Frankfurter Allgemeine Zeitung - 26.10.2019

(Michael S) #1

SEITE 2·SAMSTAG, 26. OKTOBER 2019·NR. 249 F P M Politik FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG


G


elobt sei Erdogan, der Mächtige!
Gepriesen sei Putin, der Barmher-
zige! Dass diese beiden jetzt Arm in
Arm für Ruhe und Ordnung sorgen in
Nordsyrien, verpflichtet nicht nur ih-
ren Kollegen Assad zur Huldigung.
Auch wir Deutsche müssen den lupen-
reinen Demokraten auf Knien dafür
danken, dass sie uns ersparen, in einen
Friedenseinsatz zu ziehen, der nur zu
einem zweiten Stalingrad hätte wer-
den können. In Berlin kennt die Er-
leichterung darüber parteiübergrei-
fend keine Grenzen. Denn Russen und
Türken gehen ja nicht nur gemeinsam
auf Patrouille, wie sich das für Verbün-
dete gehört. Nein, sie werden auch da-
für sorgen, dass jene Bevölkerungstei-
le, die dort Störenfriede waren, so ord-
nungsgemäß und human umgesiedelt
werden, wie Moskau das im Potsdamer
Abkommen schon im Falle der Sude-
tendeutschen zugesichert hatte.
Wie hat die CDU-Vorsitzende nur
auf die Idee kommen können, dass wir
uns bei der Errichtung dieser Schutzzo-
ne einmischen sollten? Wir! Und wie
konnte sie das tun, ohne vorher ihren
Kabinettskollegen Maas um Erlaubnis
zu bitten, denn der ist doch der Außen-
minister? Wer weiß, wie weit sein ge-
heimer Friedensplan schon gediehen
war. Den er zweifellos gehabt haben
muss, weil er doch der Außenminister
ist und auch noch Saarländer. Das Saar-
land bringt immer wieder – man erin-
nere sich nur an den Saar-Napoleon La-
fontaine – große Staatsmänner hervor,
wenn auch nicht in jeder Hinsicht.
Es ist wirklich kein Wunder, dass
Maas immer noch so aufgebracht über
seine frühere Chefin ist, als hätte sie
ihm sein Rennrad aus seinem Büro ge-
klaut. Was erlauben Kramp-Karren-
bauer! Nur weil AKK so ähnlich klingt
wie Ankara, versteht die doch noch
nichts von der Türkei! Dorthin fliegt
Maas an diesem Samstag nun höchst-

selbst, um mit den Türken Tacheles zu
reden. Aber bitte nicht zu streng sein,
sonst ziehen die am Ende wirklich aus
Syrien ab! Und wer, die Amis wollen ja
partout nicht mehr, müsste dann ran?
Genau. Obwohl wir doch nicht einmal
unsere eigenen Grenzen richtig si-
chern können. Trump würde freilich
auch noch unser Scheitern zu seinem
Erfolg erklären.
Aber zurück zu AKK und ihrer Chuz-
pe, einfach so den großen deutschen
Konsens aufzukündigen, wonach die
Weltlage so hoffnungslos kompliziert
ist, dass jedenfalls wir Deutsche auf
gar keinen Fall etwas tun können – au-
ßer natürlich schärfstens gegen die täg-
lich wachsende Komplexität zu protes-
tieren und selbst als leuchtendes Vor-
bild für hochmoralische Friedfertigkeit
zu dienen. Wir haben doch nicht Jahr-
zehnte an unserer Vogel-Strauß-Dok-
trin gefeilt, um sie jetzt von einer fide-
len Putzfrau aus der Provinz in die Ton-
ne treten zu lassen! Die SPD hat völlig
recht: Zu einer Militarisierung unserer
Außenpolitik darf es nie wieder kom-
men. Eng geschnittene Anzüge stehen
ihr viel besser als Knobelbecher und
Stahlhelme.
Und was natürlich auch gar nicht
geht, ist dieser unfassbare Umgang mit
dem Koalitionspartner. Informiert die
CDU-Chefin den Chefdiplomaten nur
mit einer SMS! Wo in der politischen
Kommunikation, Trump sei Dank,
doch der Tweet zum internationalen
Mindeststandard geworden ist. So viel
Mühe hätte schon sein müssen, um
Maas den Ernst der Lage klarzuma-
chen.
Der ist, ausweislich der Debatte in
den letzten Tagen, in der großen Koali-
tion noch größer als in Syrien. Völker
der Welt, schaut nicht nur auf Ras al
Ain, sondern auch auf Berlin! Wie blei-
haltig mag momentan die Luft am Ka-
binettstisch sein? Wir schlagen, auch
wenn wir uns das Echo schon vorstel-
len können, die Errichtung einer
Schutzzone im Grenzgebiet zwischen
CDU und SPD vor, die nach Lage der
Dinge nur von Grünhelmen bewacht
werden kann. Habeck und Baerbock
werden das, weil man da schnell zwi-
schen die Fronten gerät, garantiert
nicht ohne UN-Mandat machen wol-
len. Auch das hatte die CDU-Vorsitzen-
de wohl nicht einkalkuliert, als sie die-
sen spektakulären Vorstoß unter-
nahm.
Sie hätte das Ganze eben, wie ihre
Vorgängerin, vom Ende her bedenken
sollen. Hat AKK ihr nicht zugehört?
Oder hat Merkel das der Nachfolgerin
gar nicht erst gesagt? Verfolgt die
Kanzlerin in dieser Angelegenheit viel-
leicht einen raffinierten Plan, der je-
denfalls nicht in Syrien auf einen Re-
gimewechsel abzielt? Ist Maas dabei
ihr nützliches HB-Männchen? Fragen
über Fragen, die zeigen, dass die deut-
sche Politik wirklich genug mit sich
selbst zu tun hat. bko.

