Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung - 20.10.2019

(Barré) #1

FRANKFURTER ALLGEMEINE SONNTAGSZEITUNG, 20. OKTOBER 2019, NR. 42 politik 3


D


er Massenmörder Anders
Breivik schrieb 1516 Seiten,
um seinen Wahnsinn zu er-
klären. Er faselte von Kul-
turmarxismus und islami-
scher Kolonisierung. Der Massenmör-
der Brenton Tarrant kam auf 74 Seiten.
Er bezeichnete sich als „ethnonationalis-
tischen Ökofaschisten“. Der Attentäter
von Halle, Stephan B., schrieb nur elf
Seiten. Aber sein Text ist kein Manifest.
Er ist eher eine Spielanleitung.
Über neun Seiten führt B. seine Waf-
fen vor, zum Beispiel eine „12 gauge
Slam-Bang shotgun with tactical front
grip“. Seine Ziele sind ihm dagegen nur
vier Sätze wert: „1. Belege die Funktions-
fähigkeit improvisierter Waffen. 2. Hebe
die Moral anderer unterdrückter Weißer
durch das Verbreiten der Kampfaufnah-
men. 3. Töte so viele Anti-Weiße wie
möglich, bevorzugt Juden. Bonus: Sterbe
nicht.“ Dann zählt er mögliche „Achieve-
ments“ auf, so heißen Errungenschaften
in Computerspielen. Zum Beispiel:
„Knuspriger Kebab – Brenne eine Mo-
schee nieder“. Er wollte die Tat aber
nicht nur so beschreiben wie ein Spiel,
sondern auch so aussehen lassen. Mit ei-
ner Helmkamera übertrug B. seine Mor-
de live im Internet, das Video glich ei-
nem Ballerspiel. In seiner Vernehmung
sagte B., er habe die vergangenen Jahre
viel Zeit im Internet verbracht. Dort, wo
sein Slang und seine Taten nicht nur ver-
standen, sondern auch gefeiert wurden.
Der Vorwurf, Computerspieler wür-
den zu Amokläufern, ist so alt wie der
Verdacht, aus Hiphop-Fans würden
Gangster. Besorgte Ältere stehen augen-
rollenden Jüngeren gegenüber. Aber was
haben jene erlebt, die sich tatsächlich im
Internet radikalisieren? Wie kurz ist der
Weg von einem handelsüblichen Compu-
terspiel zu einer geschlossenen Gruppe,
in der zu Rassenmorden aufgerufen wird?
Niemand muss das Ballerspiel „Call of
Duty Mobile“ auf sein Handy laden. Es
dauert aber nur eine Minute. Spezialein-
heiten kämpfen gegen Guerrillas. Wer
mitmachen will, muss seine Waffen aus-
wählen und „Start“ drücken, mehr nicht.
Ein Countdown ertönt. Fünf. Vier.
Drei. Zwei. Eins. Auf dem Bildschirm
steht: „Erledigen Sie die Spieler des geg-
nerischen Teams.“ Die Welt ist in ein fah-
les Licht getaucht, Nukleardorf nennen
sie diesen Ort. Es ist eine amerikanische
Vorstadt, verlassen nach einer radioakti-
ven Verseuchung. Im Treppenhaus des
Landhauses hängen noch die Familienbil-
der auf der Blümchentapete, im Garten
baumelt eine Kinderschaukel, aber benut-
zen kann man sie nicht. Dafür ist diese
Welt nicht gemacht. Ein Schulbus steht
verlassen in der Mitte der Dorfstraße.
Soldaten huschen vorbei. Sie laufen hin-
ter den Bus. Da wird geschossen, Män-
ner schreien. Mister6886 trägt ein halb-
automatisches Scharfschützengewehr,
der Spieler Teobarsottini eine vollauto-
matische Maschinenpistole. Das sowjeti-
sche Maschinengewehr RPD mit Ziel-
fernrohr, Schalldämpfer und Vollmantel-
geschossen ist schwerer, aber die Waffe
tötet drei, vier, fünf Feinde ohne Nachla-
den. Also: Geduckt an der Ligusterhecke
am Landhaus vorbei, hinter den Schul-
bus in Deckung, Granate in das obere
Fenster werfen, wo ein Scharfschütze lau-
ert. Enemy Sniper Eliminated, feindli-
cher Scharfschütze ausgeschaltet. Wir be-
kommen drei Orden.
Mit dem Maschinengewehr im An-
schlag geht es weiter zum Nachbarhaus,
zwei Feinde laufen in Richtung Straße. Ei-
ner zappelt im Kugelhagel, als hätte er in
eine Steckdose gefasst. Der Zweite
feuert, aber bevor er trifft, ist sein Maga-
zin leer. Das wäre sein Ende, aber auch
unser Magazin ist leer. Wir hüpfen auf
der Stelle und versuchen nachzuladen, be-
vor der andere schießen kann. Mögliches
„Achievement“ in diesem Level: „Töten
Sie 300 Feinde in Mehrspieler-Spielen.“
Sechs Spielstunden später haben wir
Dutzende Orden errungen. Einer für
Brutalität, drei für Skrupellosigkeit, 16
für Gnadenlosigkeit, 51 für Blutrünstig-
keit. Das sind aber leere Worte. Das Ge-
fühl ist ein anderes als Blutdurst. Eher
wie der Nervenkitzel, wenn man Verste-
cken spielt. Ein erschossener Feind


