Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung - 20.10.2019

(Barré) #1

FRANKFURTER ALLGEMEINE SONNTAGSZEITUNG, 20. OKTOBER 2019, NR. 42 leib&seele 17


W


ill man ein Problem so er-
klären, dass auch Laien es
verstehen, dann bieten sich
Vergleiche aus dem Fußball
immer an. Das weiß wohl auch Professor
Carsten Perka, wenn er sagt: „Wir sind
hier in der Klinik ja nicht bei Borussia
Dortmund oder dem FC Liverpool. Wir
bekommen für einen Facharzt, der nach
seiner Weiterbildung in eine andere Kli-
nik wechselt, keinerlei Ablösesumme.“
Perka ist nicht nur Ärztlicher Direktor
am Centrum für Muskuloskeletale Chir-
urgie der Charité, sondern auch Fußball-
fan. Das merkt man, wenn er nach die-
sem Vergleich noch etwas humorvoll
über die Unsummen philosophiert, die
für so manchen Spitzenspieler über den
Tisch gingen, obwohl einige von ihnen
schon lange nicht mehr auf der Höhe ih-
rer Leistungsfähigkeit gewesen seien.
Dann aber wird er wieder ernst, denn
die Sache, über die er eigentlich redet,
ist ihm ein Anliegen. Bleibt man bei Fuß-
ballvergleichen, droht nämlich, so sieht
es zumindest Perka, der Orthopädie und
Unfallchirurgie der Abstieg. „Wir haben
zunehmend junge Orthopäden und Un-
fallchirurgen, die nicht mehr auf hohem
Niveau ausgebildet sind und denen wich-
tiges Wissen in der Krankenversorgung
fehlt.“ Den Hauptgrund für diese Ent-
wicklung sieht Perka darin, dass Klini-
ken, die Assistenzärzte zu Fachärzten wei-
terbilden, dafür keinerlei finanzielle Un-
terstützung bekommen.
Diese Situation gilt allerdings für alle
medizinischen Fachbereiche, und das
war auch schon immer so. Doch in Zei-
ten von steigendem ökonomischen
Druck und Personalmangel sind immer
weniger Kliniken zu diesem Aufwand be-
reit. Um zu verstehen, warum sich die Si-
tuation in Orthopädie und Unfallchirur-
gie aus Sicht der Experten dabei beson-
ders zuspitzt, muss man zurückblicken.
Im Jahr 2003 wurde vom Deutschen
Ärztetag beschlossen, die Fächer Ortho-
pädie und Unfallchirurgie zusammenzu-
führen. Seitdem kann man nur noch
Facharzt für beides werden. „Das war
durchaus sinnvoll“, sagt Perka. Denn
rund 40 Prozent der Weiterbildungsin-
halte hätten sich überschnitten. „Aber
60 Prozent eben nicht.“ Man habe da-
mals jedoch davon abgesehen, die Zeit
der Weiterbildung zu verlängern, da die
Ausbildung schon sechs Jahre dauere
und man das Fach nicht unattraktiver
für den Nachwuchs machen wollte.
Von 2003 an musste also mehr Inhalt
in kürzerer Zeit vermittelt werden. Das
war nach Aussage von Perka schon alles
andere als perfekt. Aber dann kamen ei-
nige Jahre später noch die neuen Arbeits-
zeitregelungen dazu, die unter dem
Strich dazu führten, dass Ärzte weniger
Stunden in der Woche arbeiten dürfen.
„Das ist natürlich richtig und wichtig“,
kommentiert Perka, aber es habe die Or-
thopädie und Unfallchirurgie dazu ge-
zwungen, die Lehrinhalte in noch kürze-
rer Zeit zu vermitteln. „Die Fachlitera-
tur sieht vor, dass die Weiterbildungs-
zeit eines angehenden Orthopäden und
Unfallchirurgen 80 bis 100 Arbeitsstun-
den in der Woche benötigt. Nach den
neuen Arbeitszeitregelungen haben wir
dafür aber nur noch 48 Stunden Zeit.
Das kann nicht funktionieren.“
Neue Arbeitsschutzregeln plus ökono-
mischer Druck – für Perka ist das eine
Mischung, die das Konzept der Weiter-
bildung in den Kliniken in eine Katastro-
phe laufen lässt. „Die Realität ist doch,
dass OP-Säle möglichst immer ausge-
bucht sein und die Operationen so
schnell wie möglich durchgeführt wer-
den sollen, damit am Ende der Erlös
stimmt.“ Behandelt werden soll vor al-
lem das, was gutes Geld bringt. „Ein sol-
ches Arbeiten ist aber nicht möglich,
wenn man junge Menschen umfänglich
ausbilden will“, sagt Professor Paul
Grützner, Ärztlicher Direktor der BG
Klinik Ludwigshafen. „Weiterbildung
kostet Zeit in der Planung der Therapie,
bei der Durchführung der Operation
und in der Nachbesprechung. Da kann
es sein, dass man dann statt fünf OPs am

