Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung - 20.10.2019

(Barré) #1

14 familien leben FRANKFURTER ALLGEMEINE SONNTAGSZEITUNG, 20. OKTOBER 2019, NR. 42


Herr Toprak, Sie sind im Alter von
zehn Jahren als Sohn türkischer Gast-
arbeiter nach Deutschland gekom-
men, heute sind Sie Professor und
mit einer deutschen Frau verheiratet.
War so ein Lebensweg absehbar?
Auf keinen Fall. Wir haben in einem
Stadtteil mit hohem Ausländeranteil in
beengten Wohnverhältnissen gelebt.
Das sind klassische Indikatoren dafür,
dass man eher nicht aufsteigt.

Sie hätten also auch als Prototyp der
von Ihnen beschriebenen Bildungs-
und Integrationsverlierer enden kön-
nen. „Muslimisch, männlich, desinte-
griert“ heißt Ihr neues Buch. Was ist
da los?
Schauen wir auf die messbaren Fakten:
Die Abiturquote bei türkischen Jungs
liegt bei maximal 16 Prozent, in der
deutschen Vergleichsgruppe ist sie drei-
mal so hoch. Türkisch-arabische Jugend-
liche verlassen die Schule öfter ohne Ab-
schluss, sie sind öfter arbeitslos, öfter ge-
walttätig, öfter kriminell.

Wie äußert sich das im Vorfeld, etwa
an Schulen in Berlin-Neukölln oder
Duisburg-Marxloh?
Ich mache viele Fortbildungen, auch
mit Lehrkräften, und die beschweren
sich oft, dass ihnen türkisch-arabische
Jungen besonders viele Probleme berei-
ten – schon in der Grundschule.
Ihre These ist: Da läuft etwas in der
Erziehung schief.
Ja. Die jungen Männer werden auf die
Realität da draußen nicht vorbereitet.
Das ist nicht mit Absicht so, sondern
liegt an den Wünschen und Ansprü-
chen, die Jungen in traditionellen Famili-
en mit auf den Weg gegeben werden.
Männer sollen zum Beispiel die Familie
schützen, wenn Gefahr droht. Sie sollen
aber auch in der Lage sein, die Familie
zu ernähren und Familienoberhaupt zu
sein. Darauf wird der Junge nicht kon-
kret vorbereitet. Und in der Mehrheits-
gesellschaft werden ganz andere Werte

verlangt. Der Großteil kommt damit
gut zurecht. Aber ein beträchtlicher Teil
ist verunsichert und weiß nicht, wo sein
Platz in dieser Gesellschaft ist.
Wie sieht diese Erziehung denn ganz
konkret aus?
Auch wenn Eltern schon in der dritten
Generation hier leben, haben sie oft
sehr traditionelle Vorstellungen von Ge-
schlechterrollen. Ein Junge zum Bei-
spiel darf laut sein, der soll auch mal
über die Stränge schlagen und muss
nicht unbedingt diszipliniert sein. Weil
er später den Überblick haben soll, darf
er draußen mit Freunden rumhängen.
Die Eltern gewähren ihren Söhnen viel.
Meistens reden wir ja über die Be-
nachteiligung von Mädchen in musli-
mischen Familien. Warum werden
ausgerechnet die bevorzugten Jungen
aus Ihrer Sicht zu Verlierern?
Die Mädchen haben weniger Freiheiten,
das stimmt. Aber schauen wir uns die
Erwartungen an, die sich an die Mäd-

chen richten: Sie müssen ordentlich
sein, zielgerichtet und Sachen schnell er-
ledigen. Schließlich ist es das Ziel der
Eltern, aus ihren Töchtern anständige
Hausfrauen zu machen, während die
Jungen sich in der Außenwelt bewähren
sollen. Und was verlangen Lehrkräfte
von ihren Schülern?

