Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung - 20.10.2019

(Barré) #1
FRANKFURTER ALLGEMEINE SONNTAGSZEITUNG

Leben (^) 20. OKTOBER 2019 NR. 42 SEITE 11
VON HAUCK & BAUER
AM RANDE DER
GESELLSCHAFT
H
i Jungs! Glaubt ihr, es wird
bald einen dritten Weltkrieg
geben?“, fragte der passionier-
te Zocker Max im Auftrag die-
ser Zeitung im Chat des Computerspiel-
Klassikers Counter Strike. Spontan ant-
wortete ein anderer User: „Ich hoffe es.“
„Warum?“, fragte Max nach.
„Die Juden sind noch nicht
ausgerottet.“
Die Antwort überraschte den 21-jähri-
gen Studenten nicht. „Wer sich in sol-
chen Spielen aufhält, weiß ja: Der Ton
ist rau.“ Antisemitismus, Rassismus,
Fremdenfeindlichkeit, Sexismus, das
finde da alles statt.
Max’ gefühlte Wahrheit ist jetzt
auch wissenschaftlich unterfüttert:
durch die aktuelle Shell-Jugend-Studie,
die diese Woche veröffentlicht wurde.
Das Ergebnis in diesem Jahr zeichnet
ein zum Teil unschönes Bild der jungen
Generation. Selbst wenn „Jugendliche
in Deutschland in ihrer großen Mehr-
heit tolerant gegenüber anderen Lebens-
formen, Minderheiten und sozialen
Gruppen“ seien: 68 Prozent der 12- bis
27-Jährigen seien überzeugt, man dürfe
nichts Schlechtes über Ausländer sagen,
ohne gleich als Rassist beschimpft zu
werden. Auch den Aussagen „Die Regie-
rung verschweigt der Bevölkerung die
Wahrheit“ und „Der Staat kümmert
sich mehr um Flüchtlinge als um hilfsbe-
dürftige Deutsche“ stimmt mehr als die
Hälfte zu. Fast jeden vierten Jugendli-
chen bezeichnet die Studie als „populis-
musgeneigt“, neun Prozent als handfes-
te „Nationalpopulisten“.
„Was denkt ihr über den Täter in Hal-
le?“, fragte Max die Counterstrike-User.
„Ich weiß nichts über ihn. Aber die
Frau, die er getötet hat, war Müll“,
schreibt einer zurück.
Hat Innenminister Horst Seehofer
also recht, wenn er nach dem Anschlag
vor der Synagoge fordert: „Wir müssen
die Gamer-Szene stärker in den Blick
nehmen“? Woher bekommen die jungen
Leute heute ihre Informationen, aus wel-
chen Versatzstücken basteln sie sich ihre
eigene Weltsicht?
„Tagesschau“ und Zeitung sind für sie
von gestern, stattdessen sind Youtube,
Instagram und Facebook die wich-
tigsten Informationsquellen, wie
das Internationale Zentralinstitut
für das Jugend- und Bildungsfern-
sehen berichtet. Max etwa guckt
auf Youtube gern die Satiresendungen
„heute-show“ und „Neo Magazin Roya-
le“, um sich zu informieren. Aber auch
den Yotuber Rezo findet er gut, zum Bei-
spiel dessen Video „Die Zerstörung der
CDU“, das bis heute über 16 Millionen
Mal geklickt wurde. Woher Max weiß,
dass das, was Rezo dort über die CDU er-
zählt, der Wahrheit entspricht? „Na ja,
Rezo gibt ja bei dem Video Quellen an“,
sagt er. Und prüft er die nach? „Eher sel-
ten. Eigentlich kannst du dir nie sicher
sein, dass das alles stimmt.“
Die „Tagesschau“ guckt Max nicht,
denn „die ist so altbacken“. Und Zeitun-
gen? „Eine Zeitung wollte mir mal ein
Probe-Abo andrehen. Das war mega an-
strengend, das wieder zu kündigen.“
Ausgerechnet ein Berliner Grund-
schullehrer war es, der schon früher als
andere verstand, dass Jugendliche sich
heute anders informieren also noch vor
ein paar Jahren. In kurzer Zeit baute er
sich im Netz eine beachtliche Gefolg-
schaft auf. Im September 2017 ging Niko-
lai Nerlings erstes Youtube-Video online,
eine Kopie davon findet man noch heute
auf der Plattform. Es hat 490 000 Aufru-
fe und trägt den Titel: „Lehrer legt sich
mit Merkel an“.