Tag vielleicht nur drei schafft.“ Denn es
müsse gewährleistet sein, dass die Quali-
tät eines Ausbildungseingriffs der Quali-
tät eines Eingriffs durch einen erfahre-
nen Facharzt in nichts nachstehe. Klini-
ken und Praxen, die weiterbilden, seien
damit ökonomisch benachteiligt. Das
Diktat der wirtschaftlichen Effizienz er-
fordere, Weiterbildung zu minimieren.
Da aber Kliniken Nachwuchs benöti-
gen, gibt es natürlich Krankenhäuser, die
Orthopäden und Unfallchirurgen ausbil-
den. Bloß häufig nicht mehr so, wie es nö-
tig wäre. Ärzte in der Weiterbildung er-
zählen, dass sie mehr Zeit mit Dokumen-
tationen und Patientenaufklärungsgesprä-
chen verbringen und einen Nachtdienst
nach dem anderen schieben müssen, an-
statt die Chance zu bekommen, am OP-
Tisch etwas zu lernen. Spezialisieren sich
dazu immer mehr Kliniken auf bestimm-
te Körperregionen, etwa Knie, Schulter,
Wirbelsäule, ist das zwar für sie selbst lu-
krativ. Für den jungen Arzt bedeutet es
aber, dass er nicht mehr die Möglichkeit
bekommt, eine gesamtheitliche Beurtei-
lung des Patienten zu erlernen, verschie-
dene Therapieoptionen zu sehen oder Pa-
tienten rein konservativ, also ohne
Schnitt und Skalpell, zu helfen.
Sich das Fachwissen für die Prüfung
anzueignen, das schaffen die meisten jun-
gen Ärzte trotzdem. Praktische Fähigkei-
ten werden bei Facharztprüfungen nicht
abgefragt, ebenso wenig, wie es bisher
eine objektive Kontrollinstanz gibt, die
beurteilt, ob tatsächlich alle Aufgaben im
Weiterbildungskatalog erfüllt wurden.
Manche Assistenzärzte erzählen hinter
vorgehaltener Hand, und das nicht nur
in der Unfallchirurgie und Orthopädie,
dass ihnen Fähigkeiten bescheinigt wur-
den, die sie gar nicht oder nicht im vol-
len Umfang erlernt haben – entweder
weil die Klinik das Verfahren gar nicht
mehr durchführt oder weil niemand da
war, der Zeit hatte, es ihnen beizubrin-
gen. Oder einfach nur weil man sie so
entschädigen wollte für all die administra-
tiven Aufgaben, die sie stattdessen erledi-
gen mussten.
Normalerweise sind Chefärzte nach
solchen Aussagen schnell zur Stelle, um
alles zu relativieren. Und auch Carsten
Perka will keine Angst machen: „Wir ha-
ben in Deutschland meist immer noch
eine hervorragende Versorgung. Aber
der Patient beginnt, die Folge der Eng-
pässe in der Weiterbildung zu spüren.“
Das könne man nicht mehr schönreden.
„Das systematische Herangehen an chro-
nische Schmerzen, kleinere Eingriffe wie
etwa Metallentfernungen, das macht kei-
ner mehr in der Klinik. Wir bilden also
Ärzte aus, die vor allem in der ambulan-
ten Versorgung ihre Patienten nicht
mehr adäquat betreuen können und des-
halb zum Beispiel zu häufig zu Operatio-
nen raten, weil sie andere Behandlungs-
optionen gar nicht ausreichend kennen.“
Thomas Möller sieht das ähnlich. Er
arbeitet seit über zwanzig Jahren als nie-
dergelassener Orthopäde in seiner Praxis
in Speyer. Dort führt er neben der kon-
servativen Medizin auch ambulante Ope-
rationen durch. Aber er sagt: „Man
braucht die konservative Medizin als
Grundstock, auch wenn man operativ ar-
beiten will. Diese konservativen Techni-
ken sind zwar in der Weiterbildungsord-

