Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung - 20.10.2019

(Barré) #1

20 wirtschaft FRANKFURTER ALLGEMEINE SONNTAGSZEITUNG, 20. OKTOBER 2019, NR. 42


D

ie Frage, warum manche Län-
der wirtschaftlich besser entwi-
ckelt sind als andere, animiert
Ökonomen und Entwicklungs-
politiker oft zum großen Wurf. Da gibt
es schöne Tableaus der Entwicklungsstu-
fen, die ein Land nahezu naturgesetzlich
durchschreiten müsse. Es gibt ausufern-
de Erklärungen, warum das regionale
Klima die Entwicklung fördere oder ver-
hindere. Und es gibt eine Vielzahl von
Ausbeutungstheorien, wonach der böse
und kapitalistische Westen den Armen in
Afrika, Asien und Lateinamerika keine
Chance lasse.
Geht es um praktische Fragen der Ent-
wicklungspolitik, werden die großen
Würfe zu modischen Wellen. Mal beton-
ten Entwicklungspolitiker die Bedeutung
von Investitionen in die Schwerindustrie.
Afrika bekam die Stahlwerke, die Europa
nicht mehr brauchte. Dann galt das
Humankapital als entscheidend, das Wis-
sen, die Ausbildung und die Fähigkeiten
der Menschen vor Ort. Die Bildung wur-
de zu einem Schwerpunkt der Entwick-
lungspolitik, auch der deutschen. Später
entdeckten die Ökonomen die Bedeu-
tung des wirtschaftspolitischen Rah-
mens, des Unternehmers und der Anrei-
ze, die menschliches Handeln lenken. Es
wurde modern, mangelhafte Entwick-
lung als Ergebnis von falschen, fehlen-
den oder von zu vielen Regulierungen zu
analysieren.
Diese großen Würfe kollidieren oft
mit der Erfahrung von Entwicklungshel-
fern vor Ort. „Die Frauen kommen vom
Feld und klagen über Rückenschmer-
zen“, berichtete vor Jahrzehnten Bruder
Johannes, ein Missionar in Tansania. Die
Agrarhelfer zeigten den Frauen, dass die
Rückenschmerzen ausblieben, wenn man
nicht tief gebückt mit einer kurzen Ha-
cke, sondern aufgerichtet mit einer lan-
gen Hacke den Boden bearbeite. Das sei
eine gute Idee, meinten die Frauen in
der Erzählung des Missionars: „Dann ge-
hen sie nach Hause, nehmen ihre kurze
Hacke und machen weiter.“

Die drei Ökonomen, die in diesem
Jahr den wirtschaftswissenschaftlichen
Preis der Schwedischen Reichsbank in
Erinnerung an Alfred Nobel zuerkannt
bekommen haben, verbinden in ihrer
Forschung die Ökonomik mit solchen Er-
fahrungen vor Ort. Sie suchen nicht den
großen entwicklungspolitischen Wurf,
sondern die Erfolge und das wissen-
schaftliche Verstehen im Kleinen.
Wie kann man die Schulausbildung
von Kindern verbessern, wenn Schüler
und Lehrer oft nicht zum Unterricht er-
scheinen und das Geld für Schulbücher
fehlt, ist eine solcher Fragen. Michael
Kremer, der 54 Jahre alte amerikanische
Harvard-Ökonom, hat sie in Dörfern in
Kenia untersucht und kam zu dem nüch-
ternen Ergebnis, dass mehr nicht im-
mer mehr ist: Die schulische Ausbil-
dung in den Dörfern wurde nicht bes-
ser, wenn es mehr Schulbücher gab. Sie
hing auch nicht davon ab, ob die Schul-
kinder ein kostenloses Mittagessen als
Anreiz zum Schulbesuch erhielten.
Wenn Schulbücher einen positiven Ef-
fekt hatten, dann zeigte er sich nur bei
den besten Schülern.
Die beiden anderen Preisträger, die 46
Jahre alte gebürtige Französin Esther Du-
flo und ihr Mann Abhijit Banerjee, ein
58 Jahre alter Amerikaner indischer Her-
kunft, fanden in vergleichbaren Feldver-
suchen in Indien Ähnliches heraus. Die
schulischen Erfolge verbesserten sich
nicht, wenn Lehrer weniger Schüler be-