Ordentlich sein und zielgerichtet Sa-
chen schnell zu Ende bringen?
Genau. Und das am besten brav und zu-
rückhaltend. Alles Dinge, die Eltern
von Mädchen erwarten. Deshalb finden

die Mäd-
chen sich im Bil-
dungssystem gut zu-
recht und die Jungen eben
nicht. Sie haben etwas anderes
gelernt, das sie nun auf den Schulall-
tag übertragen. Und die Lehrkräfte be-
schweren sich, die Jungs seien undiszipli-
niert und hörten nicht. Die Mädchen
sind angepasster. Ich sage manchmal iro-
nisch: Wenn die Jungen wie Mädchen
erzogen würden, hätten wir gewisse Pro-
bleme nicht.
Wie meinen Sie das?
Ich gebe Ihnen ein Beispiel. Als mein
heute elf Jahre alter Sohn sechs war, ha-
ben wir in der Nähe von Antalya eine
Bootstour gemacht. Weil das Meer et-
was welliger war, haben wir ihn gebe-
ten, während der Fahrt entweder bei
mir oder bei der Mama sitzen zu blei-
ben. Er ist überhaupt ein freundliches
Kind, das zuhört und umsetzt, was die
Eltern sagen, er springt auch nicht wild
in der Gegend herum. Also fragte die
Bootsfrau erstaunt: Ist das ein Junge?
Jungen würden normalerweise inner-
halb von einer Stunde das ganze Boot
plattmachen! Die Frau war ganz begeis-
tert, weil sich unser Sohn aus ihrer
Sicht wie ein Mädchen verhielt. Ihr
Mann jedoch fragte: Was, wenn der Jun-
ge erwachsen ist? Wird er auch dann
brav herumsitzen, wenn seine Familie
angegriffen wird? Er war geradezu ent-
setzt, dass mein Kind später nicht in
der Lage sein würde, die Aggressivität
und das Selbstbewusstsein auszustrah-
len, die man von einem Mann erwartet.
Aus der Männerperspektive war das be-
ängstigend.
Welche Rolle spielen die Väter für
das Aufwachsen dieser Jungs?
Nach der traditionellen Vorstellung soll
der Junge sich am Vater orientieren, ihn
imitieren und nach und nach seine Rol-
le einnehmen. In der ländlichen Türkei
oder arabischen Ländern, wo die Män-
ner auf dem Feld arbeiten, wird er da

Schritt für Schritt herangeführt. Das
klappt ganz gut.

Und hierzulande? Sie zitieren einen
jungen Mann, der sagt: „Mein Vater
ist in Deutschland einfach überfor-
dert. Er ist ein Totalausfall.“
Auch in Deutschland gilt der Vater als
unantastbar. Aber wer unantastbar ist,
muss Leistungen bringen. Und das
kann der Vater nicht, wenn er nicht so
gut Deutsch kann und sich nicht richtig
in der Gesellschaft auskennt. Vielleicht
ist er arbeitslos und kann seinen Alltag
nicht gestalten. Wenn ein Brief vom Ar-
beitsamt kommt, muss der Junge über-
setzen. Das kann als Vorbild nicht funk-
tionieren. Ich spreche deshalb vom
machtlosen Vater.
Was ist mit den Müttern?
Wenn der Vater der Macho ist, fällt das
teilweise auch auf die Mutter zurück.
Nach außen tut sie so, als hätte der
Mann das Sagen: Er weiß alles, kann al-
les, hält die Karten in der Hand. Aber
das ist nur ein Teil der Wahrheit. Innen
hält die Mutter das Zepter. Sie managt
den Haushalt, die Kinder, sogar den Va-
ter – und sie arbeitet noch nebenbei.
Die Mutter hat eine große Verantwor-
tung. Und sie trägt dazu bei, dass die
Jungen nicht selbständig werden, weil
sie ihnen alles abnimmt. Ein Junge
muss nicht im Haushalt helfen. Außer-
dem verteidigt sie ihre Söhne gegen-
über Lehrkräften, Sozialarbeitern, Ju-
gendamt, gegenüber dem Vater und ge-
genüber anderen Jugendlichen.
Warum ist das ein Problem?
Weil man die Erfahrung machen muss,
dass Erfolge auf das eigene Verhalten zu-
rückzuführen sind und Misserfolge zum
Leben dazugehören. Ich sage immer,
der Junge wird von der Mutter wie ein
zartes Pflänzlein geschützt, um dann
ganz sanft in die Arme der Ehefrau
übergeben zu werden, damit er ja nicht
kaputtgeht. Ich übertreibe ein kleines
bisschen, aber manchmal ist es so.

Darf man Gastarbeiterkinder wie Sie
und die dritte, vierte Generation in
den Schulklassen von heute, kann
man alevitische Türken, arabischstäm-
mige Großfamilien und Flüchtlinge
aus dem syrischen Bürgerkrieg über
einen Kamm scheren?
Das kann man nicht, da haben Sie voll-
kommen recht. Aber ich glaube, dass in
bestimmten muslimischen Milieus die
Geschlechterrollen aufgebrochen wer-
den müssen. Und wenn man mein Buch
genauer liest, sieht man: Eigentlich sehe
ich diese jungen Männer als Opfer. Um
sie zu gewinnen, um sie besser zu verste-
hen und zu integrieren, müssen wir die
Gesellschaft aufrütteln.

