Winfried Kretsch-
mann (Grüne) hadert schon seit Monaten
mit dem Volksbegehren, versucht aber al-
les, um einen Konflikt mit den Initiatoren
zuvermeiden. Gerne hätte man es in Stutt-
gart so gemacht wie die Münchner Kolle-
gen:DenGesetzentwurfimLandtag anneh-
men und gleichzeitig durch ein Begleitge-
setzeinpaarKleinigkeitenändernundHär-
ten abmildern. Im Falle des umstrittenen
Pestizidverbots, das haben Kretschmanns
Minister nach längerem Nachdenken fest-
gestellt, geht das aber nicht. Die Regierung
müsste sich deshalb, will sie das Pestizid-
verbot verhindern, gegen das Volksbegeh-
ren stellen. Sie könnte den Bürgern emp-
fehlen, in einem Volksentscheid gegen
„Rettet die Bienen“ zu stimmen, oder mit
einem Gegenentwurf antreten – so wie es
die bayerische Landesregierung Anfang
der Neunzigerjahre beim Volksbegehren
„Das bessere Müllkonzept“ getan hat.
DochKretschmannhättegerneeineein-
vernehmliche Lösung, was zum einen dar-
an liegen dürfte, dass der Artenschutz ein
urgrünes Thema ist und auch in manchem
Kreisverband fleißig Unterschriften ge-
sammelt werden. Zum anderen ist das Bie-
nenbegehren das erste Volksbegehren, das
überhauptinBaden-Württemberg stattfin-
det: Die Grünen hatten die Hürden für die
Volksgesetzgebung selbst gesenkt, als sie
an die Regierung kamen.
DeshalbsuchtdieLandesregierungwei-
ter nach einem Kompromiss. Am Dienstag
hatsichdasgrün-schwarzeKabinettaufei-
nen Gesetzentwurf verständigt, der in we-
sentlichen Teilen dem Inhalt des Volksbe-
gehrens entsprechen soll, aber Abstriche
beim Pestizidverbot macht. Kretschmann
hättedasgerneerstdenInitiatorendesBe-
gehrensunddannderÖffentlichkeitmitge-
teilt, was aber nicht gelang, weil jemand
ausdem Kabinett plauderte. Kretschmann
willdieVerantwortlichenhinterdemVolks-
begehrenoffenbardafürgewinnen,denge-
änderten Gesetzentwurf zu unterstützen,
wasinderKonsequenzwohlbedeutenwür-
de, dass „Pro Biene“ die Unterschriften-
sammlung beenden würde. Bei der wö-
chentlichen Regierungspressekonferenz
am Dienstagmittag wollte er dazu nichts
Näheres verraten. Initiatoren und Unter-
stützer waren für den späten Dienstag-
nachmittag zum Gespräch verabredet. Bei
Redaktionsschluss dieser Ausgabe war
nochnichtbekannt,obesdabeizueinerEi-
nigung kam. claudia henzler

(^6) POLITIK Mittwoch, 16. Oktober 2019, Nr. 239 DEFGH
Bauern in Wut
In den Niederlanden treibt eine „Stickstoffkrise“ die Landwirte auf die Straße
Es bräuchte jetzt mehr staatliche
Baumschulen. Doch die wurden
nach 1990 fast alle geschlossen

Wo der Borkenkäfer wütete: Ministerpräsident Bodo Ramelow (Linke) beim politischen Waldspaziergang.MARTIN SCHUTT/DPA
Bis zum SPD-Parteitag bleiben
nur fünf Wochen, um alle Gesetze
durch den Bundestag zu bringen
Man könnte ja, der Umwelt wegen,
den Viehbestand halbieren,
hat ein Politiker vorgeschlagen

Sturm auf die Verwaltung: Niederländische Bauern in Groningen protestieren, weil
sie sich als Sündenböcke der Umweltpolitik fühlen. FOTO: SIESE VEENSTRA/ANP/DPA
Zu grün für
die Grünen

Volksbegehren „Pro Biene“ bringt
die Regierung in Stuttgart in Not
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