nung ausreichend vorgesehen, werden
aber in der Klinik nicht mehr genügend
vermittelt und gelebt.“ Wie wichtig die
konservative Medizin in dem Fach ist,
will Möller mit Zahlen deutlich machen:
„Schmerztherapie, Chirotherapie, Bewe-
gungstherapie, manuelle Therapie, Injek-
tionstechniken – es gibt da sehr viele
Möglichkeiten.“ Weniger als fünf Pro-
zent der Patienten in der Unfallchirurgie
und Orthopädie würden am Ende ope-
riert, die meisten würden konservativ be-
handelt. „Diese Techniken sollte der
Arzt beherrschen.“
Laut Weiterbildungsordnung kann
ein junger Arzt ein Jahr seiner Weiterbil-
dung in einer Facharztpraxis verbringen.
Aber nicht allzu viele tun das. Meist aus
zwei Gründen: Sie haben einerseits Be-
denken, dass ihre Weiterbildung dann
länger dauert, weil sie den Pflichtkata-
log nicht so schnell abarbeiten können.
Zweitens bieten niedergelassene Ärzte
nicht überall einen solchen Platz an.
Möller, der niedergelassene Orthopäde
aus Speyer, bildet auch nicht aus. Das fi-
nanzielle Minusgeschäft, das er dabei
machen würde, ist ein Grund. Der Arzt
in Weiterbildung darf nämlich eigent-
lich noch nicht selbständig arbeiten,
kann also dem älteren Arzt kaum Arbeit
abnehmen. Im Gegenteil: Dem jungen
Kollegen Dinge zu zeigen und zu erklä-
ren macht eher zusätzliche Arbeit, für
die der niedergelassene Arzt bisher
meist kein Geld bekommt.
In der Pfalz, wo Möller seine Praxis
hat, hat die Kassenärztliche Vereinigung
die Lage allerdings inzwischen erkannt:
Sie zahlt Orthopäden, die weiterbilden,
nun einen Zuschlag. Das machen Kassen-
ärztliche Vereinigungen zunehmend bun-
desweit für verschiedene Fachrichtun-
gen. Das Problem des Nachwuchsman-
gels wird einfach zu groß.
Doch das reicht Möller nicht. Er for-
dert auch die Krankenkassen auf, sich an
den Weiterbildungskosten zu beteiligen,
um eine gute Versorgung weiter sicherzu-
stellen. Und er verlangt von den Landes-
ärztekammern, die für die Weiterbil-
dungsordnung zuständig sind, dass ein
Jahr in der ambulanten orthopädischen
und unfallchirurgischen Versorgung
Pflicht wird für angehende Fachärzte.
Nach so vielen Gesprächen, die einen
potentiellen Patienten doch eher verunsi-
chern können, ist es geradezu erfri-
schend, mit Anna-Katharina Doepfer zu
sprechen. Sie ist jung, motiviert, zweifa-
che Mutter und hat sich Anfang des Jah-
res mit anderen Kollegen niedergelas-
sen. Die Fünfunddreißigjährige sieht
zwar auch das Problem, dass rund neun-
zig Prozent der Weiterbildung in der
Klinik stattfinden und die angehenden
Fachärzte damit wenig Einblicke in die
ambulante Versorgung haben. Aber sie
sagt auch: „Junge Ärzte müssen selbst
schauen, was sie besonders interessiert,
wo sie ihre Zukunft sehen und wie sie
sich am besten auf das, was sie dann tun
müssen, vorbereiten. Wir sind schon
sehr gut ausgebildet, man muss aber
auch selbst Schwerpunkte setzen.“ So
hat Doepfer, die früh wusste, dass sie
sich niederlassen möchte, immer darauf
geachtet, dass sie viele unterschiedliche
Behandlungsformen und Diagnostikme-
thoden erlernt, damit sie für die ambu-
lante Versorgung breit genug aufgestellt
ist. „Man kann das schon steuern.“
In ihrer Praxis in Hamburg bildet sie
nun auch junge Kollegen aus. „Eine Ge-
meinschaftspraxis bietet sich dafür gut