treuten, so das Forscherpaar vom Massa-
chusetts Institute of Technology in Bos-
ton. Es half dagegen, wenn Lehrer sich
mit Zusatzstunden und Nachhilfe beson-
ders um die Problemschüler kümmer-
ten. Es half auch, wenn Lehrer befristete
Verträge erhielten, deren Verlängerung
vom schulischen Erfolg der Schüler ab-
hängt. Solche Studien deuten darauf hin,
dass es in der Entwicklungspolitik weni-
ger auf das Ausmaß der Finanzhilfen an-
kommt, sondern darauf, wo und wie das
Geld verwendet wird.
Wie findet man so etwas heraus? Man
probiert es aus. Kremer, Duflo und Ba-
nerjee betreiben oft in Zusammenarbeit
mit privaten Hilfsorganisationen kontrol-
lierte Feldversuche. Manche Schulen
etwa bekamen Lehrbücher, andere freies
Mittagessen und weitere gar nichts. Sol-
che Experimente können mehrere Jahre
dauern und Tausende Schüler umfassen.
So lässt sich nach einiger Zeit im Ver-
gleich erkennen, was wirklich wirkt.
Feldversuche erlauben, Grenzen der öko-
nomischen Theorie zu überwinden.
Theoretiker können unterschiedliche
und gegenläufige Anreize beschreiben
und analysieren. Welche Anreize stärker
als andere sind, zeigt aber nur der Blick
in die Praxis.
Die Methode lässt sich erfolgreich für
andere Fragen verwenden. Die Preisträ-
ger zeigten etwa, dass in armen Ländern
selbst niedrige Preise für Medikamente
zu hoch sein können. Dass es billiger
sein kann, arme Menschen auch für kos-
tenlose Schutzimpfungen noch zusätz-
lich finanziell zu belohnen. Dass Men-
schen in Entwicklungsländern mit dem
täglichen Überleben oft voll beschäftigt
sind und sich deshalb nicht hinreichend
um ihre Zukunft kümmern. Das hat
überraschende Folgen. Befristete Finanz-
hilfen für Dünger wirken besser als dau-
erhafte Subventionen. Die Befristung
motiviert die Menschen, das Angebot
wirklich anzunehmen und die Entschei-
dung nicht ständig zu verschieben.

Banerjee und Duflo haben auch her-
ausgefunden, dass die vielfach gerühm-
ten Mikrokredite in Entwicklungslän-
dern dem Dorf oder der Region nicht
viel bringen, mit Ausnahme von beson-
ders motivierten Unternehmern. Das ist
eine wichtige Erkenntnis, erhielten doch
im Jahr 2006 der Erfinder der Mikrokre-
dite, Muhammad Yunus, und seine Gra-
meen Bank für die entwicklungspoliti-
sche Innovation den Friedensnobelpreis
zugesprochen.
Auf die schwierigste Frage, die sich
bei dieser Art der Forschung stellt, gibt
es keine Antwort: Lassen die Ergebnisse
von Feldversuchen in einem Dorf in Ke-
nia sich auf ein Dorf in Indien übertra-
gen? „Andere Länder, andere Sitten“,
fällt einem sofort als gewichtigstes Ge-
genargument ein. Wahrscheinlich wird
das dauerhaft verhindern, dass aus der
Forschung der neuen Preisträger ein gro-
ßer Wurf entsteht. Das muss kein Scha-
den sein. „Lasst tausend Blumen blü-
hen“, das entspricht eher dem Denken
der drei Ökonomen. Die Feldversuche
sollen kleine Probleme vor Ort lösen.
Sie verbinden sich mit der Hoffnung,
dass viele gelöste Schwierigkeiten auch
ein Land insgesamt voranbringen. „Es
ist ein Fehler zu glauben, dass Armut ein
einziges Problem ist“, sagt Banerjee.
Die drei Ökonomen hätten mit ihren
Arbeiten und Forschungsmethoden die
wissenschaftliche Entwicklungspolitik
umgekrempelt, betont die Schwedische
Akademie der Wissenschaften. Das mag
stimmen, kann sich aber wie so viele frü-
here Ideen der Forschung als Modewelle
erweisen. Wichtiger ist vielleicht, dass
die Methode der vergleichenden Feldver-
suche Ökonomen dazu zwingt, vor Ort
die wirklichen Probleme und das Klein-
Klein der wirtschaftlichen Entwicklung
kennenzulernen. Solche Reisen bilden
manchmal mehr als das Nachdenken im
Elfenbeinturm.
Mehr über die Preisträger im Internet unter http://www.nobelpri-
ze.org.

