Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung - 20.10.2019

(Barré) #1
FRANKFURTER ALLGEMEINE SONNTAGSZEITUNG

Wirtschaft (^) 20. OKTOBER 2019 NR. 42 SEITE 19
Nur eine Minderheit der Deut-
schen, die noch nicht im Ruhestand
sind, hat eine präzise Vorstellung
von ihrer finanziellen Lage im Al-
ter: Lediglich 25 Prozent sind über-
zeugt, dass sie ihre finanzielle Lage
im Alter relativ gut einschätzen kön-
nen. Der Rest hat eher vage Vorstel-
lungen. Das gilt auch für die Älte-
ren zwischen 45 und 59 Jahren.
S
eit Tagen warte ich auf meinen
Wildschwein-Braten. Es kann
nur noch eine Frage der Zeit
sein, bis eins dieser kleinen Biester
auf unserer Motorhaube und in Fol-
ge in meinem Kochtopf landet.
Eine ganze Herde, klein und groß
in stattlicher Zahl, stellt sich Tag für
Tag kurz außerhalb unseres Taunus-
städtchens in eine kaum einsehbare
Kurve und kreuzt dort – im Dunk-
len – die Straße. Wie dumm kann
man sein? Da ist kein Zebrastreifen,
keine Ampel, Eber und Wildsäue
rennen einfach irgendwann los, die
Kleinen hinterher, alle ohne Licht.
Wenn sie wenigstens Leuchtwesten
trügen! Aber nichts. Haarscharf war
es nun schon einige Male.
Ans Wohl des Autos mag ich gar
nicht denken, lieber habe ich mir ein
passendes Rezept rausgesucht: Wild-
schwein-Gulasch mit Sauerkirschen
in Rotweinsoße passt wunderbar in
diese trüben Herbsttage. Nur motzt
der Nachwuchs, ist ja klar. Selbst in
einer Familie mit gefestigtem Werte-
gerüst bleiben sie vom Zeitgeist
nicht unberührt. „Fleisch, igitt.
Noch dazu von einem echten Tier“,
empören sie sich. „Ess ich nicht.“ Da
zieht nicht mal das Argument mit
dem Klimaschutz: Der Wildschwein-
konsum ist komplett CO2-neutral, er-
kläre ich. Wir müssen an der Ecke
mit der Herde eh vorbei. Ökologisch
wäre der Bio-Braten hochgradig kor-
rekt, ihn zu verspeisen wäre gerade-
zu ein gutes Werk. Aber darum
geht’s unserer dreiköpfigen Bande
gar nicht. Die essen ja auch lieber
Obst aus Übersee als die Schrumpel-
ware aus dem Garten. So viel zum
CO2.
Auch sonst ist den Kindern eine
gesunde, ausgewogene Ernährung
ziemlich egal. Um den Süßigkeiten-
verzehr zum Beispiel macht meine
Familie sich keinerlei Gedanken.
Kaufe ich nur ein einziges Mal eine
Tafel Schokolade, so ist sie weg, ehe
der Abend anbricht. Und niemand
hat sie gegessen, ist eh klar. Ich
schließe die Köstlichkeit jetzt meist
in mein Büro ein, was mir allerdings
eine unmenschliche innere Stärke ab-
verlangt, zumindest wenn der
Schreibflow sich nicht einstellen
will. Leer ist die Tafel abends so
oder so. Es gibt kein sicheres Süßig-
keiten-Versteck im Haus. Nina hatte
es kürzlich hinten unter dem Gemü-
se probiert. Spitzenidee, meiden
doch gerade die Männer bei uns die-
se Ecke. Doch auch diese Beute fiel



  • ausgerechnet! – meinem Mann in
    die Hände. Möhren, Brokkoli, Spitz-
    kohl, alles blieb unangetastet, nur
    der Lebkuchen fehlte. Keine Diszi-
    plin hat der Mann, keine Ordnung,
    keinen Verstand. Die Ernährungsam-
    pel bringt bei ihm so wenig wie Ver-
    kehrserziehung unter Wildschwei-
    nen. Die laufen auch bei Rot los.


