FRANKFURTER ALLGEMEINE SONNTAGSZEITUNG, 20. OKTOBER 2019, NR. 42 politik 5
D
er Lehrer setzt einem Kind ei-
nenorangen Helm mit einer
langen Antenne auf. Es kann
jetzt nichts mehr sehen, weil
über seinem Gesicht eine Alufolie
hängt. Es kann nichts mehr hören, weil
auf seinen Ohren Kopfhörer sitzen. Das
Kind ist seiner Sinne beraubt, steht
irgendwo rum. Es soll eine bestimmte
Strecke ablaufen. Seine Mitschüler
geben ihm die Befehle. Sie klopfen auf
seinen Rücken, das Kind setzt sich in Be-
wegung. Pro Klopfer ein Schritt. Klop-
fer linke Schulter: Drehung nach links.
Klopfer rechte Schulter: Drehung nach
rechts. Klopfer Helm: Stopp. Manch-
mal rempelt das Kind irgendwo an.
In der Nächsten Stunde bringt der
Lehrer einen zweiten Lehrer mit, er
heißt Günter Howind. Und der hat viele
kleine blinkende Geräte dabei. Die Schü-
ler juchzen. Da ist etwa eine Maus. Auf
ihrem Rücken leuchten Tasten. Die Schü-
ler können die Tasten drücken und da-
durch die Roboter-Maus steuern. Da ist
auch eine Schlange, deren Körper die
Kinder zusammensetzen und dadurch
länger und länger machen können. Jede
einzelne Verlängerung ist ein Befehl dar-
über, in welche Richtung die Schlange
als nächstes kriecht. Die zwei Lehrer bau-
en ein Parcours, die Schüler sollen die
Schlange so zusammensetzen, dass sie
die Hindernisse bewältigt. Irgendwann
liegen die Kinder auf dem Boden, disku-
tieren wild durcheinander, reißen an den
Teilen – und schreien auf, als sie sehen,
dass die Schlange am Ende doch an die
Wand stoßen wird.
In der darauffolgenden Stunde geht’s
dann endlich wirklich los. Günter Ho-
wind bringt viele kleine Pappschachteln
mit. „Was machen wir heute?“, quakt di-
rekt ein Kind los. Wie auf Kommando
stürmt der ganze Haufen nach vorne
und will in die Schachteln schauen. Ho-
wind verweist sie ruhig auf ihre Bänke
und verteilt dann die Kästchen. „Ich
weiß schon, was da drin ist“, ruft ein
Mädchen mit einer roten Kirsche auf
dem Shirt. „Oha, das stinkt!“, ruft ein an-
deres. Auf ihren Ohrläppchen grasen
rosa-weiß glitzernde Einhörner. „Wollt
Ihr mal reinschauen?“, fragt Howind.
„Jaaaaa“, schallt es zurück, und die Meu-
te reißt die Schachteln auf.
Drinnen liegt etwas, das aussieht wie
ein kleiner flacher Metallstern und jede
Menge anderes Zeug: Kabel, Batterien,
Tütchen, Aufkleber. Auch ein kleines
Heft mit der Aufschrift „Digitale
Bildung. Einfach. Machen.“ Howind
fragt: „Wenn ihr zu Hause ein neues
Gerät bekommt, wie macht ihr das
dann? Lest ihr zuerst die Gebrauchs-
anleitung, oder legt ihr gleich los?“ Im
Chor rufen einige zurück: „Wir lesen
die Gebrauchsanleitung!“ Die Schüler
sind in der dritten Klasse, alt genug,
um auszurechnen, wann es sich lohnt zu
lügen. Howind meint: „Ehrlich? Also
ich mach das nicht so. Wenn ich was
Neues bekomme, probiere ich es immer
gleich aus.“
Er geht mit den Schülern nun den In-
halt der Schachtel durch, fragt, was sie
sehen, was sie lesen, was sie verstehen
und was nicht. Die Schüler wissen, was
ein USB-Anschluss ist und dass das
schwarze Kästchen bestimmt für die
Batterien gedacht ist. Aber sie wissen
nicht, was „Reset“ bedeutet oder das
Wort „Leuchtdiode“. Alle Wörter, die
unklar sind, werden an die Tafel ge-
schrieben. Keine Kreidetafel, ein White-
board. Also eine Art großes Touchpad,
ein bisschen so wie das, auf dem Jörg
Schönborn in der ARD immer die
Wahlergebnisse präsentiert. Man kann
Grafiken und Bilder zeigen, aber genau-
so auch darauf schreiben. Bei Howind
sehen die Kinder auf dem Whiteboard
nun ein Foto des flachen Metallsterns
aus ihrer Pappschachtel. Der Stern
heißt Calliope, wie die griechische
Muse, und ist ein kleiner Mini-Compu-
ter, mit dem Kinder Programmieren ler-
nen können. Howind malt Pfeile auf
das Whiteboard. So kann jedes Kind
sehen, wo auf seinem Calliope das
Wort „Prozessor“ steht und wo ein ro-
ter Knopf ist.