wirkt nicht wie getötet, sondern wie er-
wischt. Man fühlt nichts beim Schießen.
Das Gewehr ist nur ein Werkzeug, um
Spielfiguren wegzumachen. Wenn sie
tot sind, verschwinden ihre Leichname
nach wenigen Sekunden.
Im Chat des Spiels suchen ständig
Deutsche nach anderen Deutschen oder
Franzosen nach anderen Franzosen, um
zusammenzuspielen: „Wer Deutsch?“,
schreiben sie oder: „Cherche FR“. Wer
sich einem Clan anschließen will und
nach Deutschen sucht, findet „deutsche-
Einheit“ und „deutsches-Team“. Aber
auch: „DeutschesReich88“ – 88 heißt
„Heil Hitler“. Der Spieler HTLR, mit
Hakenkreuz dahinter, lädt zum Spielen
ein. Genau wie MaRy93, laut ihrem Pro-
filbild eine Mutter mit Baby auf dem
Arm. Keiner muss mit Leuten spielen,
die Nazi-Codes verwenden, wenn er
nicht will.
Wer Egoshooter mag, hört nicht bei
Handyspielen auf. Wahre Gamer zo-
cken am Rechner und schießen mit der
Maus. Ihre Spiele sind wie der echte
Krieg, zum Beispiel „Hell Let Loose“.
Hier kann man Schlachten aus dem
Zweiten Weltkrieg nachspielen, Wehr-
macht gegen Alliierte. Man muss nur
das Spiel im Internet laden, einer Ein-
heit beitreten – und los.
Ein verlassenes Dorf in Frankreich, es
ist 1944, Nebelschwaden ziehen vorbei.
Der Boden ist zerfurcht von Panzerket-
ten. Unser Trupp kriecht hinaus auf das
Feld. Gräser neigen sich im Wind, in der
Ferne steht ein Kirchturm. Am verfalle-
nen Bretterzaun eines Obstgartens
kommt der Trupp zum Stehen, ein Sol-
dat baut sein Maschinengewehr auf. Wo
sind überhaupt die Gegner? „Hört mich
jemand?“ – „Laut und klar“ – „Achtung,
Feindpanzer auf der Haupstraße!“ Dann
ein schwarzer Bildschirm und die Mel-
dung: You have died.
Gleich sind wir zurück im Dorf, die-
ses Mal geht es über die Hauptstraße.
Am Rand liegen leblose Körper mit ver-