Fürchten Sie nicht, mit Ihrem Buch
nur weiter Vorurteile und Ablehnung
in der Mehrheitsgesellschaft zu beför-
dern, während Sie die migrantische
Community vor den Kopf stoßen?
Nein. Ich argumentiere differenziert
und ausgewogen. Und wenn wir nicht
über Probleme reden und streiten, wer-
den wir nicht weiterkommen. Das wird
auch den Migranten nicht helfen. Im
Gegenteil. Wir neigen dazu, zu viel
Rücksicht zu nehmen. Integration heißt
nicht nur, dass ich Arbeit finde und
gute Schulabschlüsse mache. Integration
heißt auch, Werte und Normen dort an-
zupassen, wo es nötig ist.
Wie wollen Sie Eltern zu Veränderun-
gen bewegen, wenn Sie Ihnen gleich-
zeitig sagen: Ihr macht alles falsch?
Das funktioniert nicht, das wissen Sie
als Mutter auch: Wenn die Lehrerin Ih-
rer Kinder sagen würde, Frau Schaaf,
Sie machen alles schlecht, blockieren
Sie. Aber Eltern wollen das Beste für
ihr Kind. Wenn wir sagen: Was können
wir gemeinsam in die Wege leiten, da-
mit es Ihrem Sohn oder Ihrer Tochter
gutgeht? Dann sind Eltern offen.

Das heißt?
Wir müssen den Eltern gemeinsam mit
Schulen und sozialpädagogischen Ein-

richtungen vermitteln, dass sie ihr Erzie-
hungsverhalten reflektieren müssen.

Wie können Pädagogen der Respekt-
losigkeit und Dreistigkeit migran-
tischer Jungs begegnen?
Sie sollen klar und deutlich formulieren,
was sie möchten und was nicht: Hier ist
die Schule! Hier habe ich das Sagen!
Was in der Schule passiert, folgt diesen
Regeln! Natürlich werden die Jugendli-
chen erst mal maulen. Aber viel von ih-
rem machohaften Selbstbewusstsein ist
Fassade, im Kern suchen diese Halbstar-
ken nach Aufmerksamkeit und Orientie-
rung. Da müssen wir dranbleiben, im-
mer wieder. Nach dem dritten, vierten,
fünften Mal werden wir erreicht haben,
was wir wollten. Nur nicht einschüch-
tern lassen!
Was machen Pädagogen typischerwei-
se falsch?
Sätze wie „Bei euch Türken ist es halt
so, ich kann das eh nicht ändern“ oder
„Bei uns werden Frauen respektiert, auch
wenn sie bei euch nichts zu sagen haben“
sind nicht nur diskriminierend, sondern
kontraproduktiv. Ali ist ja nicht Mehmet
oder Mustafa. Es muss immer darum ge-
hen, die Jungen als Individuen wahrzu-
nehmen – auch in ihrem Fehlverhalten.

Und warum ist es bei Ihnen nun so
viel besser gelaufen?
Meine Eltern haben keinen großen
Wert auf Religion gelegt, nie Gewalt an-
gewendet und uns Kindern vertraut.
Aber vor allem haben sie keinen Unter-
schied gemacht zwischen Jungs und Mä-
dels. Ich musste genauso kochen und
meiner Mutter helfen wie meine Schwes-
tern. Das war aus meiner Sicht entschei-
dend. Sobald sich Eltern von traditionel-
len Rollenmustern verabschieden, ist
der Erfolg da.
Die Fragen stellte Julia Schaaf.
Ahmet Toprak: „Muslimisch, männlich, desintegriert. Was
beider Erziehung muslimischer Jungen schiefläuft“, 240
Seiten, 18 Euro, erscheint am 25. Oktober.

„Muslimische


Jungs sind


Opfer“


Ahmet Toprakist
Professor für
Erziehungswissen-
schaften und Dekan an
der Fachhochschule
Dortmund.

Foto Marcus Heine

In vielen Familien werden sie


traditionell erzogen: als kleine Prinzen.
Das bereitet sie falsch aufs Leben
vor, sagt Ahmet Toprak, Erziehungs-
wissenschaftler und selbst türkischer
Abstammung.

Illustration F.A.S.
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