Frankfurter Allgemeine Zeitung - 26.10.2019

(Michael S) #1

SEITE 12·SAMSTAG, 26. OKTOBER 2019·NR. 249 Feuilleton FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG


E


igentlich hat man sich spätes-
tens seit den Nylon-Welten ei-
nes Ernesto Neto an übermäßig
langgestreckten Strumpfhosen
sattgesehen. Dass die Schwerkraft des Po-
lyamids lange vor allem von Künstlerin-
nen geschätzt wurde, könnte man ange-
sichts der esoterisch angehauchten Trop-
fen-Strukturen des Brasilianers beinahe
aus den Augen verlieren.
Dabei erlebt das sexuell aufgeladene
Material bis heute mit jeder Welle eines
neu aufflackernden Feminismus ein Re-
vival in der Kunst. Man denke nur an Sa-
rah Lucas, die in den Neunzigern mit
Strumpfhosen-Beton-Skulpturen dem
geltenden Perfektionsdiktat eine grotes-
ke B-Seite entgegensetzte. Oder Alex-
andra Bircken. Für ihre „Skin“-Serie col-
lagierte sie 2016 Myriaden von Nylon-
Fetzen, um sie kopflosen Schaufenster-
puppen anzuziehen. Feinstrumpfware
als Ausdruck einer masochistischen
Lust an Normerfüllung?
Nicht so für die 1943 in Chicago gebo-
rene Senga Nengudi, der das Münchner
Lenbachhaus eine fünfzig Jahre Schaffen
umfassende Einzelschau mit dem Titel
„Topologien“ ausrichtet. Die in Kalifor-
nien lebende Afroamerikanerin, Absol-
ventin der California State University in
den Fächern Kunst und Tanz, bemächtig-
te sich nach ihrer ersten Schwanger-
schaft bereits 1974 der Pin-up-Uniform,
um sie gegen den Strich zu bürsten.
Wenn schon ihr Körper eine Metamor-
phose durchmachte, dann konnte auch
ihre Kunst eine Erweiterung gut vertra-
gen: von Bildhauerei über Textil bis hin
zur Performance. Weswegen man ihren
Nylonhosen im getragenen und gedehn-
ten Zustand begegnet. Mal werfen sie
ihre spindeldürren Fühler von einem
Wandhaken aus in den Raum hinein, mal
formen sie sich, mit Sand gefüllt, zu in
die Tiefe strebenden Brüsten. Oder sind
es doch Hoden?

Titel wie „R.S.V.P.“ kennt man zwar
von Einladungskarten. Aber ist eine Ant-
wort tatsächlich erwünscht? Sollte man
etwa auf eine der elastischen Botschaften
mit einem beherzten Griff nach dem
Kunstobjekt reagieren? Und gilt das auch
für die mit buntgefärbtem Wasser gefüll-
ten Plastikbeutel, ihrer Funktion beraubte
Gummireifen oder zeitgeschichtlich aufge-
ladene Leseräume aus Zeitungsresten?
Schwarzweißfotografien und Video-
aufnahmen dokumentieren jedenfalls
nur Performances, in denen eine Tänze-
rin beim Aktivieren der Spinnennetze
zu sehen ist, hängend in Installationen,
wie eine Beute, die sich an die Spielre-
geln hält, in der Hoffnung, nicht weiter
aufzufallen. Dank ihrer ausgeprägten
Gelenkigkeit verwandelt sie die hoff-
nungslose Situation doch noch in einen
Triumph. Sie tanzt mit den Tentakeln
ein verspieltes Pas de deux – an dessen
Ende der Nylonstoff so schlaff ist, dass
die ursprüngliche Skulptur buchstäblich
ihr Leben aushaucht.
Nengudis Rolle in der schwarzen
Kunstszene ließ sich nicht so schnell in ei-
nen Sieg umkehren. Sie war ihrer Zeit zu
weit voraus. Die Strategie, dem Esta-
blishment, das seine Türen für Nichtwei-
ße fest verschlossen hielt, mit der Ver-
wendung ungewöhnlicher Materialien zu
begegnen, griffen nur wenige auf. Zu tief
saßen die Verletzungen. Im Jahr 1965 er-
lebte sie die Watts-Unruhen in Los Ange-

