Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung - 20.10.2019

(Barré) #1

  1. OKTOBER 2019 NR. 42 R D3499C 4,50 EURO


HERAUSGEGEBEN VON GERALD BRAUNBERGER, WERNER D’INKA, JÜRGEN KAUBE, BERTHOLD KOHLER

Mario Draghi und
die Deutschen.

Eine Einladung
für Hacker.

SPD-ABSTIMMUNG
Über öffentliche
Bücherschränke

Wie Extremisten Jugendliche
im Internet ködern.
Leben

LESEN, LASSEN


NAZIS IM NETZ


Feuilleton


Diese Stadtteile könnten bald
schick und teuer werden.
Wohnen

Geld & Mehr Rhein-Main


EZB-PRÄSIDENT


Alle reden über Handke –


niemand von der Literatur.


Feuilleton


Das britische Unterhaus hat die entschei-
dendeAbstimmung über den neuen Bre-
xit-Deal mit der Europäischen Union ver-
schoben. Damit greift ein Gesetz, das Pre-
mierminister Boris Johnson zwingt, in
Brüssel eine Verlängerung der Austritts-
frist zu beantragen. Johnson sagte nach
der Entscheidung des Parlaments, er wer-
de „keine Verlängerung mit der EU ver-
handeln“ und ihr weiterhin klarmachen,
dass er gegen einen Aufschub des Aus-
tritts sei. Der Termin ist der 31. Oktober.
Zugleich kündigte er an, schon in der
kommenden Woche über den Deal ab-
stimmen zu lassen. Er werde „weiterhin
alles tun, damit wir am 31. Oktober die
EU verlassen“.
Die Abgeordneten entschieden – ge-
gen den Willen der Regierung – mit 322
zu 306 Stimmen, die Abstimmung zu ver-
schieben. Damit folgten sie einem An-
trag des früheren konservativen Abgeord-


neten Oliver Letwin. Die Abstimmung
über das Abkommen mit der EU soll
nun erst stattfinden, nachdem die beglei-
tende Gesetzgebung abgeschlossen ist.
Das sogenannte No-Deal-Verhinderungs-
gesetz, das nun angewandt werden soll,
zielt auf eine Verlängerung der Austritts-
frist bis zum 31. Januar. Letwin begründe-
te seinen Vorstoß mit dem Risiko, dass
das Vereinigte Königreich am 31. Okto-
ber auch dann ohne Deal ausscheiden
könnte, wenn das Parlament den Aus-
trittsvertrag absegnete. Dies wäre der
Fall, wenn das zur Implementierung er-
forderliche „EU Withdrawal Agreement
Bill“ bis zum Ende des Monats keine
Mehrheit erhalten würde. Dann würde
der Austritt nach geltender Rechtslage
ohne Vertrag vollzogen.
Nicht nur von der Regierung, son-
dern auch aus den Reihen der Oppositi-
on wurde der Vorstoß als Versuch inter-

pretiert, den Prozess zu behindern und
ein zweites Referendum auf den Weg zu
bringen. Die Labour-Abgeordnete Caroli-
ne Flint warf Letwin vor, „den Brexit ver-
zögern und stoppen“ zu wollen. Andere
Abgeordnete kritisierten, dass Bürger, die
auf eine klare Entscheidung gehofft hat-
ten, enttäuscht wurden und sich das Kö-
nigreich lächerlich mache vor den euro-
päischen Partnern. Johnson warnte, die
EU sei wie das Königreich „brexitmüde“;
womöglich werde sie eine weitere Verlän-
gerung nicht zulassen. Er erinnerte an
entsprechende Äußerungen von EU-
Kommissionspräsident Jean-Claude Jun-
cker und dem französischen Präsidenten
Emmanuel Macron. Die EU-Kommissi-
on hielt sich zunächst bedeckt und teilte
mit, sie warte auf die „nächsten Schritte“
in London.
Die Anführer der „European Re-
search Group“, in der sich die Erz-Brexi-