INSTITUT FÜR
DEMOSKOPIE ALLENSBACH

HER MIT DER


WILDSAU!
VON BETTINA WEIGUNY

NULL AHNUNG


VOM ALTER


VOLKES STIMME


EIN BALANCE-AKT


W


ird das denn nie en-
den? Gerade mal zwei
Tage lang sah es so aus,
als habe nun endlich das
Finale in diesem langatmi-
gen Drama namens Brexit begonnen. Es
wäre höchste Zeit dafür, das Publikum
auf beiden Seiten des Ärmelkanals ist
längst nur noch genervt. Viele Bürger in
Großbritannien und den anderen europäi-
schen Ländern haben es gründlich satt,
das politische Trauerspiel immer weiter
ertragen zu müssen. Zu absurd, zu unver-
ständlich und zu wirr ist das Drehbuch.
Und jetzt das: Am Samstagnachmittag
blockierte das britische Unterhaus nach
sechsstündiger Sondersitzung abermals
die Entscheidung über den Brexit. Ei-
gentlich wollte sich Premierminister Bo-
ris Johnson die notwendige Zustimmung
für seinen neuen Austrittsvertrag mit der
EU erkämpfen. Damit wäre der Brexit
endlich beschlossen. Doch die Abgeord-
neten machten dem Regierungschef ei-
nen Strich durch die Rechnung: In ei-
nem Ergänzungsvotum weigerten sie
sich bis auf weiteres, über Johnsons Bre-
xit-Deal überhaupt abzustimmen.
Statt eines historischen Parlamentsbe-
schlusses gab es deshalb wieder einmal
nur eine Verschiebung. Wie es nun wei-
tergeht, ist unklar: Der Regierungschef
kündigte nach der Schlappe an, er werde
trotz der Verzögerung in Brüssel nicht
über eine Verschiebung des Brexits ver-
handeln. Der Termin für den Austritt ist
bisher der 31. Oktober – und eigentlich
wäre Johnson nun, da es abermals keine
Entscheidung gibt, gesetzlich verpflich-
tet, bei der EU eine Verschiebung des
Brexit-Termins zu beantragen. Doch
Johnson weigert sich offenbar: Er werde
darüber nicht mit der EU verhandeln,
sagte er. Damit könnte der Brexit wieder
mal vor Gericht landen.
So kann es nicht mehr weitergehen:
Nach der jüngsten Blockade in West-
minster droht das Ringen um den Brexit
endgültig zur Farce zu werden. Dem soll-
te jetzt rasch ein Ende gesetzt werden –
und zwar von britischer Seite. Die beste
Lösung wäre nach dem abermaligen De-
bakel im Unterhaus ein zweiter Volksent-
scheid, so wie ihn am Samstag auch
Zehntausende von Briten forderten, die
in London für die „People’s Vote“ auf
die Straße gingen.
Der Berliner Wirtschaftsprofessor
Henrik Enderlein brachte es auf den
Punkt: Er sei „brexhausted“, schrieb er
auf Twitter. Der Brexit hat die repräsenta-
tive Demokratie in Großbritannien offen-
kundig an ihre Grenzen gebracht. Das
Parlament in London ist nicht imstande,
eine konstruktive Entscheidung über
den EU-Austritt zu treffen. Stattdessen


wird verzögert, taktiert und blockiert.
Aber immer nur zu sagen, was man nicht
will, ohne sich darüber einigen zu kön-
nen, was stattdessen geschehen soll – das
führt nicht weiter. Zur Erinnerung: Vor
der abermaligen Blockade am Samstag
hat das Unterhaus bereits dreimal gegen
das ursprüngliche Brexit-Abkommen ge-
stimmt, das Johnsons Amtsvorgängerin
Theresa May ausgehandelt hatte.
In anderen Abstimmungen votierten
die Parlamentarier dieses Jahr außerdem
mehrheitlich gegen einen Austritt ohne
Abkommen und gegen ein neues Refe-
rendum. Aber bis heute gibt es im Unter-
haus keine Mehrheit für einen wie auch
immer gearteten Alternativplan. Wenn
das Parlament es nicht schafft, sich in ei-
ner derart wichtigen Frage wie dem
EU-Austritt zu einer Entscheidung
durchzuringen, dann muss eben notge-
drungen das Volk noch einmal direkt be-
fragt werden. Deshalb braucht es ein
zweites Referendum.
40 Monate sind vergangen, seit die Bri-
ten mit einer knappen Mehrheit von
52 Prozent der Stimmen für den Brexit
gestimmt haben. Über Dutzende von
Monaten hinweg haben die Verhand-
lungsteams von Großbritannien und der
EU versucht, sich auf einen für beide Sei-
ten akzeptablen Scheidungsvertrag zu ei-
nigen. Ein ums andere Mal hat der End-
los-Brexit die Tagesordnung europäi-
scher Gipfeltreffen beherrscht. Die EU
und Großbritannien sind wie ein zerstrit-
tenes altes Ehepaar, das sich getrennt
hat, aber trotzdem weiter in der gemein-
samen Wohnung bleibt und sich gegen-
seitig das Leben schwermacht.
Wie sehr die Bürger die Nase voll ha-
ben und dem Brexit-Theater ein Ende
machen wollen, davon geben die Analy-
sen der Demoskopen eine Vorstellung.
Eine Anfang Oktober veröffentlichte
Umfrage in Deutschland ergab, dass
zwei Drittel der Bundesbürger dafür
sind, Tabula rasa zu machen und den Bri-

