Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung - 20.10.2019

(Barré) #1

4 politik FRANKFURTER ALLGEMEINE SONNTAGSZEITUNG, 20. OKTOBER 2019, NR. 42


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ie Bundesregierung will auf den
zunehmenden Rechtsextremis-
mus in Deutschland antworten.
Nach dem antisemitischen Anschlag von
Halle soll das Verfassungsschutzgesetz
überarbeitet werden. Jetzt also doch
noch. Die Sicherheitsbehörden warten
schon länger auf das „Gesetz zur Harmo-
nisierung des Verfassungsschutzrech-
tes“, wie es genau heißt. Dessen Sinn er-
klärt der CDU-Innenpolitiker Chris-
toph Bernstiel, der seinen Bundestags-
wahlkreis in Halle hat, so: „Wir wollen
damit den Instrumentenkoffer der Er-
mittler mit Werkzeugen des 21. Jahrhun-
derts ausstatten.“ Es geht nicht um
mehr Befugnisse, aber die bisherigen Be-
fugnisse sollen endlich auch für die digi-
tale Welt gelten.
Dazu gehören Online-Durchsuchun-
gen mit sogenannten Staatstrojanern
oder auch die Möglichkeit, verschlüssel-
te Messenger-Dienste zu entschlüsseln,
etwa Whatsapp-Gruppen. Im Gesetzent-
wurf steht zudem, dass Internetplattfor-
men die Daten der Nutzer deutlich län-
ger speichern müssen, damit sie nicht
schon gelöscht sind, wenn die Ermittlun-
gen gegen Kriminalität und Hass im In-
ternet überhaupt erst beginnen. Tech-

nisch sei das alles nicht problematisch,
sagen die Ermittlungsbehörden. Es feh-
len allerdings bisher die rechtlichen
Grundlagen.
Eigentlich könnte es die längst ge-
ben, zumal Union und SPD im Koaliti-
onsvertrag vereinbart hatten, die Befug-
nisse des Verfassungsschutzes zu erwei-
tern und zu vereinheitlichen, „insbeson-
dere bei der Datenerhebung und Daten-
speicherung“. Allerdings sollte das
„maßvoll“ geschehen und „sachge-
recht“, wie die Sozialdemokraten vor-
sichtshalber in den Vertrag hineinschrie-
ben. Und unter Ausweitung der parla-
mentarischen Kontrolle.
Einen Gesetzentwurf aus dem Bundes-
innenministerium gibt es seit März, im
Juni wurde im Bundestagsplenum mal
kurz darüber debattiert. Da lag das Pa-
pier schon einige Zeit im SPD-geführ-
ten Justizministerium, und da liegt es im-
mer noch. Die damalige Justizministerin
Katarina Barley sagte, sie wolle den Ent-
wurf nicht einmal zur Kenntnis nehmen.
Denn er sei nichts weiter als ein Wunsch-
katalog des Innenministeriums.
Für ihre rigorose Haltung hatte Barley
drei Gründe. Einer stammte noch aus
dem Jahr zuvor, als der damalige Verfas-

sungsschutzpräsident Hans-Georg Maa-
ßen sein Amt verlor – und seine Behörde
bei der Gelegenheit viel Vertrauen. Bar-
leys zweiter Grund war der Widerstand
der SPD. Unter anderem machte er sich
an einem Punkt fest, der eigentlich nur
ein Detail des Ganzen war: Datenspeiche-
rung auch von Kindern. Minister Horst
Seehofer hatte das damit begründet, dass
viele Kinder im dschihadistischen Umfeld
unterwegs seien. Ein zwölf Jahre alter Jun-
ge beispielsweise hatte mit einer selbstge-
bauten Bombe einen Anschlag in Ludwigs-
hafen verüben wollen. Die Sache war ge-
scheitert, weil die Bombe nichts taugte.
Der dritte Grund für Barleys Skepsis
schließlich war eigennützig. Sie stand im
Europa-Wahlkampf als das Gesicht ihrer
Partei. Da wollte sie Seehofer und der
Union den Erfolg nicht zugestehen. Die
Wahl war im Mai, Barley wechselte die
Bühne. Nachfolgerin im Ministerium wur-
de Christine Lambrecht.
Dann kam der Sommer, die Lage än-
derte sich schlagartig. Von Dschihadis-
ten war keine Rede mehr. Anfang Juni
wurde der Kasseler Regierungspräsident
Walter Lübcke auf der Terrasse seines
Hauses erschossen. Der Mörder kam aus
dem rechtsextremen Milieu, er trieb sich