les mit. Eine Polizeikontrolle in dem
mehrheitlich von Afroamerikanern be-
wohnten Viertel löste einen Gewaltex-
zess aus, in dem sich die Wut über fehlen-
de Jobs, miserable Bildung und die Schi-
kanen rassistischer Polizeibeamter ent-
lud. Die bürgerkriegsähnliche Eruption
politisierte schon vor der Ermordung
Martin Luther Kings nachhaltig ihr Um-
feld. Nicht wenige Amerikaner radikali-
sierten sich im Black Arts Movement. In
das Jahr 1966 fiel dann sowohl das Auf-
tauchen des Begriffs „Black Power“ als
auch die Gründung der Black-Panther-
Partei. Die Emanzipation der afroameri-
kanischen Frau musste erst mal hintan-
stehen. Vielleicht zog es Nengudi des-
halb nach Tokio, wo sie im Rahmen eines
Graduiertenprogramms ein Jahr lang Ja-
panologie studierte.
Die Entdeckung der traditionellen ja-
panischen Theaterformen Nô und Kabu-
ki, die den Tanz als festen Bestandteil in-
tegrieren, weitete ihren Horizont. Die Be-
deutung des Rituals faszinierte sie, die
Künstlergruppe Gutai und auch der mini-
malistische Baustil. „Ich war begeistert,
auf wie viele unterschiedliche Arten Pa-
pier in Japan verwendet wird“, so Nengu-
di in dem Katalog-Interview. „Meine
Werke sind ja recht vergänglich. Es ist
also möglich, dass Papier 200 oder 300
Jahre lang hält? Wie ermutigend!“
Es ist kaum verwunderlich, dass sie
diese starken Einflüsse nach ihrer Rück-
kehr nicht einfach ausblenden konnte.
Statt auf den Polit-Zug aufzuspringen,
suchte sie nach neuen Ausdrucksmitteln.
Selbstbezüglicher Luxus in den Augen all
jener, die dem „System“ den Kampf an-
sagten. Ihre postminimalistischen Plas-
tik-Skulpturen ernteten jedoch selbst in
New York ein vernichtendes Urteil —
nicht einmal ein Rückgriff auf afrikani-
sche Wurzeln sei darin zu erkennen. Es
wurde nicht verstanden, warum sie sich
mehr für Formfragen als die politische

Wetterlage interessierte, auf die man
doch wohl nur mit „schwarzer Kunst“ rea-
gieren könne.
Später in Los Angeles gab sie dem
Druck irgendwann nach, allerdings auf
ihre Weise nach. Sie benutzte gleich meh-
rere Pseudonyme: Für das Schreiben
nahm sie den Namen Lily B. Moor an,
für die Fotografie Propecia Leigh. Nur
für ihre Skulpturen wechselte sie von
dem Geburtsnamen Sue Irons zu dem
afrikanisch klingenden Senga Nengudi.
Eine Identität von vielen, auf die sie aber
nicht reduziert werden wollte.
Was sie nicht daran hinderte, der afro-
amerikanischen Künstlergruppe Studio
Z beizutreten, in der auch ihr Atelierkol-
lege David Hammons Mitglied war. Für
die Performance „Ceremony for Free-
way Fets“ von 1978 scharte sie unter ei-
ner Autobahnbrücke ihre Nylonskulptu-
ren um sich, performte ein Jazz-Konzert
und verpasste den Musikern einen sur-
realen Nylon-Look, der seinen Reiz gera-
de nicht aus einer männlich konnotier-
ten Coolness bezog.
Erst heute können die nachgewachse-
nen Generationen diese waghalsigen
Schritte schätzen. Nicht nur in den Verei-
nigten Staaten, sondern zuletzt auch auf
der Venedig-Biennale von 2017, wo ihre
Strumpfhosen von dem Luftstrom eines
Ventilators in Bewegung versetzt wurden
und den Fetischen einer extraterrestri-
schen Zivilisation ähnelten. Es wurde
Zeit, dass Nengudi endlich ihren wohlver-
dienten Platz einnimmt, mit einer Kunst,
wie sie sagt, „wie ein Schmetterling, der
sich, während man im Garten oder an
der Bushaltestelle sitzt, auf dem Knie nie-
derlässt. Ein flüchtiger Moment, den
man jedoch nicht vergisst. Eine Erinne-
rung, die zurückkommt, sobald man ih-
rer bedarf.“ ALEXANDRA WACH