ten keinen weiteren Brexit-Aufschub
über den 31. Oktober hinaus zu gewäh-
ren. In einer anderen Umfrage sagte die-
sen Monat rund jeder vierte befragte
Deutsche, der Brexit sei ihm mittlerweile
egal. Noch einen Monat zuvor hatte dies
nur etwa jeder Zehnte von sich gesagt.
Auch viele Briten wollen ihre Ruhe
vor dem leidigen Thema. Sie haben
schon lange kein Verständnis mehr da-
für, dass sich die Volksvertreter in Lon-
don immer noch in fruchtlosen Rede-
schlachten und parlamentarischen Win-
kelzügen ergehen, statt endlich einen
Brexit-Beschluss zu fassen. Eine Umfra-
ge auf der Insel zeigte diesen Sommer,
dass ein Drittel der Briten Nachrichten-
programme meidet. Die Mehrzahl nann-
te dafür als Grund das Dauerbombarde-
ment mit Brexit-Meldungen. Da ist es
nur konsequent, dass diese Woche in
Großbritannien ein neuer Fernsehkanal
auf Sendung ging: Auf „Sky News Brexit
free“ können die Zuschauer sicher sein,
nicht mit Nachrichten zum EU-Austritt
behelligt zu werden.
Der wachsende Verdruss der Bürger
über die Brexit-Hängepartie ist das eine.
Darüber hinaus aber steigen die Kosten
immer weiter, je länger unklar bleibt, ob,
wann und wie die Briten denn nun aus
der EU ausscheiden. Das geschieht auf
politischer Ebene: Wenn sich Regie-
rungschefs und Technokraten in Europa
jahrelang den Kopf über den Brexit zer-
martern, bekommen zwangsläufig ande-
re drängende Zukunftsfragen des Staa-
tenbundes weniger Aufmerksamkeit.
Der Brexit ist eine historische Zäsur für
den europäischen Staatenbund, aber für
die Zukunft der EU gibt es wichtigere
Themen – von der dringend nötigen
Schaffung eines digitalen Binnenmarkts
über die Stärkung der Währungsunion
bis zur Gemeinsamen Außen- und Si-
cherheitspolitik.
Die Kosten wachsen aber auch auf
wirtschaftlicher Seite umso weiter, je län-

ger der Brexit in der Schwebe hängt.
Schon diese Ungewissheit allein ist ein
Bremsklotz für die Wirtschaft. Die Lon-
doner Denkfabrik Institute for Fiscal Stu-
dies schätzt, dass die britische Wirt-
schaftsleistung schon jetzt jährlich um
rund 60 Milliarden Pfund niedriger ist,
als wenn es keinen Brexit gäbe.
Die deutsche Wirtschaft, für die
Großbritannien bisher einer der wich-
tigsten Exportmärkte war, leidet eben-
falls unter der Hängepartie. Zwar warnt
die Industrie in Deutschland vor den
Folgen eines ungeordneten Brexits ohne
Abkommen. Aber auch die Unsicherheit
durch einen immer länger dauernden
Verhandlungsmarathon verursacht er-
hebliche Kosten. Immer wieder müssen
die Unternehmen Lagerbestände aufbau-
en für den Fall, dass doch noch ein har-
ter Brexit am Tag X passiert oder am
Tag Y oder am Tag Z. Zudem hemmt
die Unsicherheit über den Fortgang des
Brexits Entscheidungen über den Kauf
von neuen Maschinen und den Bau von
neuen Fabriken.
Das Deutsche Institut für Wirtschafts-
forschung (DIW) in Berlin schätzt, dass
sich die Wachstumseinbußen dadurch
hierzulande seit dem Sommer 2016 auf
zusammen 0,8 Prozentpunkte belaufen.
Die Volkswirte weisen darauf hin, dass
womöglich ein No-Deal-Brexit ökono-
misch für Deutschland auch nicht schäd-
licher wäre, als die Entscheidung immer
weiter in die Länge zu ziehen: „Eine
Fortsetzung der anhaltenden politischen
Hängepartie wäre nicht zwangsläufig mit
weniger Wachstumseinbußen verbunden
als ein harter Brexit“, heißt es in einer
am Freitag veröffentlichten Analyse der
DIW-Ökonomen.
Die Politiker in Großbritannien soll-
ten deshalb jetzt den Weg für ein zweites
Referendum frei machen – im Interesse
des eigenen Landes, aber auch aus Rück-
sicht auf Europa insgesamt. Gewiss: Es
war ein Fehler des früheren Premiermi-