teers der Tory-Fraktion organisiert ha-
ben, hatten vor der Entscheidung zu Pro-
tokoll gegeben, dass sie auch den beglei-
tenden Gesetzgebungsprozess unterstüt-
zen würden, weil sie Johnsons Deal ei-
nem ungeregelten Austritt vorzögen.
Aber das überzeugte viele nicht. „Tories
ist nie und niemals zu trauen“, sagte der
Chef der Schottischen Nationalisten im
Unterhaus, Ian Blackford.
Erwartet wird nun, dass das Unter-
haus am Montag über den Brexit-Deal
abstimmt. Bisher war die Regierung we-
gen des nahenden Austrittstags von ei-
nem raschen Implementierungsprozess
ausgegangen. Sollte sich der Austrittster-
min verschieben und der Zeitdruck weg-
fallen, drohen aus Sicht der Regierung
Versuche der Opposition, den Prozess zu
behindern und in die Länge zu ziehen.
Vor der Entscheidung im Unterhaus
hatte Johnson versucht, mit neuen Zuge-

ständnissen für seinen Deal zu werben.
Er sicherte den Abgeordneten der La-
bour Party zu, dass das Niveau der Ar-
beitnehmerrechte und des Umweltschut-
zes durch den Brexit „nicht sinken“ wer-
de. „Niemand in dieser Kammer glaubt
an das Herunterschrauben von Stan-
dards“, sagte er. Zugleich versprach er
den Abgeordneten der nordirischen De-
mocratic Unionist Party, dass das Frei-
handelsabkommen, das er bis Ende 2020
mit der EU aushandeln will, den Sonder-
status Nordirlands „ablösen“ werde.
Ob das neue Austrittsabkommen am
Samstag eine Mehrheit erhalten hätte,
wenn es zur Abstimmung gekommen
wäre, ist ungewiss. Die Vorsitzenden der
Oppositionsparteien, welche die Mehr-
heit im Unterhaus haben, blieben bei ih-
rer ablehnenden Haltung, aber nachdem
bisher Deal-kritische Brexiteers in der
konservativen Fraktion sowie mehrere

Rebellen in der Labour Party Zustim-
mung signalisiert hatten, schien eine
knappe Mehrheit für den Vertrag in
Reichweite. Frühere Versionen des Aus-
trittsabkommens waren Anfang des Jah-
res dreimal im Unterhaus gescheitert.
Nach der Entscheidung rätselte man in
Westminster zunächst, ob Johnson eine
Verlängerung in Brüssel beantragen wür-
de. Am Samstagabend hieß es dann aus
Kreisen der Europäischen Union, John-
son habe in einem Telefonat mit EU-
Ratschef Donald Tusk angekündigt, den
Brexit-Brief an die EU biss Mitternacht
abzusenden. Unklar blieb zunächst aller-
dings, ob Johnson in einem Begleitbrief
seinen Unwillen über die Entscheidung
ausdrücken würde.
Unterdessen demonstrierten am Sams-
tag in London Hunderttausende gegen
den Brexit und für ein zweites Referen-
dum.job. Seite 10 und 19

NOBELPREIS GENTRIFIZIERUNG


Fleisch hat einen miserablen
Ruf. Völlig zu Unrecht.
Wirtschaft

Foto UK Parliament/Jessica Taylor

Lotto:4, 7, 11, 33, 38, 39 – 9*
Spiel 77:0 7 8 1 4 6 5
Super 6:0 2 1 3 6 0
Alle Zahlen ohne Gewähr. *Superzahl

ESST MEHR FLEISCH!


Zum Semesterbeginn verstärken Finanz-
vertriebe wie MLP, Tecis oder die
DVAG ihre Werbekampagnen an den
Hochschulen. MLP verdoppelt in den
nächsten drei bis fünf Jahren die Zahl sei-
ner für Studenten zuständigen Kunden-
berater. Die Finanzvertriebe haben Stu-
denten als attraktive Zielgruppe mit
hohen Gehaltsperspektiven ausgemacht
und wollen ihnen überteuerte Versiche-
rungen verkaufen. Die Methoden dazu
sind umstritten. Sie reichen von kostenlo-
sen Seminaren in den Räumen der Hoch-
schule bis hin zu Vorlesungen, die Mitar-
beiter von Finanzvertrieben halten und
dabei auch Werbung machen. Die Hoch-
schulen erlauben das vor allem des Gel-
des wegen. Sie können sich manche Lehr-
angebote ohne private Unterstützung
nicht leisten.Der Grünen-Politiker Ger-
hard Schick, der die Bürgerbewegung
„Finanzwende“ gegründet hat, kritisier-
te die Hochschulen für dieses Verhalten.
„Die Universität ist ein beschützter
Raum, der frei von Werbung sein soll-
te“, sagte er.dys. Seite 29