Damals brachte Nerling am Vormit-
tag den Kindern noch Lesen, Schreiben
und Rechnen bei. Am Abend aber schuf
er sich seine eigene Meinungs-Marke am
Rechner. Er nannte sich „Der Volks-
lehrer“. „Ich bin ganz neue Wege gegan-
gen, erzählt er heute. In seinem ersten
Video brüllte er der Bundeskanzlerin bei
einer Veranstaltung entgegen: „Sie ha-
ben geschworen, dem deutschen Volk zu
dienen. Sie lassen Flüchtlinge hier rein,
die keinen Anspruch haben. Ich
fordere alle Deutschen auf:
,Nutzen Sie das Recht auf
Selbstverteidigung!‘“
Warum macht er das? Ner-
ling sagt, es habe Dinge gegeben,
die ihn störten. Etwas, dass an seiner
Schule nur ein einziges Kind ohne Mi-
grationshintergrund eingeschult worden
sei. Es störte ihn, dass das Siegel „Schule
ohne Rassismus – Schule mit Courage“
gleichgesetzt worden sei mit „Gegen
rechts sein“. Laut seiner Homepage stör-
ten ihn auch noch Dinge wie zum Bei-
spiel die „Lügenmärchen“ über den 11.
September 2001.
In kürzester Zeit verschafften ihm sei-
ne Videos eine ungeahnte Reichweite.
Die Jugendlichen hörten Nerling zu,
kommentierten die Filmchen, likten und
teilten. „Der Volkslehrer“ wurde zu ei-
ner Stimme im Netz, die sich ihre eigene
Echokammer baute: einen virtuellen
Raum, in dem sich Gleichgesinnte inner-
halb der sozialen Netzwerke gegenseitig
ihre Weltsicht bestätigten – und diese
Weltsicht dadurch enger und enger wer-
den ließen.
In der Wirklichkeit bekam Nerling
darum zunehmend Probleme. Im Januar
2018 wurde er vom Schuldienst beur-
laubt, im Mai entlassen. Er sei „nicht
dazu geeignet, Kinder dahingehend zu er-
ziehen, der Ideologie des Nationalsozia-
lismus entschieden entgegenzutreten“,
befand Bildungssenatorin Sandra Schee-
res. Gegen ein Urteil des Arbeitsgerichts
Berlin, das dieser Auffassung folgt, hat
Nerling Berufung eingelegt. Auch seine
Videos sind nach wie vor auf Youtube zu
finden – wenn auch nicht unter seinem
eigenen Kanal. Den hat Youtube inzwi-
schen gesperrt.
Subtiler und weniger offen rechtsradi-
kal geht da die identitäre Gruppe „Ein
Prozent“ vor. Deren Youtube-Inhalte
wirken jung, frisch und popkulturell. Sie
sehen professioneller und aufwendiger
produziert aus als alles, was auf den digi-
talen Kanälen der Bundeszentrale für po-
litische Bildung so läuft. Wenn man
„Ein Prozent“-Videos guckt, empfiehlt ei-
nem Youtube nebenbei noch Sendungen
von ZDF, SWR und Spiegel TV. Es fällt
in diesem Kontext kaum mehr auf, dass
die „Ein Prozent“-Videos seltsame Na-
men tragen wie „Solidarität für Patrio-
ten“, „Eine Absage an den Verfassungs-
schutz“ oder „Unser Europa ist nicht
eure Union“.
Student Max sagt, für ihn sei es ein Zei-
chen der Glaubwürdigkeit, wenn You-
tube ihm neben dem eigentlichen Video
zusätzlich Beiträge von seriösen Medien
vorschlage. Außerdem gucke er auf die
Abonnentenzahlen, „und wenn ein Video
nur 1000 Aufrufe hat, ist davon nichts zu
halten“. Die Videos von „Ein Prozent“
wirken auf ihn „jugendlich, gut gemacht
und vertrauenswürdig. Wie von You-
tubern, die was Größeres aufziehen wol-
len, aber noch ganz am Anfang stehen.“
Und wenn er wissen will, ob die Seite
wirklich seriös ist? „Dann schau ich auf
die Kanalinfo. Da steht was von ‚profes-
sionell‘ und ‚seriös‘. Aber das kann natür-
lich jeder von sich behaupten“, überlegt
er laut. Und googelt. Und ist plötzlich
überrascht: „Das Erste ist gleich ein Zei-
tungsartikel, da steht, ,Ein Prozent‘sei
radikal rechts.“
Zu der allgemeinen Schwierigkeit Ju-
gendlicher und auch vieler Erwachsener,
Nachrichten von extremistischer Propa-
ganda zu unterscheiden, kommt hinzu:
Der Algorithmus von Youtube unter-
stützt aktiv die Meinungsmache der Ex-
tremisten. Denn Youtube liebt nichts
mehr als den Gladiatorenkampf: Veran-
staltungen, wo das Blut spritzt, wo Gut
gegen Böse kämpft, wo bis zum Sieg ge-
rungen wird. Weil es genau diese Inhalte
sind, die immer wieder unsere Aufmerk-
samkeit gewinnen, die uns bannen – uns
vor dem Bildschirm halten. Wenn es
dazu Propaganda braucht, dann wird uns
eben die empfohlen.