Senga Nengudi. Topologien.Im Lenbachhaus,
München; bis zum 19. Januar 2020. Der Katalog
im Hirmer Verlag kostet 39,90 Euro.

Triumph der elastischen Frau


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Das Lenbachhaus gibt


derfast vergessenen


amerikanischen Künst-


lerin Senga Nengudi


endlich eine Bühne.


Es kommt nicht oft vor, dass eine Behör-
de der Bundesrepublik Glückwünsche zu
ihrem hundertjährigen Bestehen emp-
fängt. Genau das passierte dem Bundesar-
chiv am Dienstagabend in Berlin, wo ihm
die Kulturstaatsministerin zum hunderts-
ten Geburtstag gratulierte – eine Geste,
die im Auditorium unter dem Glasdach
des Zeughauses nicht nur Heiterkeit aus-
löste. Die Konferenz im Deutschen Histo-
rischen Museum, die mit dem Grußwort
von Monika Grütters eröffnet wurde, trug
allerdings den Titel „100 Jahre Reichsar-
chiv“, womit der Anlass der Veranstal-
tung geklärt, die Frage nach dem Adressa-
ten der Glückwünsche aber mitnichten zu-
friedenstellend beantwortet war.
Denn das im September 1919 per Kabi-
nettsbeschluss gegründete Reichsarchiv
bestand nur bis zum Untergang des „Drit-
ten Reiches“ im Mai 1945. Das 1952 instal-
lierte Koblenzer Bundesarchiv wiederum
teilte sich die Rechtsnachfolge und den Ak-
tenbestand mit dem 1946 ins Leben gerufe-
nen Deutschen Zentralarchiv der DDR,
das es sich nach Mauerfall und Wiederver-
einigung in den neunziger Jahren vollstän-
dig einverleibte. Wenn es also nicht ein
und dasselbe Archiv ist, das in diesem
Herbst sein hundertjähriges Jubiläum fei-
ert, wie lassen sich dann die Brüche und
Kontinuitäten in den Archivgeschichten
beschreiben? Wer nennt die Namen, zählt
die Akten der archivarisch Handelnden?
Das Thema der Tagung war so vom ersten
Ministerinnenwort an gesetzt.
Worum es bei der Gründung des
Reichsarchivs ging, machte der Freibur-
ger Historiker Jörn Leonhard in seinem
Eröffnungsvortrag klar: Auf den Kampf
der Waffen sollte der „Krieg der Doku-
mente“ folgen. Der Große Generalstab,
dessen Akten das Archiv übernahm, hat-
te den ersten Krieg verloren, den zweiten
sollten die Reichsarchivare nun gewin-
nen. Aber trotz zahlreicher Publikationen
wie dem Reihenwerk „Der Weltkrieg
1914 bis 1918“ (das erst 1956 vom Bun-
desarchiv abgeschlossen wurde) und der
sechsunddreißigbändigen populären Se-
rie „Schlachten des Weltkriegs“ ließ sich
das alliierte Geschichtsbild, in dem das
Deutsche Reich die Hauptschuld am
Kriegsausbruch trug, nicht endgültig wi-
derlegen. Auch in der deutschen Historio-
graphie zeichnete sich eine Wende ab,
nachdem der Rechtswissenschaftler Her-
mann Kantorowicz 1923 in einem Gutach-
ten vor dem Parlamentarischen Aus-
schuss zur Kriegsschuldfrage die Führung
des Kaiserreichs schwer belastet hatte.
Das Reichsarchiv blieb von dieser Ent-
wicklung nicht ausgenommen. Seine bei-
den ersten Präsidenten Hermann Ritter
Mertz von Quirnheim und Hans von Haef-
ten wurden, wie es der Potsdamer Militär-
historiker Markus Pöhlmann ausdrückte,
von „Wilhelminern“ zu guten Republika-
nern, der Ton der Veröffentlichungen ver-
sachlichte sich. Erst mit der Ernennung
Ernst Zipfels im Jahr 1936 wurde das Ar-
chiv ideologisch gleichgeschaltet. Zu-
gleich verlor es mit der Abgabe seiner mi-
litärgeschichtlichen Bestände an das neue
Heeresarchiv, mit dem es den Standort