auch in den einschlägigen Foren im In-
ternet herum. Und als in der vergange-
nen Woche der Anschlag auf die Synago-
ge und einen Döner-Imbiss in Halle ver-
übt wurde, war es zuerst Sachsen-An-
halts Ministerpräsident Rainer Haseloff,
der klarstellte: Wer hier von einem Ein-
zeltäter spreche, verkenne, wie sich
Rechtsextreme in der digitalen Welt radi-
kalisieren, in den Chatrooms, der Ga-
mer-Szene, im Darknet. Seehofers alter
Gesetzentwurf erschien auf einmal wie
eine aktuelle Antwort auf die Tat von
Halle. Der Täter dort war der Polizei zu-
vor nie aufgefallen. Alle entsprechenden
Datenbanken erbrachten keinen Treffer.
Dabei beschrieb er in der Vernehmung
freimütig, welche Bedeutung sein stun-
denlanges Surfen im Internet für die Vor-
bereitung der Tat hatte, etwa das Video
vom Anschlag in Christchurch. Im Dar-
knet hatte er sich auch die Teile für seine
Waffe zusammengekauft.
Eine Sprecherin des Justizministeri-
ums sagte dieser Zeitung, der Gesetzent-
wurf sei jetzt in der Ressortabstimmung.
Das Seehofer- und das Lambrecht-Minis-
terium verhandelten. Die Daten von
Minderjährigen stehen nach wie vor
drin. Lambrecht sagte vor ein paar Ta-

gen in einem Zeitungsinterview: „Natür-
lich sprechen wir auch über die mögliche
Überwachung von Computern und
Handys durch die Nachrichtendienste.“
Seehofers Vorschläge gingen allerdings
zu weit, sie seien „schwerwiegende
Grundrechtseingriffe“. Doch bei allen
Bedenken macht die SPD mittlerweile
Zugeständnisse. Das hat auch damit zu
tun, dass es inzwischen einen gesellschaft-
lichen Konsens gibt, gegen wen diese vor
allem vorgehen sollen: den Rechtsextre-
mismus. Der SPD-Innenpolitiker Uli
Grötsch sagt, seit Jahren schon habe er
immer wieder darauf hingewiesen, dass
die größte Gefahr vom Rechtsextremis-
mus ausgehe. „Ich bin froh, wenn der
Kampf gegen Rechtsextremismus und
Rechtsterrorismus jetzt bei allen oben
auf der Agenda steht.“ Das sei sehr in sei-
nem Sinne und im Sinne seiner Partei.
Sein Kollege Bernstiel von der CDU ver-
weist auf die Gefahr des Extremismus
schlechthin: „Jede gewaltverherrlichende
Ideologie muss bekämpft werden. Links-
extremismus hilft nicht gegen den
Rechtsextremismus und umgekehrt.“
Am Montag machten Verfassungs-
schutzpräsident Thomas Haldenwang
und der Präsident des Bundeskriminal-

amtes Holger Münch öffentlich noch ein-
mal Druck für die Gesetzesänderung.
Ebenso die CDU. Generalsekretär Paul
Zimiak sagte, seine Partei stelle das In-
strumentarium zur Bekämpfung von
Rechtsextremismus und Antisemitismus
auf den Prüfstand. „Dafür müssen wir
Rechtsgrundlagen verändern oder neu
schaffen.“ Unter den Innenpolitikern der
Unionsfraktion wird seit Jahren auf mehr
Zentralismus beim Verfassungsschutz ge-
drängt, weil es ineffizient sei, neben dem
Bundesamt Verfassungsschutzämter in al-
len Bundesländern zu unterhalten. Mit
der SPD allerdings wird sich das so
schnell nicht ändern.
Und derzeit bemühen sich ja auch die
Sicherheitsbehörden in den Ländern um
mehr Kompetenzen bei der Internet-
überwachung. In Sachsen-Anhalt hat der
Innenminister vor wenigen Wochen das
neue Verfassungsschutzgesetz in den
Landtag eingebracht, um „die Vorausset-
zung für Eingriffe in informationstechni-
sche Systeme mit technischen Mitteln
zur Datenerhebung zu regeln“. Auch
Schleswig-Holstein baut derzeit ein
Team aus Spezialisten auf, die extremisti-
sche Bestrebungen im Netz aufspüren
sollen, Schwerpunkt Rechtsextremismus.