nisters David Cameron, überhaupt einen
Volksentscheid über eine so komplexe
und wichtige Frage wie den EU-Austritt
abzuhalten. Das gilt umso mehr, als Refe-
renden auf nationaler Ebene in Großbri-
tanniens repräsentativer Demokratie
eine Rarität sind und alle Beteiligten ent-
sprechend wenig Erfahrung im Umgang
mit diesem Instrument der demokrati-
schen Willensbildung haben.
Und doch wäre ein zweites Referen-
dum jetzt die beste Lösung: um die Un-
zulänglichkeiten des ersten Referendums
zu korrigieren. Es ist die erfolgverspre-
chendste Möglichkeit, wie die politische
Lähmung durch die Blockade im Unter-
haus überwunden werden kann. Der
Hauptfehler des Volksentscheids vor drei
Jahren war, dass die Bürger damals zwar
wussten, wogegen sie stimmten, wenn sie
für den Brexit votierten – nämlich gegen
den Status quo in der EU. Es war aber
weitgehend unklar, wofür die Wähler
sich eigentlich entschieden, wenn sie ihr
Kreuz bei „Leave“ machten, wie also der
Brexit konkret aussehen sollte. Bis heute
haben die Austrittsbefürworter in Groß-
britannien sehr unterschiedliche Vorstel-
lungen darüber, wie weit man vor allem
wirtschaftlich von der EU abrücken soll.
Die Nordirland-Frage, die sich mittler-
weile als zentrales Dilemma beim Brexit
erwiesen hat, spielte im Referendums-
wahlkampf im Frühjahr 2016 kaum eine
Rolle.
Jetzt dagegen sind die Bürger Großbri-
tanniens sehr viel besser in der Lage,
sich eine fundierte Meinung zu bilden:
Es liegt ein konkreter Austrittsvertrag
vor, um den zweieinhalb Jahre lang ge-
rungen worden ist. Der britische Pre-
mier und Brexit-Anführer Boris Johnson
bezeichnete ihn am Samstag im Unter-
haus als „die beste mögliche Lösung“.
Das Abkommen ist zwar zwangsläufig
weit davon entfernt, die künftigen Bezie-
hungen Großbritanniens zur EU in allen
wichtigen Einzelheiten zu regeln. Diese
Arbeit hat noch gar nicht begonnen, sie
wird weitere Jahre dauern. Dennoch ist
unbestreitbar, dass Bürger heute ein viel
klareres und realistischeres Bild davon ha-
ben als 2016, wie eine Zukunft außerhalb
der EU aussähe.
Warum also nicht die Wähler fragen,
ob sie Johnsons Brexit-Deal mit all sei-
nen Chancen und Risiken wollen oder
doch lieber in der EU bleiben möchten?
Die Entscheidung würde voraussichtlich
wieder knapp ausfallen, deshalb würde es
auch nach diesem Votum in Großbritan-
nien wieder viele Unzufriedene geben.
Aber wie auch immer ein neues Referen-
dum ausginge: Sein Ergebnis brächte
mehr demokratische Legitimität, weil es
auf einer informierten Entscheidung be-
ruhte – und es könnte Europa beim Bre-
xit endlich voranbringen.

Am „Super Saturday“ demonstrierten Zehntausende Menschen in London für einen Verbleib in der EU und für ein zweites Referendum. Foto Reuters


Großbritanniens Parlament schafft es


wieder nicht, eine Entscheidung über den Brexit zu treffen.


So kann es nicht weitergehen.


Von Marcus Theurer


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Rund PSOO Befragte (Bevölkerung von PR Jahren an).
Quelle: Institut für Demoskopie Allensbach F.A.Z.-Grafik Niebel

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