auf dem Potsdamer Brauhausberg teilte,
erheblich an Bedeutung. Im Zweiten Welt-
krieg geriet das Reichsarchiv in die Müh-
len der nationalsozialistischen Vernich-
tungspolitik: Es „sicherte“ Bestände, die
aus osteuropäischen und sowjetischen Ar-
chiven geraubt worden waren.
Und hier wird es historisch interessant.
Denn der erste Direktor des Bundesar-
chivs, Georg Winter, hatte 1943 im „Ein-
satzstab Rosenberg“ am nationalsozialisti-
schen Kulturraub in der Ukraine teilge-
nommen. Nach seiner Ernennung holte
er zahlreiche einstige Parteimitglieder in
die neue Behörde. Erfahrung im „Ostein-
satz“ galt dem Archivdirektor dabei eben-
so viel wie fachliche Kompetenz. In Zwei-
felsfällen entschied sich Winter „immer
für den stärker Belasteten“ (Peter Ulrich
Weiß, Potsdam). 1959 unterstanden sieb-
zehn von 29 Abteilungen des Bundesar-
chivs Männern mit NS-Vergangenheit.
Ganz anders sah es beim Zentralarchiv
der DDR aus. Dessen erster Leiter Otto
Korfes, Schwiegersohn Mertz von Quirn-
heims, war in Stalingrad als Divisions-
kommandeur in russische Gefangen-
schaft geraten und dem Nationalkomitee
Freies Deutschland beigetreten. Mit Un-
terstützung Walter Ulbrichts organisierte
er die geretteten Archivalien nach sowjeti-
schem Vorbild. Als er 1952 durch die
Staatssicherheit aus dem Amt gedrängt
wurde, war der Grundstock des DDR-
Staatsarchivs gelegt. Der Volksaufstand
von 1953, die Wühlarbeiten der Stasi und
eine eigens gegründete Archivarschule in
Potsdam sorgten für die Ersetzung „belas-
teter“ Archivare durch linientreue Kom-
munisten.
Seit den sechziger Jahren entwickeln
sich beide Archive noch weiter auseinan-
der. Während Budget, Mitarbeiterzahl
und Bestände des Bundesarchivs immer
stärker wachsen, wird das Zentralarchiv
zunehmend kujoniert. Dienstvorgänge un-
terliegen der Geheimhaltung, Mitarbeiter
werden bespitzelt, Westkontakte unter-
bunden; Akten mit jüdischer Provenienz
aus Beutebeständen der Roten Armee
bleiben jahrelang unerforscht unter Ver-
schluss. Die Vereinigung mit dem Bundes-
archiv ist auch deshalb „insgesamt eine
Erfolgsgeschichte“ (Simone Walther-von
Jena, Berlin), weil er die Archivare von
politischer Gängelung befreit.
Den liberalen Grundkonsens der Ta-
gung, dass an der Unabhängigkeit der ar-
chivarischen Arbeit nicht gerüttelt wer-
den darf, durchbrach der Direktor des
Russischen Staatlichen Militärarchivs,
Wladimir Tarasow. In der Schlussdiskussi-
on bestand Tarassow darauf, dass Archive
„der allgemeinen Linie folgen“, also den
Staat, dem sie dienen, auch repräsentie-
ren müssten. Andererseits muss man Tara-
sows Bemerkung nur gegen den Strich le-
sen, um den Konsens wiederherzustellen.
Ist ein offenes Archiv etwa keine Reprä-
sentation einer offenen Gesellschaft?
Vielleicht muss sich das Bundesarchiv ein-
fach noch weiter für seine Benutzer öff-
nen, wenn es das Reichsarchiv und seine
Geschichte endgültig hinter sich lassen
will. ANDREAS KILB