BERLIN, 25. Oktober


D

iese Mitteilung kam wie bestellt:
Pünktlich zur ersten Bundestagde-
batte um das Klimapaket der Re-
gierung – die Grünen nennen es abschät-
zig „Päckchen“ – berichtete die Energie-
wirtschaft von einem neuen Rekord. 43
Prozent des deutschen Stromverbrauchs,
das meldete der Bundesverband der Deut-
schen Energie- und Wasserwirtschaft, sei-
en in den ersten drei Quartalen aus erneu-
erbaren Quellen gedeckt worden, so viel
wie nie zuvor. Erstmals habe aus Wind,
Sonne und Biomasse gewonnene Elektri-
zität jene aus Braun- und Steinkohle über-
holt. Doch versahen die Absender die fro-
he Nachricht mit einem bitteren Begleit-
text: Bleibe es bei den niedrigen Ausbau-
raten von Windkraft- und Photovoltaikan-
lagen, dann werde es nichts mit dem
65-Prozent-Ausbau-Ziel der Regierung
bis 2030.
Die gab sich im Bundestag dennoch zu-
versichtlich, ihre Ziele zu erreichen; spe-
ziell jenes zur Senkung des deutschen
Kohlendioxidausstoßes um 55 Prozent bis
zum Jahre 2030. Das von Umweltministe-
rin Svenja Schulze vorgestellte Bundeskli-
maschutzgesetz ist nach ihren Angaben
das „Herzstück“ der neuen Klimapolitik.
Mittel zum Zweck sind detaillierte, jahres-
scharfe Minderungsvorgaben für die Ge-
bäudewirtschaft, den Verkehrssektor, die
Industrie, die Energie- und Landwirt-
schaft. Die Budgets werden per Rechtsver-
ordnung bestimmt. Verantwortlich für
das Einhalten der Vorgaben sind die von
unabhängigen Experten kontrollierten

Fachminister. Falls nicht, dann wird nach-
gearbeitet. „Mit dem Klimaschutzgesetz
bekommen wir einen starken Hebel zum
Nachsteuern“, hatte Schulze dieser Tage
gesagt.
„Planwirtschaft“ heißt es dazu aus der
Wirtschaft, so wie früher aus der Unions-
Fraktion. Dort ist solche Kritik aber ver-
stummt, seit der CSU-Vorsitzende Mar-
kus Söder seine Partei auf Grün-Kurs
trimmt. Der stellvertretende Unions-Frak-
tionsvorsitzende Georg Nüßlein, einst
Schulzes schärfster Kritiker in der Koaliti-
on, fand nun im Parlament nur versöhnli-
che Adjektive: wohlabgewogen, ökolo-
gisch, sozial, ökonomisch.
Ungewohnte Töne kamen auch vom
Bundesfinanzminister Olaf Scholz. Der
SPD-Politiker, der bekanntermaßen nicht
eben zum Überschwang neigt, sprach im
Bundestag sogar von Liebe, einer „Liebe
auf den zweiten Blick“. Die prophezeite
er der ob der vorgelegten Gesetzentwürfe
missmutigen Opposition – was die laut
murrenden Kritiker aus Umweltverbän-