D


as Amazonasgebiet stellt die ka-
tholische Kirche vor enorme
Herausforderungen. Es ist riesen-
groß, dünn besiedelt und schwer zugäng-
lich. Es gibt viel zu wenig Priester, und
die können ihre Gemeinden oft nur ein-
mal im Jahr besuchen, um dort die Eu-
charistie zu feiern und die Sakramente
zu spenden. Die praktische Arbeit der
Glaubensverkündung und der Seelsorge
wird deshalb schon seit Jahrzehnten von
verheirateten Männern und vor allem
von Frauen geleistet, in den allermeisten
Fällen von Angehörigen indigener Völ-
ker. Außerdem ist der in Amazonien prak-
tizierte katholische Glaube stark mit den
heidnischen Symbolen der Indigenen ver-
bunden. Er ist eine ganz besondere Ent-
faltung des christlichen Samens, nach-
dem er auf den Ackerboden des Regen-
waldes gefallen ist – so jedenfalls drückte
es Papst Franziskus am Donnerstag nach
einem Treffen mit vierzig Vertretern in-
digener Völker am Rande der Amazo-
nien-Synode im Vatikan aus.
Die Synode „Amazonien – neue
Wege für die Kirche und eine ganzheitli-
che Ökologie“ wird am kommenden
Sonntag enden und hat dann drei Wo-
chen gedauert. 185 sogenannte Synoden-
väter nehmen teil, die meisten aus den
neun Staaten des Amazonasbeckens. Sie
sind Bischöfe, Priester und geweihte Or-
densbrüder. Die Synodenväter sind bei
den Plenarsitzungen und in den Arbeits-
gruppen nicht nur redeberechtigt, sie
dürfen am Ende auch über das Schlussdo-
kument abstimmen, das dann Papst Fran-
ziskus zur Begutachtung vorgelegt wird.
Aber auch Frauen nehmen teil. Gan-
ze 35, das ist ein Rekord, wie der Vatikan
betont. „Synodenmütter“ sind die weibli-
chen Teilnehmer aber nicht. Denn die
Frauen dürfen zwar mitreden, aber
nicht über das Schlussdokument abstim-
men. Und schließlich gibt es noch die
„besonderen Gäste“ wie etwa den frühe-
ren UN-Generalsekretär Ban Ki-moon,
den amerikanischen Ökonomen Jeffrey
Sachs und den deutschen Klimaforscher
Hans Joachim Schellnhuber.
Die Amazonien-Synode ist keine
Regionalsynode, die bloß auf einen
geographischen Ausschnitt Lateinameri-
kas schaut, sondern im emphatischen
Sinn eine Globalsynode. Deshalb ist
das, was am Ende herauskommen wird,
auch für alle anderen Katholiken span-
nend. Denn es geht vor allem um die so-
genannten Viri probati. Das sind gestan-
dene ältere Männer mit Ehefrau und
Kindern. Die äußerst strittige Frage ist,
ob sie zum Priesteramt zugelassen wer-
den sollen. Zudem diskutieren die fast
300 Teilnehmer darüber, welche Rolle
Frauen in der Weltkirche spielen sollen.

In einem im Juni veröffentlichten, gut
hundertseitigen Arbeitspapier zur Vor-
bereitung der Synode wird eine umfas-
sende Debatte in der Kirche über die
Priesterweihe von verheirateten Män-
nern und über das Diakonat für Frauen
ausdrücklich befürwortet. Viele Passa-
gen dürften in das Schlussdokument
einfließen.
Bisher berichten die Synodenteilneh-
mer übereinstimmend, dass es ganz über-
wiegend harmonisch zugehe: Man kön-
ne offen sprechen, finde respektvoll Ge-
hör, sogar Verständnis, heißt es. Konser-
vative Katholiken stehen der Amazonien-
Synode dagegen offen feindselig gegen-
über. Ihr Vorwurf lautet: Vor allem die
in Amazonien ansässigen Priester und
Bischöfe aus Deutschland seien es, die
ein bestimmtes Bild von der Kirche dort
prägten. Die Forderung nach Locke-
rung des Zölibats komme gar nicht von
den katholischen Indigenen selbst.
Für sie war eine Anekdote, die ein aus
Deutschland stammender Bischof dieser
Tage am Rande des Treffens zum Bes-
ten gab, deshalb ein gefundenes Fressen:

Als der Bischof eine besonders abgelege-
ne Gemeinde besuchte und die Mitglie-
der seiner versprengten Herde wieder
einmal beklagten, dass ihr Hirte nur so
selten zu ihnen komme, habe der Bi-
schof ihnen entgegnet, sie sollten doch
in ihren eigenen Reihen einen jungen
Mann finden, der der Berufung zum ka-
tholischen Priesteramt zu folgen bereit
sei. Antwort: Das gehe nicht, denn im
Dorf spreche ja niemand Deutsch.
Die Idee, dass vor allem Deutsche ge-
weiht würden, kommt daher, dass seit
Jahr und Tag auffällig viele deutschspra-
chige oder deutschstämmige Geistliche
und Theologen in Amazonien im Einsatz
sind – bei den entlegenen Gemeinden, an
der befreiungstheologischen Ideenfront
und auch in den Führungspositionen.
Der Generalrelator der Synode, der als
eine Art Präsident der Versammlung die
inhaltliche Arbeit der Synode steuert, ist
etwa der von deutschen Vorfahren ab-
stammende brasilianische Kardinal Clau-
dio Hummes. Hummes ist zudem Ehren-
präsident des 2014 gegründeten kirchli-
chen Panamazonien-Netzwerks Repam.