S


onntag ist Brötchen-Tag –
und das im ganzen Land. Es
mag etwas anachronistisch
wirken, diese Nachricht als
Neuigkeit zu verkünden, während
Sie womöglich gerade die Sonn-
tagszeitung bei einem opulenten
Frühstück mit ebensolchen Bröt-
chen lesen. Ist es aber nicht. Die
Nachricht ist brandheiß, gerade
ein paar Tage alt. In die Welt ge-
setzt hat sie der Bundesgerichts-
hof, also jenes höchste deutsche Zi-
vilgericht, das im Leben der Ver-
braucher schon so manche Fehlent-
wicklung geradegerückt hat.
Bäckereien dürfen nun am Sonn-
tag den ganzen Tag über Brötchen
verkaufen und sind nicht an die en-
gen Grenzen des Ladenschlussge-
setzes gebunden, die von Bundes-
land zu Bundesland übrigens
höchst verschieden sind. Jedenfalls
sind sie es dann nicht, wenn sie
noch einige Tische und Stühle in
ihrem Verkaufsraum unterbringen
und damit vorgaukeln können,
dass sie in Wahrheit ein Café mit
angeschlossener Ladentheke sind.
Dafür gelten liberalere Regeln.
Und sollten Zweifel aufkommen,
ab wann diese bahnbrechende
Neuerung Wirkung entfaltet,
lohnt es sich ausnahmsweise ein-
mal, Günter Schabowski zu zitie-
ren: „Nach meiner Kenntnis gilt
das sofort, unverzüglich.“ Das ist
der Vorteil von höchstrichterlicher
Rechtsprechung.
Das lenkt den Blick auf eine der
leidenschaftlichsten Kulturdebat-
ten der Deutschen, die immer wie-
der hochkocht, selbst wenn gewich-
tigere Dinge anstehen, das Brexit-
Chaos zum Beispiel. Die zentrale
Frage dieser Kulturdebatte ist:
Wie heilig ist uns der Sonntag?
Diese Frage war in der Tat ein-
mal rein religiös gemeint, der freie
Sonntag geht schließlich auf die
christliche Tradition Deutschlands
zurück. Die Kirchen haben den
Gottesbefehl, am siebten Tag für
Ruhe zu sorgen, schon seit je vehe-
ment verteidigt, auch um für das
notwendige Publikum in der Mes-
se zu sorgen. In Deutschland wa-
ren sie damit besonders erfolg-
reich, die Angelsachsen etwa sind
weniger dogmatisch. Zumindest
was den Kommerz angeht, gleicht