den, Wirtschaft und Wissenschaft ebenso
einschloss wie die aus seiner eigenen Par-
tei. Konkret nannte Scholz höhere Flug-
preise, die höhere Kfz-Steuer für Neuwa-
gen, die ab 2021 erhoben werden soll,
und dann steigende Abgaben auf
CO 2 -Emissionen. „Wir werden zeigen,
dass wir das Klima wirklich schützen kön-
nen“, rief Scholz.
Wobei er und seine SPD, anders als aus
der Fraktion Die Linke insinuiert, bekräf-
tigten, der soziale Ausgleich bleibe wich-
tig. Stichworte dazu sind die als Ausgleich
für die geplante CO 2 -Abgabe voraussicht-
lich um fünf auf 35 Cent je Kilometer stei-
gende Pendlerpauschale, die von 19 auf
sieben Prozent reduzierte Mehrwertsteuer
auf Bahnfahrkarten, die steuerliche Förde-
rung der energetischen Gebäudesanie-
rung. 20 Prozent der Kosten oder 40 000
Euro können über drei Jahre von der Steu-
er abgezogen werden.
Der AfD fehlten indes überhaupt Bele-
ge für den menschengemachten Klima-
wandel, sie steht mit solcher Fundamental-
opposition allein da im Hohen Haus. Der

FDP-Abgeordnete Frank Sitta beklagte,
die Regierung strebe zwar viele Einzel-
maßnahmen an, doch entfalteten die kei-
ne ausreichende Lenkungswirkung. Teu-
res werde mit Nutzlosem verbunden. Gesi-
ne Lötzsch von der Linken ging die Sache
grundsätzlich an, zumindest für die Wirt-
schaft: Statt die Menschen umzuerziehen,
müsse man „unsere Produktionsweise ver-
ändern, wenn wir überleben wollen“. Ent-
täuscht äußerte sich der stellvertretende
Fraktionsvorsitzende der Grünen Oliver
Krischer. Er setze nun auf die SPD-Basis,
damit die „dem Drama“ ein Ende bereite.
Die SPD-Basis hat über den neuen
SPD-Vorsitzenden abgestimmt. Am Sams-
tag werden die Stimmen gezählt. Kaum
hatte Kandidat Scholz im Bundestag das
Klimapaket verteidigt, kam Widerspruch
von der Konkurrenz. Karl Lauterbach,
Mitglied des Fraktionsvorstands und ei-
ner der Bewerber um den Vorsitz, twitter-
te: „Alle wichtigen Beschlüsse sind aufge-
schoben worden. Das Gesetz kann für die
SPD bedeuten, dass wir dann nicht mehr
dabei sind.“

Muss Überzeugungsarbeit leisten:Bundesfinanzminister Olaf Scholz bei der Beratung zu den Klimaschutzgesetzen Foto dpa