Repam verdankt seine Gründung
dem ehemaligen Kardinal und Erzbi-
schof von Buenos Aires, dem heutigen
Papst Franziskus. Das Netzwerk bereite-
te maßgeblich die Themen für die Ama-
zonien-Synode vor: mit dem Anspruch,
die Missionsbischöfe und Ordensleute
wüssten aus eigener Anschauung um
die Lebenswirklichkeit der überwie-
gend indigenen Katholiken in Amazo-
nien – und nicht nur vom Hörensagen,
wie die Kurie im fernen Rom. Ihr infor-
meller Wortführer ist der aus Vorarl-
berg stammende Bischof Erwin Kräut-
ler. Kräutler war mehr als ein halbes
Jahrhundert in Amazonien tätig. Schon
vor Synodenbeginn hatte er sich über-
zeugt gezeigt, dass Papst Franziskus
„ganz auf unserer Linie“ sei bei dem
Streben nach einer Weltkirche, die „bis
zu den äußersten Peripherien geht, und
zwar nicht nur zu den geographischen,
sondern den existentiellen“. Noch in
der ersten Synodenwoche ließ Kräutler
wissen, nach seiner Einschätzung seien
etwa zwei Drittel der Synodenväter für
die Lockerung des Zölibats und für die

Priesterweihe der Viri probati. „Ich
glaube, es gibt keine andere Möglich-
keit“, sagte Kräutler beim Pressebrie-
fing im Vatikan, „denn die indigenen
Völker verstehen den Zölibat nicht.“
Auch solle für Frauen das Diakonat als
„offizielles Dienstamt“ geöffnet wer-
den, denn schon heute würden zwei
Drittel der priesterlosen Gemeinden in
Amazonien von Frauen geleitet.
Kurz vor dem Ende der zweiten Syno-
denwoche drang dann doch eine dissi-
dente Stimme nach außen. Bischof John-
ny Eduardo Reyes aus Puerto Ayacucho
in Venezuela regte an, dem Priesterman-
gel in Amazonien statt mit der Locke-
rung des Zölibats mit einer Art Umver-
teilung der globalen Priesterschaft zu be-
gegnen. „All die Priester und
Ordensleute, die wir im Fernsehen se-
hen“, sagte Reyes, „studieren die alle in
Rom und sind dort unabkömmlich? Es
stimmt etwas mit der Verteilung von
Priestern und Ordensleute nicht.“
Tatsächlich leben von den weltweit rund
1,3 Milliarden getauften Katholiken
mehr als zwei Drittel im globalen Sü-

den, zumal in Lateinamerika, Afrika und
Asien. Die Versorgung der Gläubigen
im Norden mit Priestern ist dennoch
deutlich besser. In Europa sind mehr als
vierzig Prozent der rund 415 000 Pries-
ter weltweit tätig, aber dort leben nur
noch wenig mehr als zwanzig Prozent al-
ler Katholiken. In Brasilien muss sich
ein Priester um mehr als sechsmal so vie-
le Gläubige kümmern wie ein Priester
in den reichen Vereinigten Staaten.
Konservative Kritiker von Franziskus
und dessen Einsatz für Amazonien arg-
wöhnen, der Papst aus Argentinien und
seine befreiungstheologisch beseelten
Mitkämpfer aus dem deutschen Sprach-
raum verklärten die „grüne Hölle“ des
Regenwaldes zum paradiesgleichen Mo-
dell für die Weltkirche. Amazonien, wo
der Anteil der Katholiken im letzten hal-
ben Jahrhundert von 95 Prozent auf
rund 50 Prozent zurückgegangen sei,
tauge aber gerade nicht als Ideenwerk-
statt für eine Kirchenreform. Man könn-
te einfach mehr Priester hinschicken. Es
müssten ja nicht nur ursprünglich
deutschsprachige sein.

Bei einer Synode


diskutieren


Katholiken über


die Abschaffung


des Zölibats.


Zwei Drittel sollen


dafür sein.


Von Matthias Rüb


Kampf gegen digitale Rechtsextremisten


Monatelang blieb der Entwurf für das neue Verfassungsschutzgesetz einfach liegen. Jetzt könnte es schnell gehen.Von Frank Pergande


185 Väter ohne Söhne


Foto dpa
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