dort jeder Tag der Woche dem an-
deren – mit der Folge, dass sich
auch der Arbeitstakt vieler Men-
schen ändert: In den Supermärk-
ten und Elektroläden muss schließ-
lich irgendjemand diese Wochen-
endkunden bedienen.
Dieser pragmatische Ansatz fin-
det viele Anhänger. So mancher
fühlt sich allzu stark in seiner priva-
ten Lebensführung gegängelt,
wenn er am Sonntag auf andere
Freizeitaktivitäten ausweichen
muss als das Shoppen. Aber interes-
santerweise stirbt die Frage nach
der Heiligkeit des Sonntags auch
in Zeiten massenhafter Kirchenaus-
tritte nicht aus. Oder anders ausge-
drückt: Man muss nicht an Gott
glauben, um zu wünschen, dass das
Tempo an einem Tag in der Wo-
che gedrosselt wird.
Dabei wird die gute alte Sonn-
tagsruhe ohnehin schon in vielerlei
Hinsicht gestört. Das Bäckerhand-
werk jubelte nach dem Karlsruher
Richterspruch auch deshalb so
laut, weil ihm die sonntägliche Be-
triebsamkeit an Tankstellen und in
bahnhofsnahen Supermärkten ein
Dorn im Auge ist. Dort werden
Brötchen mit dem fadenscheinigen
Argument feilgeboten, sie seien
notwendiger Reisebedarf.
Auch das ist eine Wahrheit, die
oft unter der Ladentheke verbor-
gen bleibt: Es ist vor allem der
Wettbewerbsdruck, der die Bäcke-
reien in den Sonntagsverkauf
drängt. Er dehnt sich naturgemäß
aus. Jede Ausnahme, die geschaffen
wird, liefert eine Begründungshilfe
für neue Ausnahmen. Die Politik
hat das erkannt und schreitet jetzt
stärker bei offensichtlichen Verstö-
ßen gegen das Ladenschlussgesetz
ein. Dabei bekommt sie von Seiten
der Gerichte oft Schützenhilfe.
Bei der Semmel war das diesmal
anders. Ihr kam zugute, dass sie
ein vergängliches Produkt ist: Ein-
mal in den Ofen geschoben, hält
sie allenfalls einige Stunden. Noch
dazu ist der Sonntag wie geschaf-
fen für sie: Es ist der einzige Tag
in der Woche, in der die Men-
schen Zeit haben, ein wenig länger
miteinander am Frühstückstisch zu
verweilen. Das allerdings liegt nur
daran, dass der Sonntag gerade
kein Tag wie alle anderen ist. Und
das sollte auch so bleiben.

Die drei neuen
Nobelpreisträger für

Wirtschaft verzichten
auf große Theorien.
Das ist kein Schaden.

Von Patrick Welter


S


chuldenmachen ist plötzlich wieder
in Mode. Wie konnte das passieren?
Eine paradoxe Erklärung hat Mark
Twain: „Von jetzt an werde ich nur so
viel ausgeben, wie ich einnehme, selbst
wenn ich mir dafür Geld borgen muss!“
Wer sich verschuldet, kann Geld, das er
nicht hat, ausgeben, als hätte er es – eine
angenehme Illusion.
Während der Kredit umgangssprach-
lich häufig kritisch gesehen wird und als
moralisch problematisch gilt, bestehen
Ökonomen auf der moralischen Neutrali-
tät des Schuldenmachens. Nichts sei ein-
zuwenden gegen einen auf Freiwilligkeit
beruhenden Vertrag, in dem der eine als
Gläubiger und der andere als Schuldner
auftritt, erst recht nicht, wenn beide sich
an den Vertrag halten und die Schulden-
last rechtzeitig getilgt wird. Mehr noch:
Kredite sind eine wichtige Vorausset-
zung für Wachstum und Wohlstand. Ein
Erfinder oder Unternehmer mit einer
pfiffigen Idee könnte sie nicht umsetzen,
wenn ihm das Geld dafür fehlt. Kreditge-
ber – seit der Neuzeit sind das vor allem
Banken – haben zu Unrecht einen
schlechten Ruf. Sie bringen das Geld
vom Sparer zum Investor und schmieren
damit den Motor des Wachstums. Wenn
Staaten sich verschulden, kommen die da-
mit finanzierten Investitionen künftigen
Generationen zugute, denen bessere Stra-
ßen, Schulen oder Schießgewehre zur
Verfügung stehen.
Doch vieles im Leben hat zwei Seiten:
Weil die Zukunft ungewiss ist, kommt
es nicht selten vor, dass zum vereinbar-
ten Zeitpunkt der Tilgung kein Geld da
ist. Dann bleibt nur die Insolvenz. Und
der Gläubiger schaut in die Röhre.