FRAKTUR


Schutzzone


LONDON, 25. Oktober. Westminster
blickt einem weiteren Tag der Entschei-
dung entgegen, der vieles oder auch
wenig verändern könnte. Am Montag
will Premierminister Boris Johnson
zum dritten Mal eine Neuwahl im Un-
terhaus beantragen, aber diesmal ist
der Vorstoß mit einem Angebot verse-
hen. Stimmt das Parlament – benötigt
wird eine Zweidrittelmehrheit – dem
Wahltermin am 12. Dezember zu, will
Johnson das Brexit-Gesetz, das in zwei-
ter Lesung angenommen wurde, wie-
der in den parlamentarischen Prozess
einspeisen. Den hatte er „pausieren“
lassen, nachdem das Unterhaus seinen
letzten, straffen Zeitplan abgelehnt
und damit den Austritt am 31. Oktober
unmöglich gemacht hatte. Laut John-
sons neuem Zeitplan hätte das Unter-
haus nun bis zum 6. November Zeit,
um das „EU Withdrawal Agreement
Bill“ zu verabschieden. Danach würde
das Parlament bis zur Eröffnung des
neuen Parlaments aufgelöst werden. Li-
beraldemokraten und Schottische Na-
tionalisten beeilten sich, den Vorstoß
noch am Donnerstagabend abzuleh-
nen. Sie haben kein Interesse, das Bre-
xit-Gesetz zu verabschieden, weil sie
prinzipiell gegen einen Austritt aus der
Europäischen Union sind.
Mehr Mühe hat die Labour Party.
Sie will nicht den Eindruck erwecken,
als verhindere sie grundsätzlich einen
geregelten Austritt. Ihre aktuelle Poli-
tik ist es vielmehr, im Falle eines Wahl-
siegs ein eigenes Austrittsabkommen
mit Brüssel zu verhandeln, einen „La-
bour-Deal“, und dieses in einem Refe-
rendum zur Wahl zu stellen – neben
der Option, in der Europäischen Uni-
on zu verbleiben. Außerdem hatte die
Partei in den vergangenen zwei Jahren
kontinuierlich Neuwahlen gefordert.
Als sie im September darüber abstim-
men durfte, verhinderte sie jedoch die
Neuwahlen mit dem Argument, dass
erst ein No-Deal-Brexit „vom Tisch“
sein müsse.
Nach Lesart der Regierung ist diese
Bedingung inzwischen erfüllt. John-
son hatte am vergangenen Wochenen-
de den Antrag gestellt, die Austritts-
frist um drei Monate bis zum 31. Janu-
ar zu verlängern. Dass die Europäische
Union den Antrag ablehnt, ist nahezu
ausgeschlossen. Debattiert wird unter
den Mitgliedstaaten nur, bis wann und
gegebenenfalls unter welchen Bedin-
gungen der Aufschub gewährt werden
soll. Schatzkanzler Sajid Javid gab am
Freitag als erstes Regierungsmitglied
zu, dass der Austritt am 31. Oktober
„nicht gehalten“ werden könne. John-
son sagte daraufhin, dass dies noch im-
mer in den Händen der EU liege.
Der Labour-Vorsitzende Corbyn
spielt auf Zeit. Am Freitag sagte er:
„Nehmt No-Deal vom Tisch, und wir
haben eine Neuwahl.“ Aber eine Defi-
nition, ab wann ein ungeregelter Aus-
tritt aus seiner Sicht „vom Tisch“ ist,
liefert er nicht mit. Dem Recht nach ist
ein ungeregelter Brexit nur dann ausge-
schlossen, wenn ein Deal vereinbart ist
oder der Austrittsantrag zurückgezo-
gen wurde. Verlängerungen der Aus-
trittsfrist verschieben das Risiko nur
nach hinten. Auf Dauer kann sich die
Labour Party aber Neuwahlen nicht in
den Weg stellen, will sie nicht Schaden
als Oppositionspartei nehmen.
Einige in der Parteiführung bedrän-
gen Corbyn daher, die Chance jetzt
wahrzunehmen und den Neuwahlen
zuzustimmen. Ihnen wäre es am liebs-
ten, würde zuvor auch noch der Brexit
abgewickelt, so dass sich die Kampa-
gne auf jene Themen konzentrieren lie-
ße, mit denen die Parteilinke glaubt
punkten zu können: auf die Armut im
Land und die staatlichen Investitions-
und Umverteilungsinitiativen der Par-
tei. Nicht die Europäische Union soll
im Mittelpunkt stehen, sondern die so-
ziale Gerechtigkeit.
Aber in der Labour-Fraktion halten
dies viele für einen Fehler. In Umfra-
gen liegt die Partei 13 Prozentpunkte
hinter den Konservativen – ein Ab-
stand, der sich sogar noch vergrößern
könnte, gelänge Johnson vor dem
Wahltag der Brexit-Durchbruch. Vor al-
lem die wirtschaftspolitisch modera-
ten Kräfte in der Fraktion glauben,
dass die Partei mit Corbyn an der Spit-
ze untergehe, und bezweifeln, dass das
Wunder von 2017 noch einmal wieder-
holt werden kann. Bei jenen Wahlen
war Corbyn als Außenseiter gestartet
und hatte dann ein überraschend star-
kes Ergebnis gegen Theresa May einge-
fahren.
Die Schatteninnenministerin Diane
Abbott dokumentierte am Freitag, wie
schwer sich die Partei mit ihren Grün-
den für eine Ablehnung des Wahl-
antrags tut. Einerseits forderte die La-
bour-Abgeordnete eine „explizite Versi-
cherung“ des Premierministers, dass
ein No-Deal-Brexit vom Tisch sei, ande-
rerseits sagte sie, dass man Johnsons
Worten nicht trauen könne. Gleichzei-
tig kritisierte sie, dass die Wahl in der
Adventszeit stattfinden soll.