Michael Butter, Professor für Amerika-
nistik an der Uni Tübingen und Autor
des Buches „Nichts ist, wie es scheint:
Über Verschwörungstheorien“, sagt,
manche seiner Kollegen würden You-
tube als „Tor zur Hölle“ bezeichnen. Die
rhetorischen Kniffe, die Extremisten in
den Netzwerken anwenden, seien immer
die gleichen: Zuerst stelle der Verschwö-
rungstheoretiker verschiedene Fragen.
Er arbeite sich an der offiziellen Mei-
nung ab und diskutiere sie: Kann das
wirklich sein? Wurden alle Punkte be-
rücksichtigt? Sind da nicht ungeklärte As-
pekte? Als Nächstes sät der Extremist
Zweifel, und erst wenn er alle bisherigen
Kenntnisse als links-grün versiffte Main-
stream-Luftschlösser enttarnt hat, setzt
er zur Attacke an und stellt die Gegen-
theorie auf, zu der er ein Feindbild ent-
wirft: Juden, Muslime, Ausländer, die
Medien, der Staat.
Diese Methode, Menschen zu beein-
flussen, ist nicht neu. Neu ist die spieleri-
sche Art und Weise, mit der Verschwö-
rungstheoretiker vorgehen. Musik,
Memes (rasend schnell populär geworde-
ne Medien-Zitate), schnelle Videoschnit-
te, Insider-Witze aus der Gaming-Com-
munity – Extremismus kann heute rich-
tig frisch wirken. Wo der Dunstkreis der
Rechtsextremen früher kaum
über verrauchte Stammtische
hinausreichte, senden sie
heute 24 Stunden lang in die
Jugendzimmer.
„Was denkt ihr über Juden?“,
fragt Max einen Gamer-Kollegen.
„Vergast sie!“
„Glaubst du denn, Juden sind
gefährlich?“
„Ja.“
Seehofers Aussage, die Community
müsse beobachtet werden, ist wohl nicht
ganz von der Hand zu weisen. Zu-
mindest wenn es darum geht,
die eigentlich friedliche Spie-
ler-Gemeinschaft vor Radika-
len zu schützen. Julia Ebner, Extremis-
musforscherin und Autorin des Buchs
„Radikalisierungsmaschinen“, stellt die-
sen Trend fest, seit Donald Trump ameri-
kanischer Präsident ist. Angefangen habe
alles mit dem sogenannten „Gamergate-
Skandal“ – als Journalisten über frauen-
feindliche Neigungen in der Gamer-Sze-
ne berichteten. Manche Nutzer der Com-
munity reagierten mit einer Art Gegen-
schlag; sie radikalisierten sich, und zu ih-
rem Antifeminismus gesellten sich rassis-
tische und faschistische Tendenzen.
Seitdem heuern Rechtsextreme laut
Ebner gezielt Spieler auf Gaming-Platt-
formen wie Steam oder Discord an. „Ich
habe beobachtet, dass man bei der Sozia-
lisierung ansetzt und erst dann ideologi-
siert“, sagt Ebner. Soll heißen, zu Beginn
schließen die Extremisten mit den Ju-
gendlichen Freundschaften und heu-
cheln Verständnis für deren Sorgen und
Ängste. Erst wenn Vertrauen hergestellt
ist, konfrontieren sie die Jugendlichen
mit ihren Verschwörungstheorien.
Natürlich wird nicht jeder, der online
spielt, früher oder später zum Nazi. Aber
genau wie die sozialen Medien und You-
tube hat die Gaming-Szene inzwischen
ein echtes Extremismus-Problem.
Ebner rät, der Staat solle nicht nur
große Netzwerke wie Facebook beobach-
ten, sondern auch kleinere Plattformen
wie Discord. In gewisser Weise stimmt
sie Seehofer damit zu. Außerdem müss-
ten die Internetkonzerne gesetzlich dazu
gezwungen werden, ihre Algorithmen so
zu ändern, dass sich die Zuschauer nicht
mehr unbemerkt von Propaganda-Video
zu Propaganda-Video klicken.
Bei all den Untiefen im Netz ist eine
Tatsache aber dann doch beruhigend:
Die meisten Nutzer surfen recht aufge-
klärt herum. Laut der Shell-Studie fin-
det jeder zweite Jugendliche Youtube we-
niger oder nicht vertrauenswürdig. Den
Inhalten auf Facebook misstrauen sogar
mehr als zwei Drittel. Dagegen hält ein
Großteil die Nachrichtensendungen von
ARD und ZDF für vertrauenswürdig;
ähnlich sieht es für überregionale Tages-
zeitungen aus.
Auch Max vertraut den klassischen
Medien mehr als Youtube oder Face-
book. Selbst wenn er sie kaum kon-
sumiert. „Da weiß man einfach,
was da steht, das stimmt zu 99
Prozent – außer dieser Claas Relo-
tius hat es geschrieben.“
Illustration Shutterstock, Bearbeitung F.A.S.
Jugendliche informieren sich heute
fast ausschließlich im Netz – und werden
so zur leichten Beute. Ein Streifzug.
Von Alexander Rupflin
Wo der
Extremismus
frisch wirkt

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