Die Drittklässler sind total dabei,
ihre Finger sind fast ununterbrochen
oben. Viele sind so aufgeregt, dass sie
sich mit Mühe auf den Stühlen halten.
Ihre Köpfe sind wie Superassoziations-
maschinen, wie kleine Braintornados.
Zu „A1“ fällt einem Mädchen ein „Wie
die Autobahn!“; ein Junge mit einem
Ampelmännchen-Pulli entdeckt auf
dem Stern „eine Burg“ – ein Anschluss.
Howind steht vorne wie ein Ideenbändi-
ger. Er macht das schon lange. Eigent-
lich ist er längst im Ruhestand. Aber
das Thema Medienbildung ist seine Lei-
denschaft. Seit Jahrzehnten beschäftigt
er sich mit Computern im Unterricht,
seinen ersten hat er 1984 an einer För-
derschule eingesetzt. Seit einiger Zeit
hat er den Calliope entdeckt.
Obwohl – die Kinder glauben noch
nicht ganz, dass der Calliope ein Compu-
ter ist. Ihnen fehlt der Bildschirm. „Da
drauf sieht man doch gar nix!“, meint das
Mädchen mit den Einhörnern auf den
Ohrläppchen. Howind lächelt. Er weiß,
dass die Kleinen heutzutage fast keine
Laptops mehr kennen – geschweige
denn einen PC. Dass sie mit der Maus
nicht mehr umgehen können. Die meis-
ten haben zu Hause nur Zugang zu ei-
nem Tablet oder Smartphone. Ein Com-
puter, das ist für sie ein Display. Howind
sagt: „Na gut, wollen wir mal schauen,
ob das ein richtiger Computer ist.“ Aus
einem Jungen platzt es heraus: „Zusam-
menbauen???“ Und im Chor antworten
alle: „Jaaa!“
Als Erstes müssen die Batterien in das
Kästchen. Das Kästchen wird dann an
den Metallstern angeschlossen. Die Kin-
der reißen die Tüten auf und legen los,
manche stecken die Köpfe zusammen,
andere wursteln sich allein durch. Kein
Einziger schaut vorher in die Bedie-
nungsanleitung. Ein Mädchen quiekt:
„Meiner hat ein Geräusch gemacht!“
Ein anderes mit bunten Fingernägeln
sagt: „Bei mir steht eine 1.“ Ihre Nachba-
rin mit den Einhörnern sagt: „Bei mir
steht ein T.“ Aber die mit den bunten
Fingernägeln dreht den Calliope um:
„Du hältst das falsch herum!“ Ein ande-
rer drückt eine Taste, und auf dem Stern
läuft nun ein Schriftzug durch, wie auf
einem Bahnhof, wenn sich der Zug ver-
spätet hat. Nur viel schneller, und nur
die einzelnen Buchstaben. Ein Mädchen
murrt: „Hey, ich kann nicht so schnell
lesen!“ Aber irgendwann hat sie es raus:
HALLO, zeigt der Calliope.
Howind will, dass die Kinder jetzt mal
den Reset-Knopf drücken. Calliope zeigt
wieder eine 1. „Der startet wieder neu!“,
ruft einer sofort zurück. Howind ist zu-
frieden. Er sagt: „Ich finde, ihr seid heu-
te wirklich sehr aufmerksam.“ Und ein
Junge, der in der AG immer ganz vorne
sitzt, entgegnet: „Natürlich sind wir auf-
merksam, wenn es um soooowas geht!“
Der Calliope soll Spaß machen. Das
ist die Idee seiner Entwickler und För-
derer. Der Mini-Computer ist ein Pro-
jekt, das sich eine Handvoll Leute ausge-
dacht hat. Sie wollten ein Gerät, das
man direkt einsetzen kann, ohne viel in-
stallieren und ohne eine Programmier-
sprache beherrschen zu müssen. Die
Idee: Irgendwann soll jedes Kind in
Deutschland einen Calliope besitzen –
umsonst. Das Bundesministerium für
Wirtschaft unterstützt das Projekt, aber
auch viele große Firmen wie Google
oder SAP mischen mit. Das Kalkül der
Firmen ist klar: Sie sehen Schule als ei-
nen Ort, an dem Kompetenzen erlangt
werden. In diesem Fall: Digitalkompe-
tenz. Schüler von heute sind für sie die
Arbeitskräfte von morgen. Howind sagt
dazu, er habe sich viele Jahre sehr kri-
tisch mit Lobbyismus beschäftigt, aber
mittlerweile sehe er es pragmatisch:
Wenn der Staat es nicht schaffe, selbst
einen Computer für die Schüler zu ent-
wickeln, dann müsse man eben das neh-
men, was da sei.