In der Nacht auf Samstag ist es in Katalo-
nien zu schweren Ausschreitungen ge-
kommen. Nach einer friedlichen De-
monstration von mehr als einer halben
Million Menschen gegen die Verurtei-
lung katalanischer Separatisten begannen
in Barcelona und anderen katalanischen
Städten wieder Straßenschlachten. Bis
zum frühen Morgen brannten Barrika-
den. Vermummte Jugendliche griffen
Polizisten an, die wiederum Gummige-
schosse und einen Wasserwerfer einsetz-
ten. Einen vergleichbaren Ausbruch poli-
tischer Gewalt habe es in Katalonien
„noch nie gegeben“, sagte der katalani-
sche Innenminister Miquel Buch in ei-
nem Fernsehinterview. Nach Behördenan-
gaben wurden seit Freitag mehr als 180
Menschen verletzt, darunter 22 Polizisten.
Es gab mehr als 80 Festnahmen. Der har-
te Kern der jungen Randalierer wird auf
500 Personen geschätzt, die sehr gut orga-
nisiert sind. Angeblich sind auch ausländi-
sche Extremisten zu ihnen gestoßen.
Nach fünf Krawallnächten waren für
Samstag neue Proteste angekündigt. hcr.


Führende Orthopäden und Unfallchirur-
gen in Deutschland beklagen, dass ihr
Nachwuchs nicht mehr gut genug ausge-
bildet werde. Vielen jungen Ärzten fehle
„wichtiges Wissen in der Krankenversor-
gung“, sagt Carsten Perka, Professor für
Orthopädie und Unfallchirurgie an der
Berliner Charité. Die Ursache sei, dass
Kliniken kein Geld bekämen für die Aus-
bildung von Fachärzten. Paul Grützner,
Präsident der Deutschen Gesellschaft
für Orthopädie und Unfallchirurgie, er-
klärt das so: Die Weiterbildung koste
Zeit, darum sei sie für Kliniken und Pra-
xen ökonomisch von Nachteil. Das Dik-
tat der wirtschaftlichen Effizienz forde-
re, Weiterbildung zu minimieren. „Der
Patient beginnt die Folgen der Engpässe
in der Weiterbildung zu spüren“, sagt
Perka. Wenn Regierung, Kostenträger
und Ärzte das Problem jetzt nicht
gemeinsam angingen, sei der Abstieg der
deutschen Orthopädie und Unfallchi-
rurgie besiegelt. International könne
Deutschland dann nicht mehr in der ers-
ten Liga mitspielen.F.A.S. Seite 17

Sachsens Ministerpräsident Michael
Kretschmer von der CDU ärgert sich
über die Emotionalität der Klimadebatte
in Deutschland. „In der Bevölkerung
gibt es eine große Abneigung gegen den
moralischen Zeigefinger Greta Thun-
bergs und diese Hysterie“, sagte er im
Gespräch mit dieser Zeitung. Für diese
Haltung dürfe man Thunberg aber nicht
verantwortlich machen. „Die Frage ist
doch: Wer bringt eine 16 Jahre alten Ju-
gendliche aus Schweden vor die Verein-
ten Nationen?“ Gerade in der Klimade-
batte brauche es „eine gewisse Ruhe und
Sachlichkeit“. Kretschmer bemängelt,
dass das Klimapaket der Bundesregie-
rung nicht nach marktwirtschaftlichen
Prinzipien funktioniere. Der große Feh-
ler der deutschen Energiepolitik sei, dass
selbst kleinste Dinge geregelt würden.
„Damit ist der Staat überfordert“, so
Kretschmer. Besonders ärgerten ihn hö-
here Benzinpreise und Verbote von Holz-
öfen. Er fügt hinzu, Verbote führten nur
zu „Unsicherheit, Misstrauen und
Frust“.schä. Seite 25

Fotos AFP, AP, Getty, Shutterstock

Finanzfirmen wollen


Studenten ködern


Straßenschlachten


in Barcelona


Unterhaus verschiebt Brexit-Abstimmung


Johnson muss nun in Brüssel um Fristverlängerung bitten. Er will trotzdem „alles tun, damit wir am 31. Oktober die EU verlassen“


Ärzte beklagen


schlechte Ausbildung


Kretschmer warnt


vor Klimahysterie


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