lock.ERFURT, 25. Oktober. Vor der
Landtagswahl in Thüringen am Sonntag
zeichnet sich ein Kopf-an-Kopf-Rennen
zwischen der regierenden Linkspartei
und der oppositionellen CDU ab. Laut
ZDF-Politbarometer, für das zwischen
dem 23. und 24. Oktober 1177 zufällig
ausgewählte Wahlberechtigte in Thürin-
gen befragt wurden, käme die Linke auf
28 Prozent und die CDU auf 26 Prozent.
Damit hat die CDU im Vergleich zu ver-
gangenen Umfragen bis zu fünf Prozent-
punkte aufgeholt, läge aber immer noch
deutlich unter ihrem Ergebnis von 2014,
als sie mit 33,5 Prozent stärkste Kraft wur-
de. Andere Umfragen sahen die Linke et-
was stärker und die CDU schwächer.
Die Linke könnte der Umfrage zufolge
ihr Ergebnis von vor fünf Jahren halten
und wäre damit – anders als in Branden-
burg und Sachsen, wo sie bei den Land-
tagswahlen im September große Verluste
einfuhr und nicht mehr mitregieren wird
(Brandenburg) beziehungsweise ihre Op-
positionsführerschaft verlor (Sachsen) –
womöglich stärkste Kraft. Das liegt vor al-
lem an ihrem Spitzenkandidaten, Minis-
terpräsident Bodo Ramelow, auf den die
Linke ihren Wahlkampf zugeschnitten
und auf Plakaten mit ihm sogar auf das
Parteilogo verzichtet hat. Die AfD wieder-
um sehen die Meinungsforscher in Thü-
ringen auf Platz drei mit 21 Prozent, was
einer Verdoppelung ihres Ergebnisses
von 2014 entspräche, aber deutlich weni-

ger als die bisher prognostizierten 25 Pro-
zent sind. Ob die Partei damit unter-
schätzt wird oder ob hier gar der An-
schlag von Halle eine Rolle spielt, ist Spe-
kulation. Alle anderen Parteien liegen un-
ter zehn Prozent; die SPD käme demnach

auf neun, die Grünen auf sieben und die
FDP auf fünf Prozent. Die Liberalen, die
in der Woche vor der Wahl großflächig
„Das Zünglein an der Waage“ plakatier-
ten, müssen nach wie vor um den Einzug
in den Landtag in Erfurt bangen. Sollten

sie es – anders als in Brandenburg und
Sachsen – jedoch schaffen, hätte die der-
zeit regierende rot-rot-grüne Koalition un-
ter Ministerpräsident Bodo Ramelow
(Linke) wohl keine Mehrheit mehr.
Linke, SPD und Grüne regieren seit
2014 mit einer Stimme Mehrheit im Land-
tag; alle drei Partner haben erklärt, die Ko-
alition fortsetzen zu wollen. Doch die
prognostizierten Verluste der SPD, die
auch durch den erwarteten Zuwachs bei
den Grünen wohl nicht ausgeglichen wer-
den können, lassen den Plan zu einer knap-
pen Angelegenheit werden. Der Umfrage
zufolge hätte das Bündnis keine Mehrheit
mehr. Auf der anderen Seite hat auch die
CDU keine eindeutige Machtoption. Uni-
ons-Chef und Spitzenkandidat Mike Moh-
ring würde gern ein bisher noch nie dage-
wesenes Viererbündnis mit SPD, Grünen
und FDP bilden. Mit dieser „Koalition der
Mitte“ wolle er das Land einen und die
Kraft weg von den Rändern lenken, sagte
Mohring. Doch auch diese Koalition hätte
der Umfrage zufolge derzeit keine Mehr-
heit. Die CDU hat sowohl eine Zusammen-
arbeit mit der AfD als auch der Linken aus-
geschlossen. Da die Thüringer Verfassung
keine Frist kennt, bis zu der ein neuer Re-
gierungschef gewählt werden muss, könn-
te Ramelow in diesem Fall zunächst im
Amt bleiben. Der frühere Bundespräsi-
dent Joachim Gauck hatte kürzlich der
CDU geraten, zumindest das Gespräch
mit den Linken zu suchen, was Mohring
bisher jedoch ablehnt.