Wenn Staaten zu lange über ihre Verhält-
nisse leben, dann drohen Staatsbankrott
und Jahre bitterer Austerität mit Steuer-
erhöhungen und Ausgabenkürzungen.
Denn die Schulden von heute sind die
Steuern von morgen. Im schlimmsten
Fall folgt einer Krise privater Schulden
eine schwere Staatsschuldenkrise. So war
es in den Jahren nach 2007. Banken ver-
liehen Geld an private Immobilienbesit-
zer, ohne vom Schuldner ausreichend Ei-
genkapital zu verlangen. Als das schief-
ging („Subprime-Krise“), mussten die
Staaten, selbst wenn sie bereits bis über
die Halskrause verschuldet waren, auch
noch die Bankschulden übernehmen:
Eine der schwersten Finanzkrisen seit
der Weltwirtschaftskrise war da.
Das Trauma der Finanzkrise hat eine
Zeitlang zu einer skeptischen Rhetorik
gegenüber dem Schuldenmachen ge-
führt. Deutschland hat sogar eine Schul-

denbremse in der Verfassung verankert.
Schaut man freilich auf die Statistik des
Internationalen Währungsfonds (IWF),
so bleibt von der skeptischen Rhetorik in
der Praxis nicht viel übrig: Zwischen
2007 und 2017 ist die Verschuldung der
Industrieländer kontinuierlich von 70 auf
fast 110 Prozent der Wirtschaftsleistung
gestiegen. Dramatisch sieht es auch bei
den Unternehmen aus, deren Schulden
weltweit zwischen 2006 und 2019 von 25
Billionen auf mehr als 50 Billionen Dol-
lar angeschwollen sind. Das Schuldenrisi-
ko sei heute höher als während der Fi-
nanzkrise 2008, mahnte kürzlich die
neue Direktorin des IWF, die Bulgarin
Kristalina Georgiewa.
Einer der Hauptgründe für die große
private und öffentliche Lust an der Ver-
schuldung besteht darin, dass das Geld
seit Jahren so billig zu haben ist wie sel-
ten. Wer könnte dieser Verführung wi-

derstehen? Doch inzwischen dreht sich
auch die ökonomische Rhetorik billigend
in Richtung höherer Schulden. Ein beson-
ders originelles Argument kommt von
dem Wirtschaftswissenschaftler Carl
Christian von Weizsäcker (F.A.S. vom


  1. September). Es geht, grob zusammen-
    gefasst, so: Weil die Menschen immer äl-
    ter werden, müssen sie immer mehr Geld
    zurücklegen für die Zeit, in der sie kein
    Erwerbseinkommen mehr haben, aber
    immer noch große Konsumwünsche.
    Wenn man den Bürger zur Vorsorge ver-
    pflichtet (staatlich und privat), so Weizsä-
    cker, müsse er auch eine Möglichkeit ha-
    ben, sein Geld sicher anzulegen. Ergo:
    Der Staat sollte bei Nullzinsen die Staats-
    verschuldung erhöhen, um auf diese Wei-
    se den Leuten Anlagemöglichkeiten
    (Staatsanleihen) zu bieten.
    Das ist ziemlich provokant, erst recht,
    wenn man weiß, dass Weizsäcker kein