Und tatsächlich hängt viel davon ab,
wie die Lehrer den Computer im Unter-
richt einsetzen. Den Drittklässlern
macht’s gerade richtig Spaß. Sie haben
kapiert, dass die Nummer 1 auf dem
Calliope bedeutet, dass sie ein Spiel star-
ten können. Es heißt „Orakel“. Howind
sagt: „Wir fragen den Calliope jetzt
mal: Ist der Herr Scharhag ein netter
Lehrer?“ Die Kinder juchzen. Herr
Scharhag, der eigentliche Lehrer, steht
in einer Ecke und lacht. Er hat die PC-
AG vor einigen Jahren an seiner Grund-
schule eingeführt. Außerdem ist er Lei-
ter des Medienzentrums Main-Taunus.
Medienzentren gibt es überall in
Deutschland. Sie sind eine Art Informa-
tions- und Ansprechstelle für Lehrer,
die mit und über Medien unterrichten
wollen. Scharhag lädt Howind immer
wieder mal ein, wenn es um den
Calliope geht. Er hält sich dann dezent
zurück und greift nur ein, um die
aufgeregten Schüler ein bisschen zur
Ruhe zu bringen.
Jetzt schauen ihn alle an. Howind be-
fragt das „Orakel“. Die Dioden leuchten
rot auf: ein Smiley. Howind sagt: „Es hat
funktioniert, er ist ein netter Lehrer.“
Glück gehabt, denn das Orakel entschei-
det zufällig. Den Kindern ist das egal, sie
wollen jetzt alle was fragen. Das Mäd-
chen mit den Kirschen auf dem T-Shirt
zuerst: „Bin ich eine nette Schülerin?“
Das Orakel verneint mit einem Mund
nach unten. Wildes Geschrei unter den
Schülern. Jeder will nun wissen, ob er
ein netter Schüler ist. Wortfetzen fliegen
durch den Raum. „Was? Ich bin doch
voll nett!“ oder „Yeah, ich bin nett!“ oder
„Dieser Calliope, der ist doof!“
Howind zeigt den Kindern noch an-
dere Spiele. Dann ist die Stunde fast zu
Ende. „Dürfen wir den Calliope für im-
mer behalten?“, fragt ein Mädchen.
„Nein, das geht nicht“, sagt Howind.
Die Mini-Computer gehören dem
Medienzentrum und sind auch für
andere Kinder gedacht. Enttäuschung
in der Klasse. Aber nächste Woche wird
der Calliope dann an den PC ange-
schlossen. Ein Mädchen ruft: „Jaaa, wir
sind nächste Woche endlich am PC!“
Dann packen alle ihre Sachen und
stürmen raus.
In den nächsten Wochen werden die
Kinder einfache Programme schreiben
lernen. Sie werden dem Calliope Befeh-
le geben, so wie sie zuvor ihrem Mit-
schüler mit dem Helm und der blinken-
den Schlange Befehle gegeben haben.
Sie werden keine komplizierte Program-
miersprache lernen, sondern die Befeh-
le als Bausteine am PC zusammenset-
zen, etwa den Baustein „Wiederhole so
oft wie möglich“ oder „Spiele ganze
Note C“ mit „Wenn Pin 1 gedrückt“.
Der Calliope kann so zu einem Mini-
Klavier werden oder zu einer Taschen-
lampe, die im Dunkeln automatisch an-
geht. Und später, wenn die Schüler äl-
ter sind, vielleicht auch zu einem Mess-
gerät, mit dem sie die Temperatur von
Flüssigkeiten messen können. Für die
beiden Lehrer ist der Calliope ein klassi-
sches Bildungsmittel, kein Kompetenz-
training für den Arbeitsmarkt. Er soll
den Kindern einerseits die Scheu vor
Technik nehmen. Er soll sie aber auch
ermächtigen. Ermutigen, den Calliope
für ihren Alltag zu verwenden. Zu über-
legen: Wie könnte mir der Calliope hel-
fen? Und wie müsste ich den dafür pro-
grammieren? Beide Lehrer sagen: „Wir
wollen den Kindern helfen, selbständig
Probleme zu lösen.“
Ein fremder Schüler, der nach der
Stunde von draußen in den Raum
stürmt und die ganze Technik sieht,
fragt Howind: „Bist du Elektriker?“
„Nein, ich bin Lehrer“, entgegnet der.
Der Schüler wiederum: „Häh, ein Leh-
rer, der sich mit Technik auskennt – was
ist das denn?“
Programmieren schon in der Grundschule –
kann das gut sein?Von Wibke Becker
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