Der neunundzwanzigjährige Yuval Wein-
berg wird neuer Chefdirigent des SWR Vo-
kalensembles in Stuttgart. Er übernimmt
sein Amt zum 1. September 2020 zu-
nächst für drei Jahre und ist damit der
jüngste Ensemble-Chef bei allen Klang-
körpern der ARD. Das gab der Südwest-
rundfunk bekannt. Weinberg folgt auf
Marcus Creed, dessen Vertrag planmäßig
endet. Seit Sommer 2019 ist Yuval Wein-
berg, der aus Israel stammt, erster Gastdi-
rigent von „Det Norske Solistkor“ in Nor-


wegen und künstlerischer Leiter des euro-
päischen Ensembles Euro Choir. Regel-
mäßig arbeitet er mit dem Chor des Baye-
rischen Rundfunks zusammen. Von 2015
bis 2017 war er Dirigent des Osloer Kam-
merchors Nova und des Nationalen Ju-
gendchors in Norwegen. Yuval Weinberg
ist Preisträger zahlreicher internationaler
Wettbewerbe und gehörte im vergange-
nen Jahr zu den Finalisten des Deutschen
Chordirigenten-Wettbewerbs in Berlin.
Er studierte in Tel Aviv und an der Hoch-
schule für Musik „Hanns Eisler“ Berlin.
Das SWR Vokalensemble wurde 1946 ge-
gründet. Unter der Leitung von Marcus
Creed steht es seit 2003. F.A.Z.

Am 15. September 1928 gab es im Thea-
ter in der Königgrätzer Straße in Berlin
eine kleine Sensation. Uraufgeführt wur-
de das neue Stück des jungen mährisch-jü-
dischen Autors Hermann Ungar „Der
rote General“. Es handelte von der russi-
schen Revolution 1917/18, der Gründung
der Roten Armee und ihrem Chef Leo
Trotzki. Er ist der „rote General“, heißt
im Stück aber, leicht getarnt, Podkamjens-
ki. 1928 hat Trotzki in der Sowjetunion
den Kampf gegen Stalin endgültig verlo-
ren; 1926 hat man ihn aus dem Politbüro,
1927 aus der KPdSU ausgeschlossen, im
Januar 1928 wurde er nach Almaty ver-
bannt. In Moskau ist Stalin an der Macht.
Ungars Stück handelt also bei seiner Ur-
aufführung von noch lebenden und han-
delnden Personen.
Stalin heißt im Stück Brutzkin, ist noch
Divisionskommandeur in der Roten Ar-
mee, siegreich in kleinen Kämpfen, unter-
geben dem Chef, positioniert sich aber ge-
gen Trotzki. Trotzki ist Jude, Brutzkin ver-
antwortet ein Massaker an Juden, auch
Podkamjenskis Vater Mendel Frisch-
mann hat er ermordet. Ein wiederkehren-