BRÜSSEL,25. Oktober. Es gibt zwei Ar-
ten, den Beschluss der EU-Botschafter
zum Brexit-Aufschub vom Freitag zu in-
terpretieren. Die positive Lesart ist, dass
sich die Vertreter der 27 EU-Staaten für
die von den Briten beantragte Verschie-
bung des Austrittstermins ausgesprochen
haben. Das hatte sich früh abgezeichnet.
Der finnische Ministerpräsident Antti
Rinne, dessen Land derzeit die EU-Rats-
präsidentschaft innehat, hatte schon am
Donnerstag mitgeteilt, die große Mehr-
heit stehe hinter diesem Vorschlag. Die
entscheidende Frage aber ist eine andere:
Wie lange wird der Austritt der Briten aus
der EU verschoben? Darüber konnten
sich die Botschafter, anders als erhofft,
nicht einigen, was die negative Lesart
wäre. Die Gespräche über die Dauer wür-
den kommende Woche „auch im Lichte
der Entwicklungen in London fortge-
setzt“, hieß es anschließend. Frankreich
sperrt sich weiter gegen die Verschiebung
auf den 31. Januar 2020. Die Entschei-
dung muss einstimmig fallen.
Die französische Europa-Staatssekretä-
rin Amélie de Montchalin hatte die Mess-
latte vor dem Treffen am Freitagmorgen
hoch gelegt. Eine langfristige Verschie-
bung des Brexits ohne Klarheit darüber,

was in der Zwischenzeit geschehen solle,
führe zu gar nichts, stellte sie in einem In-
terview klar. „Wir wollen wissen, warum
wir dem zustimmen sollen. Damit die Bri-
ten den Deal doch noch ratifizieren? Um
Neuwahlen abzuhalten? – und ich rede
nicht von angekündigten oder gewünsch-
ten Neuwahlen, sondern von beschlosse-
nen Neuwahlen.“ Damit war eine Ent-
scheidung der 27 EU-Partner am Freitag
faktisch von vorneherein ausgeschlossen.
Die Ratifizierung des Brexit-Abkommens
ist weiter vorerst ausgesetzt, und über die
vom britischen Premierminister Boris
Johnson vorgeschlagenen Neuwahlen am


  1. Dezember soll das Unterhaus erst am
    kommenden Montag abstimmen.
    Damit dürfte auch die von den Bot-
    schaftern nun angestrebte Einigung über
    die Länge des Aufschubs am Montag-
    abend schwierig werden, wie EU-Diplo-
    maten zugestehen. Die Entscheidung im
    Unterhaus könnte sich hinziehen. Vor al-
    lem aber hat die britische Opposition für
    die benötigte Zustimmung zu den Neu-
    wahlen eigentlich die Bedingung gestellt,
    dass die EU vorher die Verlängerung der
    Austrittsfrist beschließt. „Eigentlich spie-
    len wir uns im Augenblick ununterbro-
    chen gegenseitig den Ball wieder ins
    Feld“, kommentierte ein EU-Diplomat


die Lage am Freitag. Bis der 31. Oktober
dann irgendwann direkt bevorstehe und
eine Entscheidung fallen müsse. Bleiben
die Franzosen hart, dann kann die EU
ohne Bewegung in London nur eine kur-
ze und technische Verlängerung beschlie-
ßen. Das neue Brexit-Datum könnte im
Extremfall der 15. November sein. Die
Briten wären gezwungen, das Brexit-Ab-
kommen doch noch im Schnellverfahren
zu verabschieden, wenn sie einen unge-
ordneten Brexit vermeiden wollen. Ge-
nau das ist das Kalkül der Franzosen.
„Wir müssen den Druck aufrechterhalten,
sonst laufen wir wieder nur von einer Ver-
längerung in die nächste und verlängern
letztlich nur die Ungewissheit“, heißt es
dort. Mit dieser Sorge stehen die Franzo-
sen nicht allein. „Unsere Industrie zumin-
dest sagt uns inzwischen nur noch: Ganz
egal, ob ein ungeordneter Brexit oder ein
Brexit mit Abkommen, Hauptsache, wir
haben endlich Klarheit“, sagt ein anderer
EU-Diplomat.
Dennoch könnten sich die anderen 26
Mitgliedstaaten allesamt eine Verschie-
bung des Austritts auf den 31. Januar des
kommenden Jahres vorstellen, hieß es
aus Diplomatenkreisen. Das sei auch mit
Blick auf die britische Innenpolitik das
Unverfänglichste. Dabei soll es nicht um