drehten Gliedmaßen. Eine Gestalt
huscht über die Straße – Licht aus,
schwarzer Bildschirm. You have died.
Immer und immer wieder kommt diese
Meldung. Nervig, ständig getötet zu
werden. Wer überleben will, braucht
Rat. Er muss lernen, sich wie ein echter
Soldat zu verhalten, minutenlang im
Schlamm auszuharren und über Hunder-
te von Metern den Helm eines Feindes
von einem Stein zu unterscheiden.
In den Pausen fachsimpeln die Spieler
darüber, welche Flanke in der Schlacht
vernachlässigt wurde und was nötig ist,
um einen guten Truppführer abzugeben.
Man müsse die anderen leiten können,
sagt einer. Jemand antwortet, er wolle
sein Glück mal versuchen. Viele tragen
das Eiserne Kreuz als Symbol vor und
hinter ihrem Spielernamen.
Doch diese Gespräche reichen nicht,
um ein besserer Kämpfer zu werden.
Also zu Steam, der Plattform, auf der
man das Spiel laden und sich mit ande-
ren austauschen kann. Es gibt dort viele
Chats über Kriegsführung: wie man ei-
nen Panzer einsetzt und wie Fußsoldaten
ihn vor Angriffen schützen können. Es
geht um die Frage, welche Waffen die Al-
liierten eingesetzt haben und welche die
Achsenmächte. Was ist mit den Unifor-
men, sind die im Spiel richtig darge-
stellt? Warum fehlen eigentlich die Ha-
kenkreuze?
Darüber gibt es Streit bei Steam. Die
einen wollen, dass alles so echt aussieht
wie möglich, den anderen ist es egal.
Schnell driftet die Debatte ab. Ari
schreibt auf Englisch: „Wenn Du denkst,
dass Nazis schlechte Menschen waren,
ist das Deine Sache, Mann. Aber ich wer-
de Dir nicht helfen, wenn die Juden die
Welt übernehmen.“ Sein Kommentar
wird von Moderatoren schnell gelöscht.
Doch es geht im gleichen Tonfall weiter.
„Nazis schlechte Leute? Hahaha“,
schreibt einer. Und was sei dann mit der
EU? Aber man solle lieber noch ein biss-
chen zocken.

Einige Spieler halten dagegen. Sie kri-
tisieren die mit den rassistischen Beiträ-
gen. Doch solche Gemäßigte sind bei
Steam nur eine Gruppe unter vielen. In
einem Chat diskutieren ein amerikani-
scher Nationalist und ein deutscher Neo-
nazi seitenlang über die Zahl der Toten
an der Westfront. Der Nationalist
meint, am Omaha Beach seien dreimal
mehr Deutsche gestorben als Alliierte –
in Wahrheit starben etwas mehr alliierte
Soldaten als deutsche. Überhaupt, fin-
det der Nationalist, die Amerikaner sei-
en viel bessere Kämpfer gewesen, das
Spiel solle das gefälligst auch so darstel-
len. Der Nazi kontert, die Amerikaner
seien allesamt „Grünschnäbel“ gewesen,
die blind in jede Falle gerannt seien. Das
habe nach dem Krieg jeder deutsche Sol-
dat bestätigt. So geht es hin und her.
Schließlich macht der Nazi Churchill
für den Zweiten Weltkrieg verantwort-
lich. Hitler habe lediglich „Wohlstand
und Frieden für die Deutschen und für
Europa gewollt“. Wer mehr wissen wol-
le, könne ihn gerne persönlich anschrei-
ben.
Das Gerede bei Steam verklebt die Ge-
danken. Es fällt schwerer, zwischen rich-
tig und falsch zu unterscheiden, weil alle
hier so verrückt sind. Alles kann eine
Lüge sein oder die Wahrheit oder was
auch immer. Als die Diskussion mal wie-
der abdreht, schreibt einer: „Seid ihr alle
4chan Loser, oder was?“ 4chan ist ein an-
deres Forum. Man muss nur die Adresse
im Browser eingeben.
Natürlich landen nicht nur Spieler
bei 4chan, jeder kann die Seite aufrufen.
Es gibt zu jedem Thema eine Seite und
mehrere für Games. Deshalb fühlt man
sich als Spieler gleich heimisch. Die
Leute reden genauso wie auf Steam,
benutzten dieselben Wörter und Abkür-
zungen. Sie diskutieren über „Larps“,
Live Action Role Playing, darüber, wel-
che Spiele sich lohnen, und über die Re-
aktionszeiten des australischen Inter-
nets.

Alle bleiben anonym, nennen einan-
der „Anon“. Viele verschicken Anime-
bildchen, manche mit Hakenkreuzflag-
ge. Jemand teilt die Grafik eines Fuchses
in SS-Uniform. Mit der Diskussion
über Australien hat das nichts zu tun.
Ein anderer macht sich lustig über
Schwarze. Hat auch nichts mit der
Diskussion zu tun. Trotzdem bekommt
er für diesen Witz stürmischen Beifall
im Chat. Vielleicht weil die Leute es be-
freiend finden, über etwas zu lachen,
von dem sie wissen, dass es unmoralisch
ist. Also lachen viele. Die ganze Zeit.