an, weil hier sowohl die Verantwortung
wie die Kosten auf mehrere Schultern
verteilt werden“, sagt sie.
Auch Chefarzt Paul Grützner will
nicht nur mehr Geld und neue Rahmen-
bedingungen fordern. „Wir müssen in
der Medizin auch flachere Hierarchien
schaffen, jungen Kollegen Verantwor-
tung übergeben und sie motivieren.
Wir müssen offen sein für neue Konzep-
te und nicht in alten Strukturen verhaf-
tet bleiben“, sagt er. Deutschland stehe
zum Beispiel nicht gut da, wenn es

darum gehe, Operieren auch in moder-
nen Simulationskursen und - zentren
zu üben.
Auch Carsten Perka findet ein paar
versöhnliche Worte. „Es ist noch mög-
lich, in Deutschland gut ausgebildet und
sehr gut versorgt zu werden. Aber die
Gesellschaft muss sehen, was im Mo-
ment hinter verschlossenen Kliniktüren
los ist.“ Wenn Politik, Kostenträger und
Ärzte das Problem jetzt nicht gemein-
sam angingen, sei der Abstieg der deut-
schen Orthopäden und Unfallchirurgen

besiegelt. International könne Deutsch-
land dann nicht mehr in der ersten Liga
mitspielen. Da war er wieder – der Fuß-
ballvergleich. Perka scheint es wichtig
zu sein, dass sein Anliegen wirklich über-
all ankommt.
Der Deutsche Kongress für Orthopädie und Unfallchirur-
gie(DKOU), der kommende Woche in Berlin stattfinden
wird, ist nach eigener Aussage der größte Kongress
dieser Fachrichtung in Europa. Professor Carsten Perka,
Professor Paul Grützner und Dr. Thomas Möller stehen
dem Kongress als Präsidenten aus Klinik und Praxis in
diesem Jahr vor.

In dieser Woche
geht es in unse-
rem Gesundheits-
podcast um das
ThemaRücken-
schmerzenund die Frage, mit
welchen Übungen man diese
selbst am besten in den Griff
bekommt. Sie finden die Folge
ab sofort unter: blogs.faz.net/
podcasts.

„LEIB & SEELE“
IM PODCAST
Handwerk:Der deutsche Designer Jan Kath lässt Teppiche in Nepal knüpfen.
Handschrift:In seinem Wohnhaus bei Paris ist Louis Vuitton heute noch lebendig.
Handarbeit:Der Möbeldesigner Antonio Citterio zeichnet nicht am Computer.
Handlung:Eva Longoria träumt davon, eines Tages Rita Hayworth zu spielen.
Handfest:Der Architekt David Chipperfield ist von „Don Quijote“ schwer beeindruckt.

Mehrunterfaz.net/stiloderaufInstagramunter@fazmagazin

Samstag,


  1. Oktober,
    in der F.A.Z.


Praktiker warnen: Wenn Politik, Ärzte


und Krankenkassen nicht gegensteuern, ist


die Versorgung der Patienten gefährdet.


Von Lucia Schmidt


Sind deutsche


Unfallchirurgen


und Orthopäden


noch erste Liga?


Das sieht nur lustig aus, Spencer Tracy im Streckverband im Film von 1963. Doch es gibt zunehmend junge Orthopäden und Unfallchirurgen, die nicht voll ausgebildet sind. Foto Intertopics
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