einen fixen Aufschub gehen, sondern um
einen flexiblen. Das Wort der Stunde ist
„Flextension“. Der Vorschlag stammt von
EU-Ratspräsident Donald Tusk. Die Bri-
ten könnten damit schon vor Ende Januar
austreten, wenn sie das Brexit-Abkom-
men vorher ratifizieren. Die EU könne
etwa festschreiben, dass das Vereinigte
Königreich während der Austrittsfrist je-
weils zum 1. und 15. eines Monats nach
endgültiger Ratifizierung des Abkom-
mens austreten könne, heißt es in Brüs-
sel.
Einig seien sich die Botschafter am
Freitag auch darin gewesen, dass die end-
gültige Entscheidung – nach dem Treffen
der Botschafter am Montagabend oder,
wenn es nicht anders gehe, am Dienstag –
im „schriftlichen Verfahren“ fallen solle,
hieß es aus der Europäischen Kommissi-
on. Das dafür nötige Prozedere zwischen
den Hauptstädten werde nicht mehr als ei-
nen Tag in Anspruch nehmen. Einen aber-
maligen Brexit-Sondergipfel der Staats-
und Regierungschefs wollen alle Seiten
vermeiden. Die Botschafter hätten das
ausgeschlossen, sagten Diplomaten. Tusk
wolle das nicht. Ganz ausschließen wollte
ein Diplomat einen Gipfel am kommen-
den Dienstag dennoch nicht: „Was kann
man beim Brexit schon ausschließen?“

Neuwahlen


im Angebot


Johnson bringt Labour


Party in Bedrängnis


Von Jochen Buchsteiner


Linke und CDU in Thüringen fast gleichauf


Umfrage sieht beide Parteien nur zwei Prozentpunkte auseinander / Rot-Rot-Grün hätte demnach keine Mehrheit


Liebe auf den zweiten Blick?


Genug mit sich selbst zu tun:Auch
als Grüner kann man zwischen die
Fronten geraten. Zeichnung Wilhelm Busch

Das Ende der französischen Geduld


Die EU-Partner sind uneins über einen neuen Austrittstermin für Großbritannien / Von Hendrik Kafsack


Die Koalition verteidigt


die Klimaschutzgesetze


gegen Kritik aus den


eigenen Reihen und der


Opposition. Olaf Scholz


versucht sogar, mit


gefühlvollen Tönen für


sie zu werben.


Von Andreas Mihm


28,2 Linke

Ergebnis 2014

28,2 Linke

Landtagswahlen in Thüringen

Quellen: Landeswahlleiter; Destatis / Fotos: Eilmes; dpa (3); ddp / F.A.Z.-Grafik swa.

Ministerpräsidenten, Koalitionen und Stimmanteile in Prozent1)

1990 1994 1999 2004 2009 2014 2019

CDU Linke

Josef Duchač
CDU
1990 – 92

Bernhard Vogel
CDU
1992 –

SPD SPD SPD
Grüne

FDP
CDU

PDS/Linke

FDP

SPD

Grüne

1) Stimmenanteile ausgewählter Parteien seit 1990.
Wahlbeteiligung
52,7 %

45,
42,6^51 ,0 43,

31 ,

22,

29,

1 8,5^1 4,

1 8,

9,

1 6,

21 ,

26,
27 ,

9,
3,2 3,

7 ,

1 ,

6,5 4,5 1 ,9 4,
6,

45,
42,6 51,0 43,

31,

22,

29,

18,5 14,

18,

9,

16,

21,

26,
27,

9,
3,2 3,

7,

1,

4,
6,5 1,

4,
6,

Dieter Althaus
CDU
2003 – 2009

Christine
Lieberknecht
CDU
2009 –

Bodo
Ramelow
Linke
seit 2014

12,

2,

5,

10,

SPD

FDP

Grüne

AfD

33,5 CDU

Ergebnis 2014
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