Keynesianer ist, dem der Staat nicht ge-
nug auf Pump leben kann. Die Politiker
werden es gleichwohl gerne hören, die-
nen ihnen neue Schulden immer schon
als Instrument zum Wählerfang. Dabei
besteht auch Weizsäcker darauf, es mit
der Verschuldung nicht zu übertreiben,
Maß und Mitte einzuhalten.
Damit sind wir bei der eigentlich kniff-
ligen Frage: Wenn Staatsschulden an
sich weder gut noch schlecht sind, hätte
man doch gerne harte Kriterien zur Un-
terscheidung guter von bösen Schulden.
Auf der Suche nach solchen Kriterien
kommt ein gerade erschienener Über-
blicksband gerade recht: „Vom Kredit
zur Schuld“, herausgegeben von den
Schweizer Ökonomen Christoph Schalt-
egger und Ivan Adamovich. Danach las-
sen sich eine Reihe von Anhaltspunkten
zur Trennung guter von bösen Schulden
ausfindig machen:
(1) Simpel, aber eindeutig wären klare
Obergrenzen. Die Maastricht-Kriterien
erlauben maximal 60 Prozent des Brutto-
inlandsprodukts (BIP). Die Ökonomen
Carmen Reinhart und Kenneth Rogoff
kamen aufgrund historischer Untersu-
chungen zur Erkenntnis, dass eine Ver-
schuldung von 90 Prozent des BIP eine
kritische Grenze darstelle. Doch solche
Zahlen bleiben ziemlich willkürlich – mit
der Folge, dass sich niemand daran hält.
(2) Statt mit einer Obergrenze wird
deshalb häufig inhaltlich argumentiert.
Demnach wären staatliche Investitionen
(Infrastruktur, Bildung) gut, staatlicher
Konsum (Sozialausgaben) schädlich.
Doch auch dieses Kriterium ist problema-
tisch: Staaten können alles und jedes „In-
vestition“ taufen. Und die Präferenzen
der Bürger können sich ändern. Ange-

sichts der heutigen Klimapanik sind brei-
te Staatsstraßen für dicke SUVs alles an-
dere als erwünschte „gute“ Investitionen.
(3) Es ließen sich utilitaristisch neue
Schulden dann rechtfertigen, wenn der
Nutzen für Wachstum und Wohlstand
am Ende höher ist als die Kosten von
Zins und Tilgung. Doch auch hier gilt,
dass „Nutzen“ eine zweifelhafte Größe
ist und außerdem Gewinner und Verlie-
rer ungleich verteilt sind, was ein dickes
Gerechtigkeitsproblem mit sich bringt.
(4) Carl Christian von Weizsäcker
schließlich nimmt Preissignale als Unter-
scheidungskriterium: Bei Null- oder Ne-
gativzinsen wäre eine höhere Neuver-
schuldung angezeigt. Steigt der Zins, ist
dies ein Signal, die Verschuldung zurück-
zufahren. Das Zinskriterium ist raffi-
niert, weil flexibel. Indes: Wenn die Risi-
koprämien für Staatsanleihen steigen,
könnte es schon zu spät sein. Das ist kein
theoretischer, sondern ein empirischer
Einwand, schaut man sich die Fiskalge-
schichte Griechenlands oder Italiens in
den letzten Jahrzehnten an.
Letztlich, so das einigermaßen enttäu-
schende Resümee, gibt es im Vorhinein
kein sicheres Kriterium, gute von
schlechten Schulden zu unterscheiden.
Dass Schulden schlechte Schulden sind,
weiß man erst, wenn es zu spät ist. Ich
bleibe skeptisch gegenüber den neuen
Schuldenermunterern und halte Institu-
tionen der disziplinierenden Selbstbin-
dung (Schuldenbremse) weiterhin für un-
erlässlich. Wer das zu ängstlich findet,
soll sich die überdurchschnittliche Fre-
quenz großer Schuldenkrisen in der jün-
geren Vergangenheit vor Augen führen:
Der Preis des Pump-Kapitalismus ist
(zu) hoch.

DER SONNTAGSÖKONOM


HANKS WELT


Gönnt


dem Sonntag


seine Ruhe


Von Corinna Budras


Der Preis des


Pump-Kapitalismus


Wie lassen sich gute und schlechte Schulden


unterscheiden?Von Rainer Hank

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