Haha. Nigger. Haha. Faggot. Kike.
Schimpfworte für Schwule und Juden.
Haha. Bis sie keine Puste mehr haben.
Wer eine Auszeit braucht, wechselt
den Kanal. Es gibt alles, auch Anons, die
süßlich miteinander reden. Also ab in
den Weeb-Chat. Ein Weeb ist jemand,
der Animes mag, Zeichnungen von japa-
nischen Schulmädchen und lachenden
kleinen gelben Pokémons. Manche
Weebs kuscheln nachts im Bett mit le-
bensgroßen Kissen, auf die Bilder von de-
voten japanischen Mädchen gedruckt
sind. Auch Stephan B. nennt sich in sei-
ner Spielanleitung einen Weeb.
Im Chat schickt einer Zeichnungen
von Schulmädchen mit großen Brüsten an
alle. Woanders machen sie kindliche Wort-
spiele, einer tippt „Tablettenverpackung“,
der Nächste „Verpackungsmüll“, der
Nächste „Mülleimer“, der Nächste „Ei-
merhenkel“. In einem namenlosen Kanal
mit einer Erdbeere als Logo sucht ein
Mädchen einen Sugardaddy, einen älteren
reichen Mann, der sie aushält. Ob sie das
ernst meint – keine Ahnung. Hier kann al-
les ein Witz sein oder keiner oder bitterer
Ernst. Die wässrigen Augen der Phantasie-
mädchen blicken stumpf aus ihren Zeich-
nungen heraus. Einsame Weebs glotzen
in den Kanal und sagen nichts. Wärme
werden sie hier nicht finden. Nur Bild-
chen.
Wohin dann? Warum nicht in die
krassesten Gruppen?
Manche Anons hatten Chats erwähnt,
in denen man sich noch freier austau-
schen könne als bei 4chan. Sie sind
schwer zu finden. Bis zu diesem Punkt
konnte ein Gamer sich einfach treiben
lassen. Wer jetzt noch tiefer einsteigen
will, muss es wirklich wollen. Es soll
Hardcore-Chats geben, in denen zu
Morden aufgerufen wird. Die sind bei
der Plattform Discord, und für die
braucht man eine Einladung: einen
Link. Der ist oft nur für wenige Stunden
gültig. Am besten ist es, ihn exklusiv in
einer Direktnachricht zu erhalten oder
dabei zu sein, wenn jemand ihn im Fo-
rum teilt.
Bei 4chan fragt einer, ob jemand weiß,
wie er in die „geheime Politikgruppe“
reinkomme. Viele Anons machen sich
lustig. „Glownigger“ schreibt einer. Da-
mit ist ein verdeckter Ermittler gemeint.
Jemand teilt die Einladung zu einer
Gruppe bei Discord, in der Jugendliche
über Geschlechtsumwandlungen reden
und Bernie Sanders loben, den linken
amerikanischen Senator. Wohl eine fal-
sche Fährte, die von Radikalen ablenken
soll. Niemand sonst lädt zu einer Grup-
pe ein. Keiner sagt was. Doch dann
schreibt einer, er könne zwar nicht mit
dem gesuchten Kanal dienen, dafür emp-
fehle er einen Chat auf Telegram, das ist
so was Ähnliches wie Whatsapp.
Wer den Namen der Gruppe kennt,
kann rein. Hier ist es egal, ob man Deut-
scher ist, Amerikaner oder Pole. Allein
die Hautfarbe zählt. Weiß ist gut, alles
andere verhasst. Der Chat ist voll mit
den Tatvideos von Massenmördern, die
hier „Saints“, Heilige, genannt werden.
Zu ihnen zählen Brenton Tarrant, Pa-
trick Crusius und zuletzt: Stephan B.,
der Täter von Halle.
Dann sehen wir einen Text. Jemand
schreibt, dass Twitter verseucht ist mit
Linken und dass die nicht ahnen, wie
weit die Revolution der Weißen schon
ist. Darunter ein Video, es dauert nur we-
nige Sekunden. Irgendwer hat es „Let’s
go BOWLING“ genannt, lasst uns ke-
geln gehen: Vier schwarze Frauen stehen
auf einer Straße irgendwo in Amerika.
Sie gestikulieren, als würden sie sich mit
jemandem streiten. Ein Auto rast heran,
trifft sie von hinten. Sie fliegen wie Ke-
gel durch die Luft. Dann schlagen sie auf
dem Asphalt auf.

Fotos Activision, Screenshots F.A.S.

Der Attentäter


von Halle wollte


seinen Anschlag


aussehen lassen


wie ein Videospiel.


Welcher Weg


führt vom Game


zum Mord?


Von Justus Bender


und Morten Freidel


Erledigen Sie die Spieler des gegnerischen Teams

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