des Thema des Stücks ist die gnadenlose
Feindschaft im gleichen Engagement für
die Revolution. Den jüdischen roten Ge-
neral spielte damals Fritz Kortner. Kort-
ners roter General ist ein Intellektueller,
ein Arbeitspferd für die proletarische Sa-
che, umsichtig, verständnisbereit, von
Vernunft bestimmt. Er hat eine große Sze-
ne gegen Brutzkin. Brutzkin ist bei der
Truppe beliebter als der Intellektuelle.
Der Judenfeind ist am Ende der Sieger.
Mit der Judenfeindschaft erhält das leben-
dige, zweistündige Stück auch die Signa-
tur von 1928.
Denn 1928 ist Josef Goebbels für die im-
mer stärker werdenden Nationalsozialis-
ten schon Gauleiter von Berlin. In seiner
neugegründeten Zeitung „Der Angriff“ be-
ginnt die antijüdische Hetze; er hasst Kort-
ner. Die historische Szene, die Hermann
Ungar entwarf, hat also sehr direkte zeit-
genössische Aspekte. Das Stück ist in die
Situation seiner Uraufführung hinein ge-
schrieben. Die Assoziationen sind ent-
sprechend: Der Fall des roten Generals
Trotzki weckt Erinnerungen an den
Kampf und die Ermordung von Walther

Rathenau, der – ein Opfer des Judenhas-
ses – übrigens auch längst schon ein eige-
nes Stück verdient hätte.
Unser derzeitiges Theater hat das histo-
rische Erinnern aufgegeben. Es lässt da-
mit die erregende Kraft außer Acht, die in
der Vergegenwärtigung liegt. Im gewaltsa-
men Wiederaufleben des Antisemitismus
in unseren Tagen berühren uns Stücke wie
„Der rote General“ wieder auf besondere
Weise. Man muss nur den Mut haben, sie
sehen und begreifen zu wollen, was in ih-
nen steckt. Ossietzky schrieb in der „Welt-
bühne“ zu Erich Engels Inszenierung:
„Seit langem war Kortner nicht mehr so
herrlich wie hier als roter General. Das
war wirklich Israels leidvolles Antlitz.“
Und Goebbels begann seine Kritik im
Ton des schärfsten Angriffs: „Na also!
Wir haben es endlich geschafft in Ber-
lin. Ein Drama über den Juden Trotzki
im Theater des Juden Abrahamowsky,
geschrieben von dem tschechischen Ju-
den Hermann Ungar, gespielt vom Ju-
den Cohn, der sich Fritz Kortner nennt.
Und wenn man im Parkett sitzt, wird
man den Gedanken nicht los, es könnte

jeden Moment eine Christenverfolgung
ausbrechen. O, sie fühlen sich unerhört
sicher, die Semiten in Parvenupolis an
der Spree.“
Im Frühherbst 2019 liest man das und
erschrickt. Denn wir wissen, was daraus
wurde. Ungar starb kurz nach der Urauf-
führung sechsunddreißig-jährig an einer
Blinddarmentzündung. Seinem Sohn
gelang es, nach London zu fliehen, wo
er als Tom Unwin im Geheimdienst und
in der Entwicklungshilfe Karriere
machte. Viele Familienmitglieder star-
ben in Auschwitz. „Der rote General“
war neben Brechts Dreigroschenoper
der Höhepunkt der Theatersaison 1928.
Vor einiger Zeit ist es beim Wallstein
Verlag noch einmal erschienen. Und
wartet seitdem auf seine Wiederauffüh-
rung. DEBORAH VIETOR-ENGLÄNDER
Die Verfasserin ist Literaturwissenschaftlerin. Zu-
letzt erschien von ihr „Alfred Kerr: Die Biographie“
im Rowohlt Verlag.
Die Theaterserie„Spielplan-Änderung“stellt
Bühnenstücke vor, die unbedingt wieder mehr
gespielt werden müssen. Alle bisherigen Beiträge
finden Sie unter faz.net/theaterserie

Wenn mit Akten


Krieg geführt wird


Eine Berliner Tagung zur Gründung des Reichsarchivs


Weinberg in Stuttgart


Chefdes SWR Vokalensembles


Israels leidvolles Antlitz


Spielplan-Änderung (38): Hermann Ungars „Der rote General“ ließ Joseph Goebbels schäumen


Tanz mit Tentakeln: Senga Nengudis
„Performance Piece“ aus dem
Jahr 1977.
Foto Senga Nengudi
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